Kirchengeschichtler sieht Parallelen zwischen Gottesdienst und Stadion

Osnabrück (epd). Der Kirchenhistoriker und Fußballpräsident Hermann Queckenstedt hat vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft an Priester und Pastoren appelliert, sich von der Begeisterung in den Stadien anstecken zu lassen. Der Fußball gebe den Menschen etwas, das die Kirche heute oft nicht mehr zu bieten habe, sagte der Direktor des Osnabrücker Diözesanmuseums und Präsident des Drittligaclubs VfL Osnabrück dem Evangelischen Pressedienst: "Die Fans suchen in den Stadien vor allem die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und große Gefühle." Die EM in Frankreich beginnt am 10. Juni.

Die Kirchen sollten sich bewusstmachen, dass viele Abläufe bei einem Fußballspiel christlichen Ritualen ähnelten, erläuterte Queckenstedt, der 2010 als Kurator die Ausstellung "Im Fußballhimmel und auf Erden" entwickelt hat. Zu Bundesliga-Saisonzeiten sei der Gang ins Stadion für die Fans der Höhepunkt der Woche. "Früher war das für sehr viel mehr Menschen der Sonntagsgottesdienst. Dort trafen sie verlässlich Freunde und Nachbarn, mit denen sie nachher zum Frühschoppen zusammenblieben."

Begeisternde Gemeinschaft

Der Historiker vergleicht den Einzug der Spieler ins Stadion mit dem der Priester und Messdiener in eine katholische Messe, die Fangesänge mit Kirchenliedern. Die Kommunikation zwischen Stadionsprecher und Publikum unterliege ähnlichen Regeln wie zwischen Liturg und Gottesdienstbesuchern. Die Kirchen könnten vom Fußballkult lernen, betonte Queckenstedt.

Pfarrer sollten viel häufiger Anlässe schaffen für begeisternde Gemeinschaftserlebnisse. Sie sollten authentischer und mitreißender über ihren Glauben sprechen. "Im Stadion können sie erleben, wie Gemeinschaft wirklich geht", sagte der Museumsdirektor. Durchgeschwitzte Trikots und Autogramme hätten bei vielen Fans mittlerweile Reliquien-Charakter. In vielen Wortspielen und -bildern fänden sich Analogien zur Religion, erläuterte der Vereinspräsident. Zu den berühmtesten zählten der "Fußballgott", der "heilige Rasen" und die "Hand Gottes" des ehemaligen argentinischen Nationalspielers Diego Maradona.

Grenze im Angesicht des Todes

Tatsächlich gebe es auch Skurrilitäten und Auswüchse bis hin zur Gotteslästerung. Dazu zählten etwa das Gebet "Schalke unser" und eine VIP-Loge auf St. Pauli im Stile eines Altarraums. In Argentinien feierten Fans in der "Kirche Maradonas" am Geburtstag ihres Idols das Weihnachtsfest. "Aber auch darüber sollten wir nicht jammern, sondern produktiv damit umgehen", riet Queckenstedt.

Dabei ist die Grenze für den Fußballfan und Bistumsmitarbeiter völlig klar: "In letzter Konsequenz, im Angesicht des Todes, kann Fußball nie sinnstiftend sein." Das sei auch vielen Fans nach dem Suizid von Nationaltorwart Robert Enke 2010 klargeworden: "Fußball ist für mich Freizeitgestaltung. Der christliche Glaube gibt meinem Leben einen Rahmen, Halt, Sinn und eine Perspektive."

8. Juni 2016