"Umgang mit Hochaltrigen ist Maß für Humanität der Gesellschaft"

Diakoniepräsident Lilie fordert bessere Ausstattung der palliativen Versorgung

Berlin (epd). epd: 2015 hat der Bundestag ein Gesetz zur palliativen Versorgung beschlossen. Können Sie eine erste Bilanz ziehen?

Lilie: Wir haben von Anfang an gesagt: Die gesetzliche Neuregelung ist ein richtiger Anfang, aber sie ist wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir brauchen eine nachhaltige und flächendeckende Verbesserung. Wir alle leben in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Eigentlich ist das wunderbar. Damit wird aber auch der Kreis von hochaltrigen Menschen mit ihrem höheren Pflege- und Behandlungsbedarf größer. Dazu sind neue Formen von Begleitung nötig.

epd: Kann die Gesellschaft das bezahlen?

Lilie: Wir brauchen neue Modelle für die Refinanzierung von Pflegeleistung, um in Kliniken und Pflegeheimen mehr Kapazitäten und mehr Lebensqualität zu schaffen. Auch das Personal muss sich auf den veränderten Bedarf einrichten: Mehr Menschen leiden an Demenz oder an mehrfachen Erkrankungen.

epd: Woher soll das Geld dafür kommen?

Lilie: Es gibt die Idee einer Teilkaskoversicherung, die ich für interessant halte. Die Humanität einer Gesellschaft bemisst sich daran, wie sie mit ihren Alten und Hochaltrigen umgeht. Diese Menschen stehen nach wie vor im Schatten der gesundheitspolitischen Diskussion. In einer immer älter werdenden Gesellschaft gehört die Frage nach der Lebensqualität unserer Hochaltrigen dringend auf die Tagesordnung.

epd: Wie sieht der Handlungsbedarf praktisch aus?

Lilie: Die sogenannte Drehtürmedizin muss endlich beendet werden. Wir wissen aus Untersuchungen, dass sehr alte Menschen in ihrem letzten Lebensjahr vier- oder fünfmal vermeidbare Krankenhausaufenthalte erleiden müssen, weil im ambulanten Wohnumfeld oder in den stationären Pflegeeinrichtungen die medizinische Versorgung nicht hinreichend gewährleistet ist.

epd: Welche Rolle spielen ambulante Angebote in der Schmerztherapie - können mehr Menschen ihre letzte Lebensphase zu Hause verbringen?

Lilie: Wir leben gerne mobil, immer weniger in familiären Kontexten. Die Single-Haushalte bilden in großen Städten schon deutlich die Mehrheit. Für eine ambulante Begleitung bringt das viele Probleme mit sich. Die Familie ist nicht mehr so häufig in der ersten Verantwortung für die Pflege ihrer Angehörigen. Eine alleinerziehende Mutter, die für den Unterhalt ihrer Kinder sorgen muss, kann schwerlich noch ihre alte Tante pflegen.

epd: Wie wollen Sie das verändern?

Lilie: Wir brauchen neben einer besseren Finanzierung, neuen Konzepten auch eine Renaissance der nachbarschaftlichen Verantwortung. Nötig ist eine bürgerschaftliche Bereitschaft zur gegenseitigen Aufmerksamkeit und Unterstützung. Hier liegt eine große neue Chance für das Zusammenspiel von Kirche und Diakonie. Wir haben mit den Kirchengemeinden ein flächendeckendes Netz von "Filialen" landauf, landab. Die Gemeinden können gemeinsam mit der Diakonie bürgerschaftliche Angebote und professionelle Hilfsangebote vor Ort verknüpfen.

epd: Bedeutet das den Weg zur zurück zur klassischen Gemeindeschwester?

Lilie: Es gibt wohl kein Zurück in die Zeit, in der in fast jeder Kirchengemeinde eine Diakonisse arbeitete. Aber wir können anknüpfen an die diakonische Verantwortlichkeit der Gemeinden vor Ort. In der Vernetzung von spirituellem Angebot, bürgerschaftlichem Engagement und professioneller Hilfe liegt ein zukunftsfähiger und evangeliumsgemäßer Mix.

26. Mai 2016