EKD-Auslandsbischof: Europäische Krise fordert Kirchen elementar heraus

"Bei der Verfassungsdebatte ging es um die Existenz der KEK.“

Budapest (epd). Der evangelische Auslandsbischof Martin Schindehütte sieht die europäischen Kirchen durch die wirtschaftliche Krise und sozialen Verwerfungen in Europa herausgefordert. "Ein Wachstumsmodell, das die natürlichen, sozialen und kulturellen Grundlagen verbraucht, ist an sein Ende gekommen", sagte Schindehütte in einem epd-Gespräch. Bei der Orientierung des Wirtschaftsmodells an solidarischem Leben und der Bewahrung von Lebensperspektiven für Andere seien die Kirchen elementar gefragt. Schindehütte leitete die Delegation der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei dem europäischen Kirchentreffen, das am Montag in Budapest zu Ende ging.

   epd: Herr Bischof, aus der Evangelischen Kirche in Deutschland kam ein wichtiger Anstoß für den Reformprozess der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK). Dabei geht es um den Auftrag, aber auch um die Strukturen. Muss die KEK, die während des Kalten Krieges entstand, neu erfunden werden?

Martin Schindehütte: Sie muss nicht neu erfunden werden, sie muss sich aber auf den tiefgreifenden Wandel einstellen, der in Europa stattfindet. Die politischen Logiken des Kalten Krieges sind von ganz anderen Mustern abgelöst worden: Europa befindet sich in einer tiefen wirtschaftliche Krise und erlebt große soziale Verwerfungen. Die Ursachen liegen tief und betreffen die grundsätzliche Ausrichtung in Gesellschaft und Politik. Ein Wachstumsmodell, dass die natürlichen, sozialen und kulturellen Grundlagen verbraucht, ist an sein Ende gekommen. Was bedeutet es, diese Grenzen anzunehmen und nach einem "Leben in Genug" zu fragen, das sich - statt auf "immer mehr" an materiellen Gütern und ein Leben mit dem "ultimativen Kick" zu fragen - auf ein Leben in Solidarität, der Freude an gelingenden Beziehungen und der Bewahrung von Lebensperspektiven für Andere ausrichtet. Hier sind wir als Kirchen in der "großen Transformation" auf ganz neue und elementare Weise gefragt.

   epd: Hinter der Konferenz Europäischer Kirchen liegt eine schwierige Übergangsphase - nun beschloss die Vollversammlung der Kirchengemeinschaft eine neue Verfassung. Worin sehen Sie die zentralen Elemente dieser Erneuerung an Haupt und Gliedern?

Die neue Verfassung konzentriert die vielfältigen Aktivitäten der KEK, die oft genug nebeneinander her und in sehr unterschiedlichen Strukturen geschehen sind, in einem deutlich kohärenteren und transparenteren gemeinsamen Entscheidungs- und Arbeitsprozess. Die Kirchen übernehmen verbindlicher Verantwortung füreinander und können ihre eigene Expertise und Kompetenz verlässlicher einbringen. Sie arbeiten mit den ihnen erkennbar und definiert verbundenen kirchlichen Gruppen und Organisationen zusammen. Ich bin sicher, dass damit eine höhere und qualifiziertere Aufmerksamkeit und Wirkung für den öffentlichen Diskurs um die Zukunft untereinander und mit verantwortlichen Akteuren in Gesellschaft und Politik erzielt werden kann.

   epd: Eine Erfahrung, die große und kleine Kirchen in Europa teilen, ist die Säkularisierung und der religiöse Pluralismus. Wie kann die Antwort darauf aussehen?

In der Tat machen alle Kirchen die Erfahrung, dass die geschichtlichen Muster, in denen sie von Gesellschaft und Staat gestützt worden sind, an ihr Ende kommen. Sie erleben, dass sehr viele Menschen vom Glauben und dem Leben der Kirche nichts mehr wissen. Die Menschen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben. Die Pluralisierung von Gesellschaft und Religion ist die notwendige Folge. Und schließlich hat uns die Migration zugleich in eine multireligiöse Gesellschaft geführt. Die gemeinsame Herausforderung aller Kirchen ist es, mit ihrer Bildungsarbeit, mit ihrem öffentlichen Zeugnis, mit ihrem diakonischen Engagement, also mit ihrem ganzen Leben zum Zeugen des Evangeliums zu werden. Wenn wir das auf europäischer Ebene erkennbar miteinander in produktiver Verschiedenheit tun, wird dies unserem missionarischen Wirken eine große Glaubwürdigkeit geben.

   epd: Das EU-Parlament hat gerade von der ungarischen Regierung gefordert, Rechtsstaatlichkeit besser zu beachten. Ein Kritikpunkt betrifft die Anerkennung der Religionsgemeinschaften durch ein Votum des nationalen Parlamentes. Auch in dem aktuellen Bericht von EKD und Bischofskonferenz zur Religionsfreiheit wird das angesprochen. Hätte die Vollversammlung europäischer Kirchen dieses Thema aufgreifen sollen?

Ja, ich hätte mir gewünscht, dass dies erkennbar und angemessen zum Thema geworden wäre. Die Debatten um die neue Verfassung, bei der es um nichts weniger als die Existenz der KEK gegangen ist, hat unsere Kräfte sehr gebunden. Man soll nicht verschiedene Konflikte zugleich bearbeiten und lösen wollen. Dann hat man am Ende gar nichts erreicht. Ich bin dankbar und hoffnungsvoll, dass sich die "neue KEK" unter geklärten Voraussetzungen in den verschiedenen Aufgaben, darunter auch die der Wahrung der Religionsfreiheit als fundamentales Menschenrecht, bewähren kann.

08. Juli 2013