Sozialexperte beklagt Schieflage in der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik

München (epd). Der Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Uwe Becker, beklagt eine Schieflage in der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zur Rettung des Finanzsystems in Europa unternehme die Bundesregierung riesige Anstrengungen, zur Abwendung der Verarmung großer Teile der Bevölkerung hingegen viel zu wenig, schreibt der Honorarprofessor an der Uni Bochum in einem Gastbeitrag in der "Süddeutschen Zeitung" (Donnerstagsausgabe). Auch wenn Deutschland mit einer Arbeitslosenquote von 5,6 Prozent im europäischen Vergleich gut dastehe, "nimmt die soziale Misere auch in diesem Land erschreckend zu", erklärt Becker.

So habe der Bundesverband Deutscher Tafeln kürzlich Alarm geschlagen, weil innerhalb der vergangenen zwölf Monate die Zahl der Hilfebedürftigen, die das kostenlose Essen in Anspruch nehmen, um 300.000 auf 1,5 Millionen Menschen gewachsen sei. Viele Hartz-IV-Bezieher hätten wegen ihrer chronischen Überschuldung keinen Zugang mehr zur Stromnetz.

Nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes habe die Zahl der Hartz-IV-Bezieher seit 2007 um 13 Prozent zugenommen. Ein Drittel dieser Menschen beziehe die Leistung zusätzlich zu ihrem Lohn. "Das Phänomen der Armut trotz Arbeit nimmt weiterhin zu", unterstrich Becker. Immerhin arbeiten, wie eine Studie der Uni Essen ergeben habe, 23 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor - mit einem durchschnittlichen Stundenlohn von 6,50 Euro. Für deutlich mehr als die Hälfte der 7,3 Millionen Menschen, die einem 400-Euro-Job nachgehen, sei ein Minijob ihre alleinige Erwerbsquelle.

All dies, merkt der evangelische Sozialexperte an, "gerät kurioserweise nicht zum Anlass sortierter Nachdenklichkeit". Die Kritik von Sozialverbänden und Gewerkschaften dringe nicht durch. Becker: "Vor was soll die Rettung des Systems diese Menschen noch retten, die gegenwärtig und in absehbarer Zukunft von Armut bedroht sind?"

06. September 2012