Die evangelische Theologin Gerta Scharffenorth wird 100

Erste Frau in einem Männergremium

Von Ralf Schick (epd)

Sie wollte keine Karriere machen, doch die Erfahrungen der NS-Zeit trieben Gerta Scharffenorth zu einem schier unerschöpflichen Bildungs- und Lebenseifer an. Am Sonntag wird die erste Frau im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 100 Jahre alt.

Heidelberg (epd). Mit 44 Jahren begann Gerta Scharffenorth Theologie und Politologie zu studieren. Mit 50 promovierte die geschiedene Mutter dreier Kinder an der Universität in Heidelberg, bereits im Ruhestand übernahm sie mit 75 Jahren ein Projekt "Naturwissenschaftliche Medizin und christliches Krankenhaus" an der dortigen Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft. Ihre geistige Kraft ist noch stets unerschöpflich, wenn die hochbetagte Protestantin wenige Tage vor ihrem 100. Geburtstag ihr langes Leben reflektiert.

Scharffenorth wurde 1912 in Stuttgart als Gerta von Mutius geboren. Ihre Familie stammte aus Schlesien und zog wieder in den Osten. Zwischen 1924 und 1928 besuchte sie das Lyzeum mit Internat im Klosterstift zu Heiligengrabe in Brandenburg. Ihr Wunsch nach dem Abitur 1931 Medizin zu studieren, stieß auf den Widerstand ihrer Eltern. Stattdessen unterstützte sie ihren Vater bei der Bearbeitung historischer Nachlässe. "Das half mir aber sehr für meinen späteren Studienweg, denn ich konnte bei ihm wichtige Erfahrungen sammeln", sagt sie.

1936 heiratete sie den Offizier Fritz Scharffenorth und lebte mit den drei Kindern zunächst in Kiel, Wesermünde und Danzig. Ab Herbst 1942 - ihr Mann war an der Front - lebte sie auf dem Familiengut im schlesischen Gellenau bis zum Kriegsende und in der Nachkriegszeit unter russischer und polnischer Besatzung.

Geprägt von den Ereignissen der Nazi-Zeit traf sie schon früh Entscheidungen, die für eine Frau dieser Zeit ungewöhnlich waren: Während des Zweiten Weltkrieges trennte sie sich von ihrem Mann, "mit dem ich eigentlich eine gute Ehe führte, die dann aber durch den Nationalsozialismus entfremdet wurde", erzählt die Theologin. Ihr Mann sei "ein Offizier alter Schule bei der Marine" gewesen und habe dem NS-Regime "quasi als Mitläufer" gedient.

"Das konnte ich nicht mitverantworten", sagt Scharffenorth, deren Familie sich zur Bekennenden Kirche zählte. Zudem störte sie die Lebensansicht ihres Mannes, "Politik sei nichts für Frauen: Ich war aber immer politisch sehr interessiert und hatte in den Kriegsjahren die Probleme und Nöte der Frauen gesehen", sagt die Protestantin.

Ende 1946 wurde Gerta Scharffenorth aus Schlesien vertrieben, nach dreijähriger Flüchtlingsexistenz in Resten eines Bunkers in Norddeutschland zog sie mit ihren drei Kindern nach Heidelberg. Hier arbeitete sie in einer theologischen Bibliothek. Mit dem geringen Einkommen und einer Waisenrente sei es ihr gelungen "gerade so, meine Familie zu ernähren". Von 1956 bis 1962 studierte sie dann, gefördert durch das Evangelische Studienwerk Villigst und durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes, Politologie und Theologie. "Ich wollte immer Verantwortung übernehmen, indem man Kapazität und Kompetenz in einem Bereich erwirbt, der nicht von der Geschlechterfrage geprägt ist", begründet Scharffenorth die Wahl ihrer Studienfächer.

Von 1962 bis 1966 leitete sie den Evangelischen Gemeindedienst, das heutige Diakonische Werk in Heidelberg. Anschließend wird sie für fast drei Jahrzehnte wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft. In dieser interdisziplinären Forschungseinrichtung waren Friedensforschung, sowie Medizin und Ethik ihre Arbeitsschwerpunkte.

All dies sorgte auch bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) dafür, dass Scharffenorth 1970 als erste Frau in das höchste Entscheidungsgremium der EKD gewählt wurde. Dem Leitungsgremium, das damals ein reines Männergremium war, gehörte sie drei Jahre an. "Das hatte mich damals sehr überrascht", sagt Scharffenorth, die eigentlich "nicht Karriere machen" wollte. Die Wahl in den EKD-Rat habe sie allerdings als Bestätigung ihres Lebensweges und ihrer erworbenen Kompetenzen gesehen.

04. Januar 2012