Rechtfertigung durch Heilungshoffnungen? - Einige gute Gründe gegen das sogenannte therapeutische Klonen.

Hermann Barth

Vortrag im Rahmen einer Veranstaltung des Evangelischen Klosterforums:
"Therapeutisches Klonen ... Ethisch verantwortbar?" in Braunschweig

In den Referaten des heutigen Nachmittags werden die Fragen des sogenannten therapeutischen Klonens von verschiedenen Personen und aus unterschiedlichen Perspektiven behandelt. Das entlastet mich davon, das Thema in seiner ganzen Breite zu bearbeiten, und erlaubt mir, eigene Schwerpunkte zu setzen.

In der Ankündigung meines Vortrags habe ich Ihnen "einige gute Gründe gegen das sogenannte therapeutische Klonen" in Aussicht gestellt. Ich sehe vor allem drei solcher guten Gründe. Sie verbinden sich mit den Stichworten
I. Eizellenbedarf,

II. Verwendung der Klonierungstechnik,

III. Schutz menschlicher Embryonen.

Diese drei Stichworte werde ich nacheinander aufgreifen, allerdings in Abschnitten von höchst unterschiedlicher Länge. Die mit den ersten beiden Stichworten verbundenen Gründe werde ich nur ganz kurz streifen, um mich dann auf die Frage des Tötungsverbots, seiner Geltung auch für menschliche Embryonen und des Verhältnisses zwischen Tötungsverbot und therapeutischen Zwecken zu konzentrieren. Schließen will ich in einem IV. Abschnitt mit einigen Überlegungen zur Begrenzung und Selbstbegrenzung der Forschungsfreiheit.

I. Der Eizellenbedarf als einstweiliges Hindernis

Jedenfalls beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens entsteht beim sogenannten therapeutischen Klonen ein erheblicher Eizellenbedarf. Bei den Experimenten zur Herstellung menschlicher Klonembryonen, die Anfang 2004 von südkoreanischen Forschern durchgeführt wurden, wurden insgesamt 242 Eizellen verwendet, die von 16 Frauen stammten. Das bedeutet wegen der unumgänglichen hormonellen Stimulationen und medizinischen Eingriffe erhebliche Belastungen für die beteiligten Frauen. Auch unter der Voraussetzung freiwilliger und aufgeklärter Zustimmung der Eizellenspenderin ist die Gefahr der Ausnutzung von wirtschaftlichen Notsituationen nicht auszuschließen.

Diese Umstände bedeuten - ich habe diesen Akzent schon in der Überschrift des Abschnitts angedeutet - jedenfalls ein einstweiliges Hindernis. Es ist nicht auszuschließen, daß das Verfahren weiterentwickelt wird und daß im Zuge dessen Eizellenspenden entbehrlich werden. Aber das ist Zukunftsmusik. Niemand kann verläßlich voraussagen, daß die entsprechenden Forschungsansätze zu dem angestrebten Erfolg führen. Unter den heutigen Umständen lassen sich die benannten Bedenken nur schwer ausräumen, um so mehr dann, wenn die Herstellung menschlicher Klonembryonen in großem Stil betrieben und der Eizellenbedarf dementsprechend ansteigen würde.

II. Die doppelte Verwendbarkeit der Klonierungstechnik

Die Klonierungstechnik ist für zwei unterschiedliche Entwicklungslinien offen: das sogenannte therapeutische Klonen, aber auch das Fortpflanzungsklonen. Forschungen im Bereich des sogenannten therapeutischen Klonens kommen - ob man es will oder nicht - unweigerlich auch dem Fortpflanzungsklonen zugute. Das unterläuft oder unterminiert aber alle internationalen Bestrebungen, das Fortpflanzungsklonen zu ächten. Die auf der Ebene der Vereinten Nationen geführten Verhandlungen über ein Klonierungsverbot haben wegen des Streits über die Reichweite eines solchen Verbots noch zu keinem greifbaren Ergebnis geführt. Aber sicher ist: Eine Konvention zum Verbot des Fortpflanzungsklonens würde eine überwältigende Mehrheit, vielleicht sogar die einhellige Zustimmung erhalten. Sich in einer Konvention über das Verbot des Fortpflanzungsklonens zu verständigen bedeutet ohnehin noch nicht, daß das Verbot mit wirksamen Sanktionen durchgesetzt wird. Aber die Durchsetzung würde ohne Zweifel zusätzlich erschwert, wenn die Arbeit am sogenannten therapeutischen Klonen fortgesetzt oder sogar intensiviert wird.

III. Das Tötungsverbot und sein Verhältnis zu einer Ethik des Heilens und Helfens

1. Einer der wichtigsten, vielleicht der grundlegende ethische und rechtliche Orientierungspunkt für den Umgang mit menschlichem Leben ist das Tötungsverbot. In den Zehn Geboten lautet es: "Du sollst nicht töten". Die Formulierung ist von äußerster Knappheit, sie bezieht sich nicht auf bestimmte Fallkonstellationen, sondern hat einen grundsätzlichen Charakter und deshalb eine große Reichweite. In der Bibelwissenschaft spricht man hier von apodiktischen im Gegensatz zu kasuistischen Rechtssätzen.

Für das Verständnis des biblischen Gebots ist die Deutung des in ihm verwendeten hebräischen Verbs, razach, wichtig. Es ist ein vergleichsweise seltenes Wort für den Begriffsinhalt "töten" oder "totschlagen". Die gelegentlich vertretene Übersetzung "morden", das heißt also bewußt und vorsätzlich töten im Unterschied zum fahrlässigen Töten, ist nicht haltbar. Das Wort wird allerdings nicht für das Töten im Krieg, auch nicht für das Töten von Tieren verwendet. Man übersetzt es am besten so: "ohne Grund einen Menschen töten", "unschuldiges (Menschen-) Blut vergießen".

Nicht nur der Bedeutungsgehalt des verwendeten Verbs, auch ein Blick darauf, wie im Alten Testament sonst über das Töten gesprochen und gedacht wird, zeigt: Das Gebot verbietet nicht schlechthin jedes Töten. Nirgendwo im Alten Testament gibt es Anzeichen dafür, daß das Töten von Menschen im Krieg oder bei der Vollstreckung der Todesstrafe und schon gar nicht das Töten von Tieren als ein Gegensatz zu dem Gebot empfunden wird. Aber auch mit diesen Einschränkungen bleibt es dabei: Das Gebot stellt sich der willkürlichen Tötung eines Menschen entgegen, es errichtet gewissermaßen einen Schutzzaun um das menschliche Leben. Der Hamburger evangelische Ethiker Traugott Koch hat seinen Bedeutungsgehalt so zusammengefaßt: "Es kann kein Mensch je das Recht haben, definitiv zu bestimmen, was das Leben eines anderen Menschen ist und ausmacht, was es ihm lebenswert macht" (T. K., Zehn Gebote für die Freiheit. Eine kleine Ethik, Tübingen, 1995, S. 37).

Einzugehen ist schließlich noch auf den Umstand, daß das Gebot "Du sollst nicht töten" - wie mit zwei Ausnahmen der gesamte Dekalog - negativ und nicht positiv formuliert ist, genau genommen also ein Verbot und nicht ein Gebot darstellt. Mit diesem Hinweis wird selbstverständlich nicht in Abrede gestellt, daß in der Negation auch eine Position steckt: Das Gebot "Du sollst nicht töten" dient positiv der Bewahrung des menschlichen Lebens. In der Auslegung der Zehn Gebote ist darum immer wieder herausgearbeitet worden, daß in den Verboten jeweils auch ein Gebot steckt. Besonders charakteristisch ist diese Tendenz für die Auslegung, die Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus den Zehn Geboten gegeben hat. Dort heißt es: "Du sollst nicht töten. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unserm Nächsten und seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und beistehen in allen Nöten." Die negative und die positive Formulierung repräsentieren unterschiedliche Tendenzen und Modelle ethischer Unterweisung. Die positive Formulierung benennt Aufgaben: "dem Nächsten helfen und beistehen in allen Nöten". Die negative Formulierung richtet gewissermaßen Warnschilder auf. Sie markiert einen Korridor des Handelns, aber sie schreibt nicht vor, wie im einzelnen zu handeln ist und welche Pflichten bestehen. Insofern läßt sie dem einzelnen einen größeren Raum der Freiheit.

2. Im Blick auf die aktuelle bioethische Debatte ist es nun die entscheidende Frage, ob sich das Gebot "Du sollst nicht töten" allein auf den geborenen Menschen bezieht oder ob es die vorgeburtliche Phase einschließt und letztlich auch den menschlichen Embryo schützt. Verfassungsrechtlich gewendet heißt die Frage so: Gelten Artikel 1 des Grundgesetzes - der Schutz der Menschenwürde - und Artikel 2 - das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit - nur für die Zeit nach der Geburt, oder erstreckt sich ihre Geltung in die vorgeburtliche Phase hinein und bezieht auch den menschlichen Embryo ein? Ich will meine Position hier deutlich markieren: Der menschliche Embryo hat nach meiner Überzeugung den Status eines embryonalen Menschen, der Würde- und der Lebensschutz, den das Grundgesetz in Artikel 1 und 2 gewährleisten, gilt auch für ihn, er darf aus diesem Schutzbereich nicht herausdefiniert werden. In der im vergangenen Herbst veröffentlichten Stellungnahme des Nationalen Ethikrates über "Klonen zu Fortpflanzungszwecken und Klonen zu biomedizinischen Forschungszwecken" habe ich darum diejenige Position mit unterzeichnet, die den Klon-Embryo wie jeden anderen menschlichen Embryo als Träger der Menschenwürde und des Lebensrechtes ansieht. Wir haben in der Stellungnahme unsere Position folgendermaßen dargestellt:

"Das menschliche Leben stellt nach ethischen Prinzipien und nach den Grundentscheidungen unserer Verfassung nicht ein Gut neben anderen Gütern, sondern das fundamentale Gut dar, auf das sich alle Grundrechte beziehen. Es wird deshalb durch die zu Eingang des Grundgesetzes normierte Unantastbarkeit der Menschenwürde ... und das in ihm ebenfalls verankerte Recht auf Leben ... in besonderer Weise geschützt ... Divergierende Antworten werden ... auf die Frage gegeben, wann der Schutz beginnt. Manche wollen ihn erst mit der Nidation oder gar erst mit der Geburt einsetzen lassen. Andere sprechen von einer stufenweisen Entwicklung des Schutzes, der erst mit der Geburt seine volle Wirkung entfaltet. Nach Ansicht derjenigen, die die vorliegende Position befürworten, sind diese Auffassungen mit dem fundamentalen Wert des Lebens nicht vereinbar. Diese erfordert nämlich, für den Beginn des vollen Schutzes den frühesten biologisch vertretbaren Zeitpunkt zu wählen." Das ist "die Kernverschmelzung ..., weil von da an die Kriterien der Potenzialität, der Identität und der Kontinuität erfüllt und damit alle wesentlichen Voraussetzungen für das Menschsein gegeben sind: das der Potenzialität, weil der Embryo bereits das reale Vermögen besitzt, sich zu einem geborenen Menschen zu entwickeln; das der Identität, weil es sich von Anbeginn an um dasselbe Lebewesen handelt; und das der Kontinuität, weil von diesem Moment an über alle Phasen des Menschseins hinweg bis zum Tode ein Prozeß im Gange ist, der jeden anderen Einschnitt als willkürlich erscheinen läßt" (S. 37).

Dies ist nicht der Ort, die Argumentation anhand der Kriterien der Potentialität, der Identität und der Kontinuität im einzelnen zu entfalten. Ich will aber den in meinen Augen entscheidenden Ansatzpunkt kenntlich machen: Im wesentlichen unstrittig ist es, daß der geborene Mensch von Anfang an Träger des Schutzes von Menschenwürde und Lebensrecht ist. Vom Zeitpunkt der Geburt ist dann aber zeitlich zurückzufragen: Ist dieses Menschenkind vor der Geburt ein anderes Wesen als nach der Geburt? Ist es vor der Geburt weniger schutzwürdig und schutzbedürftig als unmittelbar nach der Geburt? Und zu welchem Zeitpunkt hat das Leben dieses menschlichen Wesens, das, wie es so schön heißt, mit der Geburt das Licht der Welt erblickt, begonnen? Wenn ich diesen drei Fragen nachgehe, dann kann ich mich der Folgerung nicht entziehen: Jeder neugeborene Mensch war zuerst menschlicher Embryo; in der Entwicklung zwischen dem embryonalen Stadium und der Geburt gibt es zweifellos viele Zäsuren, die über Fortgang oder Abbruch dieser Entwicklung entscheiden; aber es gibt keine Zäsur, an der nach der Kernverschmelzung dieses menschliche Wesen erst das wird, was mit der Geburt ans Licht der Welt kommt. Insofern läßt sich formulieren: In der vorgeburtlichen Phase wird das menschliche Leben immer besser wahrnehmbar als das, was es ist.

Nicht verschwiegen werden soll allerdings eine Schwierigkeit bei der genauen Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem der volle Schutz von Würde und Lebensrecht des menschlichen Embryos einsetzt. Nach meiner Auffassung ist das jedenfalls mit der Kernverschmelzung der Fall. Wie steht es aber mit derjenigen embryonalen Entwicklungsstufe, die zwischen dem Befruchtungsvorgang und der Kernverschmelzung liegt? Dieses sogenannte Vorkernstadium ist nach der geltenden Rechtslage in Deutschland nicht unter den vollen Schutz gestellt; die Folge ist, daß in Deutschland - im Unterschied zu anderen Ländern - zwar nicht Zehntausende von menschlichen Embryonen kryokonserviert werden, die aus In-vitro-Fertilisationen übriggeblieben sind, wohl aber Zehntausende von befruchteten Eizellen im Vorkernstadium. Ist zwischen beidem lediglich ein definitorischer oder auch ein sachlich-qualitativer Unterschied? Es gibt im Blick auf den Anfang des menschlichen Lebens offenbar eine schwer zu überwindende Unbestimmtheit. Daraus darf freilich nicht der Schluß gezogen werden, den Schutzanspruch des menschlichen Embryos willkürlich festlegen zu können; weil der menschliche Embryo zweifelsohne nicht den Anfang von irgendeinem Lebewesen, sondern den Anfang der Lebensgeschichte eines Menschen bildet, legt sich vielmehr im Sinne einer tutioristischen, also von der Vorsicht geleiteten ethischen Argumentation die Regel nahe: im Zweifel für den Schutzanspruch.

3. Wer meine Argumentation zum guten Sinn des Tötungsverbots und zu seiner Geltung auch im Blick auf menschliche Embryonen teilt, kann, ohne in einen gravierenden Selbstwiderspruch zu geraten, keinem Forschungsvorhaben zustimmen, das auf den Verbrauch menschlicher Embryonen angewiesen ist. Diese Folgerung sieht sich allerdings dem schwerwiegenden Einwand gegenüber, dadurch blieben wichtige Möglichkeiten ungenutzt, die Not und das Leid von Menschen, wie im Falle der Präimplantationsdiagnostik, schon jetzt zu mindern oder, wie im Falle der Stammzellforschung und des sogenannten therapeutischen Klonens, durch die Entwicklung neuer medizinischer Behandlungsmöglichkeiten eventuell in Zukunft zu mindern. Gibt es, so wird kritisch gefragt, neben dem Tötungsverbot und gegen es abzuwägen, nicht auch eine Ethik des Helfens und Heilens?

Zweifellos haben Helfen und Heilen einen hohen ethischen Stellenwert, und ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Aspekt in dem Gebot "Du sollst nicht töten" implizit enthalten ist: Denn das Gebot fordert nicht nur, wie es in Martin Luthers Katechismusformulierung heißt, "daß wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun", sondern ebenso, daß wir "ihm helfen und beistehen in allen Nöten". Wie verhalten sich das Tötungsverbot und eine Ethik des Helfens und Heilens zueinander?

Der Tübinger katholische Ethiker Dietmar Mieth hat kürzlich formuliert:

"Das Tötungsverbot bleibt eine große Herausforderung. Diese Herausforderung wirkt deshalb so groß, weil unsere kleinlichen Rechtfertigungsversuche dem strikten Tötungsverbot gegenüber immer unzulänglich bleiben. Haben diejenigen nicht doch recht, die keine Kompromisse schließen und deren moralische Güte gerade darin besteht, daß sie auch in Extremsituationen und unter Streßbedingungen ihre Maxime aufrechterhalten?"

Das klingt so, als ob gegenüber dem strikten Tötungsverbot keine anderen Gründe Bestand haben können und Kompromisse moralisch unmöglich sind. Aber das Zitat geht noch weiter:
"Es gibt viel Achtung vor solcher Zeugenschaft, aber wenig Nachahmung ... Denn die Grammatik unserer Moral reicht nicht, um den Gebrauch ihrer 'Sprache' bis ins Letzte hinein zu bestimmen. So läßt sich unsere Sehnsucht nach moralischer Klarheit nicht erfüllen, ohne daß wir mit moralischen Impulsen wie dem Mitleid und der Liebe in Widerstreit geraten. Das ändert nichts daran, daß wir diese Impulse reinigen müssen: vom Selbstmitleid, von der tödlichen Mitleidsfalle und einer Liebe, die dem anderen weder das Leben noch die Freiheit zur eigenen Entscheidung läßt" (Töten gegen Leiden?, in: Die Zehn Gebote. Eine Kunstausstellung. Hg. v. K. Biesenbach für das Deutsche Hygiene-Museum, 2004, S. 162-166, dort 166).

Zwei Gedanken aus diesem Zitat erscheinen mir besonders hilfreich und weiterführend:

(1) Wer in der Sehnsucht nach moralischer Klarheit das Tötungsverbot kompromißlos gelten lassen will, gerät in Widerstreit mit den moralischen Impulsen des Mitleids und der Liebe.

(2) Wir müssen die moralischen Impulse des Mitleids und der Liebe reinigen von einer Liebe, die dem anderen weder das Leben noch die Freiheit zur eigenen Entscheidung läßt.

An dem ersten Gedanken gefällt mir die Ehrlichkeit, mit der ein nicht zu leugnendes Dilemma ausgesprochen und ausgehalten wird. Wir kennen dieses Dilemma nicht nur aus der bioethischen Debatte. Es ist uns schon sehr viel länger aus der friedensethischen Debatte vertraut. Wer, hier wie dort, das Tötungsverbot kompromißlos gelten läßt, hat es zwar argumentativ ganz leicht: Alles scheint klar und eindeutig. In Wahrheit müssen aber, um den Schein der Klarheit und Eindeutigkeit aufrechtzuerhalten, die Impulse des Mitleids und der Liebe - mit denen, die unter Unfrieden und Unterdrückung leiden, und mit denen, die unter Krankheit leiden und auf Heilung hoffen - kleingeredet oder verdrängt werden. Und umgekehrt: Wer sich ganz und gar von den Impulsen des Mitleids bestimmen läßt, steht in der Gefahr, das Tötungsverbot kleinzureden oder zu verdrängen und sich so um das Dilemma herumzumogeln.

Ehrlich mit dem Dilemma zwischen Tötungsverbot und Ethik des Helfens umzugehen würde der bioethischen Debatte in Deutschland gut tun. Das bedeutet nicht, auf einen klaren eigenen Standpunkt zu verzichten. Aber es bedeutet, sich der ungelösten Dilemmata bewußt zu sein und unterschiedliche Lösungen, jedenfalls einstweilen, nebeneinander stehen zu lassen.

In einem kleinen, aber gewichtigen Abschnitt seiner Stellungnahme "Zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen" hat sich der Nationale Ethikrat 2001 für eine "Kultur wechselseitiger Achtung" in der bioethischen Debatte ausgesprochen:

"In der Gesellschaft besteht zwar Einigkeit darüber, daß der Schutz menschlichen Lebens ein vorrangiges moralisches und verfassungsrechtliches Gebot darstellt; Uneinigkeit herrscht aber über die Reichweite des Schutzanspruchs, der menschlichem Leben während seiner frühen embryonalen Entwicklung zukommen sollte ... Der Nationale Ethikrat sieht die erste und wichtigste Voraussetzung für eine politische Lösung des Konflikts in einer Kultur wechselseitiger Achtung, in deren Geist abweichende Meinungen respektiert und vorgetragene Argumente sachlich geprüft werden. Jeder Seite muß zugestanden werden, daß sie sich ernsthaft um die Begründung ihrer Position bemüht. Diese Achtung erfordert auch, in der Diskussion auf sprachliche Wendungen zu verzichten, die geeignet sind, den Anderen zu verletzten, herabzusetzen oder bloßzustellen" (S. 11).

Zu mahnenden Worten in dieser Richtung besteht einiger Grund. So gibt es etwa immer noch eine verbreitete Darstellung, wonach sich in der bioethischen Debatte wissenschaftliche oder wirtschaftliche Interessen auf der einen und ethische Positionen auf der anderen Seite gegenüberstünden; die ethischen Maßstäbe und Argumente selbst sind es jedoch, die strittig sind. Die bioethische Debatte, die seit zwei Jahrzehnten andauert, bietet der Gesellschaft eine hervorragende Gelegenheit, sich über so grundlegende Fragen wie das Verständnis des Menschen zu verständigen. Manche Erfahrungen lassen aber daran zweifeln, ob diese Chance wirklich genutzt wird. Im wachsenden Maße hat man den Eindruck, die Fronten in der Diskussion seien verhärtet und ein wirklicher Dialog finde gar nicht mehr statt. Eine Diskussion unter solchen Voraussetzungen wird steril und langweilig. Wir brauchen demgegenüber dringend die Bereitschaft, aufeinander zu hören, und jedenfalls die ernsthafte Absicht, uns bei besserer Belehrung auch zu korrigieren. Der Erreichung dieses Ziels dient es, wenn wir den Tonfall der Eindeutigkeit mäßigen und sowohl für uns selbst als auch gegenüber anderen ehrlich einräumen, daß auch wir an dem Widerstreit zwischen dem Tötungsverbot und einer Ethik des Helfens teilhaben.

Das heißt nun aber nicht, daß alle Auflösungen dieses Widerstreits gleich gültig sind und es darum gleichgültig ist, zu welchem ethischen Urteil wir gelangen. Wir dürfen uns nicht bequem einrichten in dem Nebeneinander verschiedener und gegensätzlicher Positionen. Wir brauchen den Streit um das bessere Argument. Darum habe ich aus Dietmar Mieths Beitrag auch noch den zweiten Gedanken herausgehoben, daß wir nämlich die Impulse des Mitleids und der Liebe reinigen müssen.

So leuchtet es unmittelbar ein, daß eine Ethik des Helfens und Heilens sich selbst diskreditiert, wenn sie für Mittel des Helfens und Heilens plädiert, die ethisch nicht vertretbar sind. Anders gesagt:  Helfen und Heilen können nicht um jeden Preis geschehen. Das ist prinzipiell auch völlig unstrittig. An diesem Grundsatz orientiert sich beispielsweise das Verbot des Organhandels. Eine Ethik des Helfens und Heilens kann zwar mit guten Gründen dafür eintreten, die Zahl der verfügbaren Spenderorgane zu erhöhen. Aber das Mittel des Organhandels ist - nicht nur in Deutschland - bewußt, und dies sogar mit einer gesetzlichen Regelung, ausgeschlossen worden. Obwohl feststeht, daß zu wenig Spendernieren verfügbar sind, um den gegenwärtigen Bedarf zu befriedigen, und es gleichzeitig auf der Welt genügend Menschen gäbe, die gegen Geld bereit wären, eine ihrer beiden Nieren abzugeben - der Zweck heiligt auch hier nicht die Mittel. Denn man würde durch die Etablierung des Organhandels Menschen, die in Armut leben, in die Versuchung bringen, sich einem unvertretbaren gesundheitlichen Risiko auszusetzen. Und noch grundsätzlicher: Organhandel wäre - oder ist - ein Selbstmißverständnis des Menschen.
Denn der Mensch hat nicht seinen Körper - so daß er ihn als Ware behandeln könnte -, er ist Körper. Aber nicht immer führt die Frage nach dem Preis, der um des Helfens und Heilens willen zu bezahlen wäre, zu so relativ klaren Resultaten - und selbst beim Organhandel darf man sich nicht allzu sicher sein: Schon regen sich kräftig die Stimmen, die wegen des Mangels an Spenderorganen über "finanzielle Anreize" vor allem für die Lebendspende reden (vgl. die Position des Direktors der Klinik für Allgemein- und Transplantationschirurgie am Universitätsklinikum Essen, Professor Dr. med. Christoph Erich Broelsch, in: Brauchen wir legalen Organhandel? Dokumentation der 1. Veranstaltung in der Veranstaltungsreihe der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz und des Ministeriums der Justiz Rheinland-Pfalz "Ethik und Recht im Dialog" am 26. Juni 2003, S. 14ff. 28ff).

In diesen Zusammenhang gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Argument, die verbrauchende Embryonenforschung sei verfassungsrechtlich deshalb vertretbar, weil Artikel 2 des Grundgesetzes ja Eingriffe in das Recht auf Leben und unter bestimmten Voraussetzungen sogar die Tötung von Menschen zulasse. Richtig ist, daß der Grundsatz "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" durch einen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt ist: "In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden." Jedoch läßt unser Recht die Tötung von Menschen nur zu, um ein anderes akut bedrohtes Leben gegen den Angreifer zu retten. So beispielsweise in Fällen der Notwehr und der Nothilfe. Notwehr ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zur Verteidigung anderer schützenswerter Rechtsgüter rechtmäßig. Dies ist aber stets nur dann der Fall, wenn von demjenigen, der getötet wird, eine Gefahr ausgeht. Von Embryonen geht aber in aller Regel keine Gefahr aus. Und das schon gar nicht, wenn sie eigens zum Verbrauch erzeugt werden. Sie sind vielmehr selbst von Anfang an in
höchstem Maße gefährdet.

Im übrigen bleibt festzuhalten: Alle Überlegungen zu künftigen Therapiemöglichkeiten sind derzeit nicht mehr als Denkmodelle und darauf begründete Hoffnungen. Es wäre leichtfertig, zum gegenwärtigen Zeitpunkt irgendwelche konkreten Heilungserwartungen hervorzurufen. Darum stimme ich denen bei, die statt vom "therapeutischen" lieber vom "Forschungsklonen" sprechen. Semantik ist niemals harmlos. Gerade auf dem sensiblen Feld von Krankheitsbedrohung und Heilungshoffnung müssen wir sehr sorgfältig mit der Sprache umgehen.

IV. "Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon."

In der bioethischen Debatte des Jahres 2001 hat eine sprichwörtliche Redensart Karriere gemacht: den Rubikon überschreiten. In die Debatte eingeführt wurde sie durch die "Empfehlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Forschung mit menschlichen Stammzellen" vom 3. Mai 2001. Wenige Tage danach hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau in seiner "Berliner Rede" vom 18. Mai 2001 an die Redensart von der Überschreitung des Rubikon angeknüpft. "Ich bin" - so sagte er -

"fest davon überzeugt, daß wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne daß Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen. Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon."

Wie auch immer man die Tauglichkeit des Rubikon-Bildes für die bioethische Debatte einschätzen mag - Johannes Rau hat mit seinem Wort "Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon" zwei bewahrenswerte Einsichten formuliert:
1. Es gibt, gerade in der Entwicklung der modernen Medizin und Biologie, Richtungen und Pfade, denen zu folgen oder gerade nicht zu folgen von größter Tragweite ist. Die DFG hat die Einführung der künstlichen Befruchtung als einen solchen Vorgang klassifiziert. Unter den aktuellen Entwicklungen und Entwicklungsmöglichkeiten sind sicher das reproduktive und das Forschungsklonen zu nennen. Johannes Rau macht darauf aufmerksam: Es ist eine reale Möglichkeit, auf bestimmte Pfade der Entwicklung bewußt zu verzichten und Grenzen "sogar zu respektieren, wenn man dadurch auf bestimmte Vorteile verzichten muß". Es gebe sogar Dinge, "die wir um keines tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteiles willen tun dürfen". Darum wirbt er dafür, Tabus nicht als Relikte vormoderner Gesellschaften, sondern, wo sie gute Gründe für sich haben, als "Ergebnis aufgeklärten Denkens und Handelns" zu begreifen.

Das ist ein sehr anderer Ton als der in der bioethischen Debatte regelmäßig wiederkehrende Vorwurf, wer sich - im klaren Wissen darum, daß bestimmte Entwicklungslinien im Ausland vorangetrieben werden - dafür ausspreche, sie in Deutschland nicht zuzulassen, sei ein Heuchler. Denn am Ende werde er, wenn die im Ausland stattfindenden Forschungen zu neuen therapeutischen Möglichkeiten führten, nicht zögern, jedenfalls nicht umhinkommen, sie auch in Deutschland zu nutzen. Der Vorwurf der Heuchelei ist jedoch nur dort gerechtfertigt, wo heimlich auf Erfolge der anderswo durchgeführten Forschungen spekuliert wird, mit anderen Worten: wo jemand von Anfang an von den Früchten dieser Forschung profitieren will, ohne sich selbst gewissermaßen die Hände schmutzig zu machen. Der Vorwurf trifft aber diejenigen nicht, die zu einem Zeitpunkt, wo der Erfolg bestimmter Forschungsrichtungen noch unbestimmt ist, sich gegen sie aussprechen. Die gegensätzlichen Beurteilungen und Vorgehensweisen in verschiedenen Ländern sind gerade die Bedingung der Möglichkeit, die Debatte offen zu halten. Die höchst prekäre Alternative wäre es doch, sich der normativen Kraft des Faktischen zu beugen und zur Vermeidung möglicher Wettbewerbsnachteile bei allem mitzumachen, was andere anderswo angefangen haben.

2. Johannes Rau hat in seiner damaligen Berliner Rede nicht zuletzt dazu beigetragen, das Ziehen von Grenzlinien nicht einfach als Einengung und Beeinträchtigung, sondern auch als Herausforderung und Chance zu verstehen. Die Stammzellforschung liegt ja nicht brach, wenn die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen eingeschränkt wird; auch die Forschung an adulten Stammzellen hat ein großes Potential. Gelegentlich wird die Frage gestellt, ob die Einhaltung des Tötungsverbots bei menschlichen Embryonen als Fessel der Biomedizin wirkt. Als ob es das Wesensmerkmal der Freiheit wäre, alle Grenzen niederzureißen und sich keine Schranken auferlegen zu lassen oder selbst aufzuerlegen! Aber es gibt keine Freiheit, auch keine Forschungsfreiheit, ohne daß wir uns selbst Grenzen setzen und uns Grenzen setzen lassen. Darum war und ist die Botschaft von Johannes Rau so wichtig: "Ich bin fest davon überzeugt, daß wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne daß Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen. Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon."