Theologe nennt Luthers Thesen "demokratischen Urknall"

Speyer (epd). Der elsässische Autor und Theologe Martin Graff sieht in Martin Luther den Wegbereiter des demokratische Europas. Mit seiner Forderung, jeder Mensch dürfe und müsse das Wort Gottes lesen, habe der Reformator das Interpretationsmonopol der katholischen Kirche gebrochen, sagte Graff am Donnerstagabend in Speyer. Diese Forderung habe die Kraft eines Stimmzettels gehabt, auch wenn der Stimmzettel erst später aufgetaucht sei.

Wenn jeder die Bibel lesen und interpretieren dürfe, würden Kräfte freigesetzt, die sonst unter dem Deckmantel der Autorität, damals der römischen Autorität, erstickten, sagte Graff. Der Theologe referierte in der Veranstaltungsreihe "500 Jahre Reformation" der pfälzischen evangelischen Sonntagszeitung "Kirchenbote" und der Tageszeitung "Rheinpfalz".

Beim demokratischen Urknall denke jeder zunächst an die Französische Revolution oder an den Schweizer Rütlischwur. Aber die Reformation vor fast 500 Jahren sei die Revolution vor der Revolution gewesen. Sie sei der Durchbruch gewesen, der die demokratischen Bewegungen erst ermöglicht habe, ohne dass das Wort Demokratie eine Rolle gespielt habe.

Nach Ansicht Graffs haben die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich ihren Ursprung in der Reformation. Johannes Calvin habe es nicht geschafft, die Reformation in Frankreich durchzusetzen, obwohl ein Drittel der Franzosen vorübergehend als protestantisch gegolten habe. Heute gebe es in Frankreich mehr Muslime als Protestanten. Der französische Staat sei damals gefestigter gewesen als die deutsche Kleinstaaterei, ein Zentralstaat könne seine Macht besser verteidigen.

Der 1944 im elsässischen Munster geborene Graff war Pfarrer in Straßburg, bevor ihn seine lutherische Kirche in die Kirchenredaktion des Saarländischen Rundfunks nach Saarbrücken schickte. Seitdem veröffentlichte er mehr als 20 Bücher und drehte zahlreiche Filme für den SR, den SWR, das ZDF und das französische Fernsehen.

28. Oktober 2011