"Nicht verdrängen" – Drei Fragen an Diakoniepräsident Ulrich Lilie zum Betteln

Berlin (epd). Für Diakoniepräsident Ulrich Lilie gehört Bettelei "seit Menschengedenken" zum Stadtbild. Der Chef der protestantischen Wohlfahrtsorganisation sprach mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) über Würde, Not, Verbote und seinen Ärger über organisierte Bettelei.

Bettelnde Menschen gehören vielerorts zum Stadtbild. Wie reagieren Sie darauf, wenn Sie jemandem begegnen, der sie auf der Straße um Geld bittet?

Ulrich Lilie: Wenn ein bettelnder Mensch vor mir steht, geht es mir wie den meisten anderen Menschen auch: Ich bin hin- und hergerissen. Ich weiß natürlich einiges über fachliche Hintergründe und die Möglichkeiten sinnvoller strukturierter Hilfen. Gleichwohl ist die unmittelbare Not des Menschen, der vor einem steht und mich anspricht, etwas, was mich immer wieder neu berührt. Das Geld, das ich gebe, ist sicherlich oft nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nicht mehr und nicht weniger. Manchmal hilft es und ist eine sinnvolle Zuwendung. Manchmal ist es vielleicht auch nur der eine Euro, der gefehlt hat für die Flasche Schnaps. Weil ich selber nicht so gerne von anderen "nacherzogen" werde, halte ich mich selbst mit erzieherischen Regeln tunlichst zurück und verkneife mir Kommentare wie: "Aber nicht für Schnaps ausgeben."

Bettelnde Menschen machen Armut sichtbar, die sich in unserer Gesellschaft oft versteckt oder übersehen wird. Manchen stören die Leute, die eigenen Worten zufolge "Sitzung machen"...

Lilie: Bettelnde Menschen gehören seit Menschengedenken zum Stadtbild. Unser starkes Gemeinwesen hält das aus. Daher halte ich überhaupt nichts davon, bettelnde Menschen aus den Städten zu vertreiben oder zu verdrängen. Ich glaube aber, dass sich manche Menschen, die betteln, fragen lassen müssen, ob sie mit ihren Anliegen wirklich immer angemessen auf die anderen Menschen zugehen. Das trifft aber nicht nur auf bettelnde Menschen zu, sondern gehört zu den Basics jeglicher Kommunikation. Ich fahre viel in der Berliner U- und S-Bahn. Wenn nahezu bei jeder Station bettelnde Menschen einsteigen und ihren Spruch aufsagen, ist das nach einem langen Arbeitstag manchmal eine echte Herausforderung.

Wie reagieren Sie auf systematisch organisierte Gruppen bettelnder Menschen?

Lilie: Dieser Frage muss man sich noch einmal anders zuwenden. In dem Stadtteil, in dem ich wohne, kenne ich mittlerweile die Standorte, von denen sie morgens ausschwärmen und dann vor den Supermärkten stehen. Ich erlebe bei mir selber, dass ich da hartleibiger reagiere. Diese organisierte Form steht in einem merkwürdigen Verhältnis zum eigentlichen Anliegen des Bettelns: Denn da geht es um die akute Linderung einer akuten Notlage. Wenn solche organisierten Gruppen das systematisch ausnutzen, merke ich bei mir selber, wie mir das schlechte Laune macht.

Interview: Dieter Sell (epd)

8. September