Hoffen, Handeln - und Leiden. Zum christlichen Verständnis des Menschen aus theologischer Sicht - Thesen

Eberhard Jüngel

Anläßlich des Bioethik-Kongresses in Berlin

Thesen

von Prof. Dr. Eberhard Jüngel DD / Universität Tübingen

  1. Das christliche Verständnis des Menschen verdankt sich den uns auf Gott ansprechenden biblischen Texten und begreift das Sein des Menschen deshalb schon in der Fragestellung als relationales Sein (in praedicamento relationis). Ein auf sich selbst reduzierter Mensch wäre nichts anderes als - eine Leiche. Die biblische Gestalt der Frage nach dem Menschen hat dialogischen Charakter und verweist den nach seinem eigenen Sein fragenden Menschen auf den, der sich seiner annimmt: Gott. Daß Gott in der Person Jesu von Nazareth als Mensch zur Welt gekommen ist, läßt erkennen, daß der Mensch zum Zusammensein mit Gott und zu einem gelingenden Zusammensein mit seinen Mitmenschen bestimmt ist: Sein heißt Zusammensein, Leben heißt Zusammenleben.
     
  2. Das christliche Verständnis des Menschen begreift diesen als ein beziehungsreiches Wesen, dessen Beziehungsreichtum sich aufbaut aus der Beziehung des menschlichen Ich (1.) zu sich selbst, (2.) zu seiner sozialen Umwelt (Mitmenschen), (3.) zu seiner natürlichen Umwelt und (4.) zu Gott. Alle diese menschlichen Grundrelationen verdanken sich der schöpferischen, rettenden und alle seine Werke vollendenden Beziehung Gottes zum Menschen, der jedoch den ihn auszeichnenden Beziehungsreichtum, in dem er dem ewigreichen Gott entspricht, selber immer schon - durch die rücksichtslose Verwirklichung einer der fundamentalen Lebensbeziehungen auf Kosten der anderen Lebensbeziehungen - zu zerstören im Begriffe ist und insofern in eine selbstverschuldete Beziehungslosigkeit gerät, d.h. als Sünder existiert. Doch stärker als der Menschen Sünde ist Gottes Gnade (Röm 5,20b), die jenen Frieden ermöglicht, in dem alle fundamentalen Lebensbeziehungen zueinander im Verhältnis größtmöglicher gegenseitiger Begünstigung stehen.
     
  3. Das christliche Verständnis des Menschen begreift diesen als eine durch Gottes schöpferisches Handeln konstituierte und dabei zugleich unwiderruflich bejahte und anerkannte Person, die ihr Bejahtsein im Verhältnis des Ich zu sich selbst nachvollziehen darf und soll, in solcher Selbstbejahung aber auch den Externitätsbezug ihres Personseins bejaht: Ich komme nur bei einem anderen zu mir selbst. Weil der Mensch in seinem Bejaht- und Anerkanntsein durch Gott Peron ist, kann ihn niemand, kann er auch selbst sich nicht zur Unperson machen. Der Mensch bleibt auch als Sünder Person und als Person zur Gottebenbildlichkeit, d.h. zu der Freiheit bestimmt, mit sich und seiner Welt etwas anzufangen.
     
  4. Das christliche Verständnis des Menschen kennt diesen als eine von Gott unwiderruflich bejahte und anerkannte Person, der unantastbare Würde zukommt. Weder die Person noch deren Würde wird durch eigenes Handeln konstituiert, das vielmehr aus Ereignissen kreativer Passivität allererst hervorgeht. Seine temporale Instiutionalisierung hat dieser Primat des menschlichen Seins vor dem Handeln im jüdischen Sabbat und im christlichen Sonntag gefunden: an ihm wird das Arbeitsleben der Leistungsgesellschaft elementar unterbrochen, um dem Menschen Zeit zum Staunen und zur Freude darüber einzuräumen, daß er überhaupt ist und nicht vielmehr nicht ist und daß er sein eigenes Sein von Gott ständig neu zu empfangen vermag. Für dieses sein Sein ist der Mensch nicht verantwortlich; umso mehr ist er für seine Taten verantwortlich, durch die er sein Personsein weder konstituieren noch verwirken kann. Der Mensch kann weder von anderen Menschen noch von sich selbst zur Unperson gemacht werden. Als gerechtfertigter Sünder bleibt er die von Gott bejahte und anerkannte Person, die mehr ist als die Summe ihrer Taten oder Untaten und die darin Gottes Ebenbild ist, daß sie die schöpferische Freiheit hat, mit sich selbst und der Welt etwas anzufangen. Diese Freiheit setzt den Menschen in eine wohltuende Distanz zu sich selbst, die es ihm erlaubt, über sich selbst zu lachen.
     
  5. Zum christlichen Verständnis des Menschen gehört das Eingeständnis, daß sich Leiden nicht verstehen läßt, denn im Leiden erfahren wir auf schmerzhafte Weise denjenigen Identitätsverlust, den wir im Tod definitiv erleiden. Angesichts des Leidens ist der Mensch herausgefordert, zu unterscheiden zwischen zumutbarem und unzumutbarem Leiden, zwischen abwendbarem und unabwendbarem Leiden und zwischen verschiedenen Dimensionen des Leidens. Der Glaube an Jesus Christus und sein stellvertretendes Leiden provoziert dabei eine scheinbar paradoxe Einstellung gegenüber dem Leiden: einerseits leben die Glaubenden in der Gemeinschaft der Leiden Christi, andererseits sind sie zur kompromißlosen Gegnerschaft gegen das Leiden aufgerufen. Die christliche Einstellung zum Leiden leitet dazu an, im Blick auf das Leiden Christi immer neu zu unterscheiden zwischen dem Elend, das es zu ertragen, und dem Elend, das es zu bekämpfen gilt. Die Passionsgeschichte Christi stärkt die Sensibilität für alle menschlichen Leidensgeschichten.
     
  6. Das christliche Verständnis des Menschen begreift auch die Würde des Menschen in praedicamento relationis, so daß bei jeder Entscheidung über das beginnende und über das zu Ende gehende Leben eines Menschen mit dessen Würde auch die Würde der entscheidenden Personen thematisch ist. Würde hat und behält der Mensch allerdings auch dann, wenn man sie ihm zu nehmen versucht. Der christliche Glaube behauptet im Blick auf den durch die Kreuzigung entstellten Christus, daß sich auch und gerade in ihm die Würde des Menschen manifestiert. Dann ist die Menschenwürde auch und gerade da unantastbar präsent, wo man sie mit Füßen tritt. Denn sie ist eine unserem eigenen Zugriff zu unserem Besten entzogene Attribution göttlicher Gnade und eben deshalb in jedem - also auch im erniedrigten und entstellten - Menschen achtungsgebietend präsent.