Das letzte Wort hat Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht feiert am 28. September 60. Geburtstag

Von Christine Süß-Demuth (epd)

Karlsruhe (epd). Wenn es um die Grundrechte der Menschen in Deutschland geht, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe das letzte Wort. Seit 1951 wacht es über die Einhaltung der im Grundgesetz formulierten Rechte. Es wurde als Reaktion auf die Erfahrungen im Dritten Reich ins Leben gerufen, damit die politische Macht in Deutschland nicht mehr missbraucht werden kann.

Die heute 16 Verfassungsrichter sollen aber nicht nur den Machtmissbrauch verhindern, sondern auch die Rechte von Minderheiten schützen. Zur Beachtung des Grundgesetzes sind alle staatlichen Stellen verpflichtet. Kommt es dabei zum Streit, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden. Seine Entscheidungen sind unanfechtbar. An seine Rechtsprechung sind alle übrigen Staatsorgane gebunden.

Die Karlsruher Entscheidungen gelten als Garant für eine funktionierende Gewaltenteilung. Ob es Urteile zum Asylrecht, Kruzifix oder Kopftuch im Klassenzimmer, Demonstrationsrecht, Pressefreiheit, Datenschutz, Abtreibung oder Terrorismusbekämpfung sind - immer haben die Urteile Auswirkungen nicht nur auf die jeweiligen Beschwerdeführer, sondern auch auf jeden Einzelnen in der Gesellschaft.

186.000 Entscheidungen wurden in den vergangenen 60 Jahren vom höchsten deutschen Gericht in der "Residenz des Rechts" entschieden. Dass nur 2,4 Prozent aller Verfassungsbeschwerden Erfolg hatten, hat dem Ansehen des Gerichts aber nicht geschadet.

Grundsätzlich kann jeder, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt, eine Verfassungsbeschwerde erheben. Sie kann sich gegen die Maßnahme einer Behörde, gegen das Urteil eines Gerichts oder gegen ein Gesetz richten. Der Jurist und Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", Heribert Prantl, fasst es so zusammen: "Was Altötting für den deutschen Katholizismus ist, das ist Karlsruhe für den deutschen Rechtsstaat - ein Gnadenort."

Neben individuellen Beschwerden können auch staatliche Organe Verfassungsbeschwerde einlegen. Daneben sind Normenkontrollklagen möglich, bei denen die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen überprüft wird. Die politischen Auswirkungen des Gerichts werden dann besonders deutlich, wenn das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Mehr als 450 Mal war das der Fall, als Gesetze ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklärt wurden.

Daher bezeichnet der Heidelberger Politologe Manfred Schmidt das BVG als einen Politikmacher von größter Bedeutung. Es sei ein Akteur, der Entscheidungen über die Verteilung begehrter Güter mit Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit trifft.

Doch nicht nur Politiker sind mal mehr, mal weniger zufrieden mit den Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichts. Viele Entscheidungen wurden auch in der Gesellschaft heftig diskutiert. Etwa das im Mai 1995 ergangene Urteil zu Kruzifixen in bayerischen Klassenzimmern. Rund 256.000 Protestschreiben aufgebrachter Bürger erreichten das Gericht "Am Schlossplatz 1" in Karlsruhe, nachdem es entschieden hatte, dass Kruzifixe nicht zwingend angebracht werden müssen. In den mehr als 40 Jahren zuvor hatte es insgesamt nur 126.000 Reaktionen gegeben.

Künftig werden aber auch immer mehr Entscheidungen europäischer Gerichte eine Rolle spielen. Ein Beispiel dafür ist das Urteil zum europäischen Rettungsschirm. Dabei müsse das deutsche Parlament weiter an den Rettungsaktionen beteiligt werden, so Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Zur Diskussion über eine Art "Vereinigte Staaten von Europa" sagte er dem Südwestrundfunk, dies wäre nur möglich, wenn "wir uns eine neue Verfassung geben".

Buchhinweise: Rolf Lamprecht: Ich gehe bis nach Karlsruhe. DVA 2011, 352 Seiten, 19.99 Euro. Stolleis, Michael: Herzkammern der Republik. C.H. Beck 2011, 298 Seiten, 29.95 Euro

22. September 2011