"Brot für die Welt": 11. September war Zäsur für Entwicklungspolitik

Frankfurt a.M. (epd). Die Terroranschläge vom 11. September markieren nach Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Klaus Seitz auch eine Zäsur in der Entwicklungspolitik. "Seit 2001 gibt es das verstärkte Bemühen, Entwicklungspolitik als vorsorgende Sicherheitspolitik zu begreifen", sagte der für Grundsatzfragen zuständige Abteilungsleiter beim evangelischen Hilfswerk "Brot für die Welt" in einem epd-Gespräch. Folgen seien eine höhere Entwicklungshilfe, aber auch eine Einbindung in den Kampf gegen den Terrorismus.

Seitz zufolge wuchs nach dem 11. September 2001 die Bereitschaft der Industrienationen, die Entwicklungshilfe wieder zu erhöhen, die in den 90er Jahren auf ein historisches Tief gefallen war. "Man wollte dazu beitragen, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen", betonte der 1959 geborene Entwicklungsexperte. Die USA hätten bereits 2002 ihre Hilfe deutlich erhöht, sie aber auch stark eingebunden in den Anti-Terror-Kampf: "Das Pentagon verwaltet einen erheblichen Teil der US-Entwicklungshilfe."

Seitz verwies darauf, dass die auf heute insgesamt 130 Milliarden US-Dollar gestiegene Hilfe im Durchschnitt 0,32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Industrienationen ausmacht. Damit sei die Quote nicht höher als zu Beginn der 90er Jahre und noch weit entfernt vom angestrebten 0,7-Prozent-Ziel. "Für Rüstung wird weltweit mehr als das Zehnfache ausgegeben", sagte Seitz.

Krieg und Gewalt seien für Millionen Menschen heute Realität. Auch die Angriffe auf humanitäre Helfer hätten stark zugenommen: 1999 seien 30 Helfer getötet worden, 2009 seien es 102 gewesen. Die zunehmende Gefährdung liege auch daran, dass sich die Grenzen zwischen militärischen und humanitären Einsätzen verwischten, etwa in Afghanistan. Helfer und Menschenrechtler müssten zudem in vielen Ländern erleben, dass unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung ihr Handlungsspielraum eingeschränkt werde. "Auch die staatliche Unterdrückung nimmt vielerorts zu", sagte Seitz.

06. September 2011


Das Interview im Wortlaut:

"Die staatliche Unterdrückung nimmt zu"

Der "Brot für die Welt"-Experte Klaus Seitz sieht den 11. September als Zäsur in der Entwicklungspolitik

epd-Gespräch: Elvira Treffinger

Frankfurt a.M. (epd). Auch in der Entwicklungspolitik hat der 11. September Spuren hinterlassen. Klaus Seitz, Abteilungsleiter beim evangelischen Hilfswerk "Brot für die Welt", spricht von einer Zäsur. Die Anschläge hätten die Tendenz verstärkt, Entwicklungspolitik als Friedens- und Sicherheitspolitik zu verstehen, sagte der habilitierte Sozialwissenschaftler, Jahrgang 1959, in einem epd-Gespräch. Rückschritte beklagt er jedoch bei Menschenrechten und Demokratie.

epd: Haben die Terroranschläge vom 11. September 2001 die Entwicklungspolitik auf den Kopf gestellt?

Seitz: "Nine Eleven" markiert eine Zäsur in der Welt- und Entwicklungspolitik, aber keinen Wendepunkt. Die Anschläge haben Tendenzen verstärkt, die bereits angelegt waren. Der islamistische Terrorismus, der sich auch gegen den Westen richtet, ist älter. Al Kaida wurde Ende der 80er Jahre gegründet, schwere Anschläge auf US-Einrichtungen wurden schon in den 90er Jahren verübt.

epd: Wie wirkten sich diese Tendenzen auf die Nord-Süd-Kooperation aus?

Seitz: Seit 2001 gibt es das verstärkte Bemühen, Entwicklungspolitik als vorsorgende Sicherheitspolitik zu begreifen. Auch das hat eine Vorgeschichte: Bereits 1980 hatte die Nord-Süd-Kommission unter Altkanzler Willy Brandt die Entwicklungspolitik als Baustein der Friedenspolitik benannt. Und nach dem Ende des Kalten Krieges 1990 hat man sich verstärkt der Gewalt- und Krisenprävention zugewandt.

epd: Hat sich die Entwicklungsagenda also durch die Anschläge auf das World Trade Center nicht verändert?

Seitz: Was sich beobachten lässt, ist eine "Versicherheitlichung", das heißt, dass auch globale Risiken wie Klimawandel, Aids und Armut als Bedrohung der Sicherheit aufgefasst werden. Man muss aber fragen: Um wessen Sicherheit geht es? Es kann nicht nur darum gehen, Bedrohungen von uns Wohlhabenden abzuwenden. Zentrales entwicklungspolitisches Anliegen muss es bleiben, dem Anspruch der Armen auf ein Leben in Würde und frei von Not und Furcht Geltung zu verschaffen.

epd: Dominiert die Sicherheitspolitik des Westens die Entwicklungspolitik?

Seitz: Auch nach dem 11. September 2001 gilt, was der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan zwei Monate später sagte: Die großen globalen Probleme wie Armut und Klimawandel haben nichts von ihrer zentralen Bedeutung eingebüßt. Es wuchs in der Tat die Bereitschaft der Industrienationen, wieder mehr Entwicklungshilfe bereitzustellen, die in den 90er Jahren auf ein historisches Tief gefallen war. Man wollte dazu beitragen, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen.

epd: Und das Aufstocken der Hilfe erfolgte ohne Eigeninteresse der Industrienationen?

Seitz: Die USA erhöhten bereits 2002 ihre Hilfe deutlich, als Terrorismusprävention, aber auch stark eingebunden in den Kampf gegen den Terror. Das Pentagon verwaltet einen erheblichen Teil der US-Entwicklungshilfe. Insgesamt stiegen die Entwicklungsleistungen der Industriestaaten seit 2001, auf jetzt 130 Milliarden US-Dollar, im Durchschnitt 0,32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Diese Quote ist allerdings nicht höher als zu Beginn der 90er Jahre, das 0,7-Ziel ist weiter fern. Für Rüstung wird weltweit mehr als das Zehnfache ausgegeben.

epd: Wie steht es um die Gefährdung der Menschen und Helfer in Entwicklungsländern?

Seitz: Mehr als 1,5 Milliarden Menschen leben in Ländern, die arm und zugleich von schweren Gewaltkonflikten betroffen sind. Die Angriffe auf humanitäre Helfer haben sich im vergangenen Jahrzehnt mehr als verdreifacht: 1999 wurden 30 Helfer getötet, 2009 waren es 102.

epd: Warum geraten Helfer ins Visier der Terroristen?

Seitz: Die größere Gefährdung liegt auch daran, dass sich die Grenzen zwischen militärischen und humanitären Einsätzen verwischen, etwa in Afghanistan. Damit wird die Neutralität der humanitären Hilfe gefährdet. Für Aufständische sind die Helfer nicht mehr unterscheidbar, sondern gelten ebenfalls als Vertreter der feindlichen Konfliktpartei. Die Forderung nach einem militärischen Schutz, etwa bei der Hungerhilfe im Bürgerkriegsland Somalia, ist deshalb für uns völlig abwegig.

epd: Worauf müssen sich Organisationen wie "Brot für die Welt" einstellen?

Seitz: Es drohen nicht nur Terroranschläge, auch die staatliche Unterdrückung nimmt vielerorts zu. Unsere Partner und viele andere Organisationen der Zivilgesellschaft in Entwicklungsländern müssen erleben, dass ihr Handlungsspielraum kleiner wird. Das gilt für Menschenrechtsorganisationen wie für Bauern- oder Frauengruppen.

epd: Wo gibt es solche Rückfälle? In einer ganzen Reihe von Staaten hoffte man doch auf dauerhafte demokratische Fortschritte.

Seitz: Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung werden in vielen Ländern die Menschenrechte beschnitten. Die Regierungen schränken rechtsstaatliche Prinzipien ein und kriminalisieren demokratische Kräfte. Äthiopien ist dafür ein Beispiel, aber auch Indonesien, Malaysia, Usbekistan, die Türkei. Auch in Kolumbien oder Guatemala gibt es solche Tendenzen.

06. September 2011