EKD-Auslandspfarrer: "Europa ist ein guter Sündenbock" für die Briten

London (epd). Die aufgeheizte Stimmung vor dem "Brexit"-Referendum in Großbritannien lässt auch deutsche und englische Kirchenvertreter nicht kalt. Der evangelische Londoner Auslandspfarrer Ulrich Lincoln äußerte sich besorgt, die Diskussion sei von viel Zorn bestimmt. Auch unmittelbar vor der Abstimmung am 23. Juni legten sich die beiden großen Kirchen des Landes nicht für eine Position fest.

Kein Platz für differenzierte Argumente 

Auslandspfarrer Lincoln sagte: "Europa ist ein guter Sündenbock." Teile des Landes erschienen "national, populistisch und ohne Verständnis für das europäische Projekt". Für differenzierte Argumente sei in der Diskussion um den "Brexit" schon lange kein Platz mehr. Sie zwinge alle in ein einfaches Schema von Ja und Nein. "Derzeit zeigt sich Großbritannien so, wie ich es bisher nicht gekannt habe", fügte der Theologe hinzu.

Gleichwohl habe sich die Art der Diskussion nach dem Mord an der Politikerin Jo Cox in der vergangenen Woche verändert. "Die Rechtspopulisten sind etwas leiser und vorsichtiger geworden", sagte der Pfarrer. Die Abgeordnete der Labour-Partei und Gegnerin eines EU-Austritts war in der nordenglischen Grafschaft Yorkshire auf offener Straße niedergestochen und erschossen worden.

Lincoln sagte, die Mitglieder in der deutschsprachigen Kirchengemeinde machten sich Sorgen vor der Abstimmung. Sie fühlten sich sehr viel weniger willkommen im Land. Einige fürchteten auch um ihren Aufenthaltstitel und ihre Arbeitserlaubnis.

Lincoln betreut seit 2010 im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) das Evangelische Pfarramt London-Ost in der britischen Hauptstadt. Im August wechselt er als Propst ins niedersächsische Vorsfelde bei Wolfsburg.

"Erschreckende Sprachlosigkeit"

Er übte deutliche Kritik an der anglikanischen Kirche, die sich bisher neutral verhalten hat: "Ich empfinde das als eine erschreckende Sprachlosigkeit." Erst in den vergangenen Tagen hätten Kirchenvertreter Kritik an Inhalten und Formen der Debatte geäußert.

Der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, hat angekündigt, gegen den "Brexit" zu stimmen. Die Gemeinschaft der europäischen Staaten habe seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg die soziale Sicherheit und das menschliche Miteinander auf dem Kontinent gestärkt, argumentierte er. Bei ihrer Entscheidung, ob das Königreich weiter Mitglied der Europäischen Union bleiben soll, sollten sich die Briten an dem Idealismus der Gründerväter der EU orientieren. "Jesus hat uns gelehrt, unsere Nachbarn zu lieben", erklärte Welby.

Der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz in England und Wales, Kardinal Vincent Nichols, hatte bereits zu Beginn der Kampagnen rund um das Referendum gesagt, es gebe eine lange Tradition im Christentum und im Katholizismus "Dinge zusammenzuhalten". Der katholische Instinkt sei es, das große Ganze zu betrachten, deshalb sei er den Bemühungen um die EU sehr unterstützend eingestellt. Er warnte vor komplexen Problemen und anschließenden Schwierigkeiten, Lösungen zu diesen Problemen zu finden, betonte jedoch, dass das seine persönliche Meinung sei und keine offizielle Kirchenposition.

Angst vor Verlust brittischer Souveränität

Der Bischof von Southwark und stellvertretende Vorsitzender der Bischofskonferenz, Peter Smith, hingegen hatte in einem Interview mit Radio Vatikan den Schatzkanzler George Osborne scharf kritisiert und ihm Panikmache vorgeworfen, was einen möglichen "Brexit" angeht. Der Kampf um einen Zusammenhalt zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten dürfe nicht der legitimen Souveränität der einzelnen Staaten zum Opfer fallen, sagte er. Der Verlust britischer Souveränität sei "hart zu schlucken".

21. Juni 2016