Recht als Verwirklichung von Moral – eine Überforderung?

Wolfgang Schäuble

Anläßlich des Bioethik-Kongresses in Berlin

Vortrag von Dr. Wolfgang Schäuble, MdB am 28. Januar 2002 auf dem Bioethik-Kongress der EKD
„Zum Bild Gottes geschaffen“ in der Französischen Friedrichstadtkirche, Berlin

Beim Betrachten unseres Tagungsprogramms habe ich darüber nachgedacht, was ich unter der Fragestellung meines Themas zu diesem Kongress über bio-ethische Fragen beitragen kann. Natürlich denkt der Jurist an Georg Jellinek, wonach Recht die Ordnung eines ethischen Minimums ist. Und Böckenförde (Kirchlicher Auftrag und politisches Handeln, Seite 194) hat die Aufgabe des Rechts in der modernen Gesellschaft beschrieben als die verbindliche, auf soziale Geltung abzielende Regelung des äußeren zwischenmenschlichen Lebens in einer Weise, die äußeren Frieden, persönliche Freiheit und Sicherheit für alle und jeden einzelnen sowie die Ermöglichung angemessener Wohlfahrt sichert bzw. verbürgt. Die Rechtsordnung ist, so gesehen, nicht primär Tugend- und Wahrheitsordnung, sondern Friedens- und Freiheitsordnung. Wenn Habermas (Recht und Moral, Tanner Lectures 1986) zu dem Schluss kommt, dass Legalität nur aus moralisch gehaltvoller Verfahrensrationalität Legitimität schöpfen könne, scheint mir das bei ganz anderem Ausgangspunkt im Ergebnis gar nicht so weit von Böckenfördes Rechts- und Freiheitsverständnis im säkularisierten Staat zu sein. Aber seit Habermas‘ Friedenspreisträger-Rede sind wir darüber ja kaum noch überrascht.

Ob es bei unserem Thema tatsächlich um die Verwirklichung von Moral geht, scheint mir zweifelhaft, insbesondere nachdem ich mich im philosophischen Wörterbuch (herausgegeben von Georgi Schischkoff) vergewissert habe, dass Moral als derjenige Ausschnitt aus dem Reich der ethischen Werte definiert sei, dessen Anerkennung und Verwirklichung bei jedem erwachsenen Menschen zunächst angenommen wird, was im Sinne der Goldenen Regel das Zusammenleben der Menschen dadurch ermöglicht, dass ein jeder die vollständige Verwirklichung der vitalen Werte gewissermaßen einschränkt zugunsten der Verwirklichung der Sozialwerte.

Da wären dann Moral und Recht so furchtbar weit gar nicht voneinander entfernt, und die Politik steht dazwischen. So verstanden wird man übrigens unter dem Gesichtspunkt „Moral“ einen Hinweis auf demoskopische Befunde zur Fragestellung unseres Themas nicht ganz leicht verwerfen können.

Nun bin ich weder Ethiker noch Rechtsphilosoph und will mich deshalb auf die Frage beschränken, was der Gesetzgeber in der Bioethik leisten und was er besser unterlassen sollte. Dabei bildet das Verfassungsrecht die Grundlage, wobei ich die Frage beiseite lasse, ob es für den Pouvoir Constituant Bindungen gibt; für den Verfassungsgesetzgeber gibt es sie jedenfalls ohne Frage, wie uns ein Blick auf Art. 79 GG zeigt. Und auch die aus den verschiedenen Grundrechtstheorien folgende Frage, ob es einen Primat des Rechts gegenüber der Politik, also konkret des Verfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber geben solle oder ob ein solcher Einbruch in das demokratische Prinzip eher zurückhaltend zu betrachten sei, auch diese Frage erwähne ich nur, ohne sie wirklich beantworten zu wollen.

Jedenfalls ist der erste Überschwang in unseren bioethischen Debatten von Anfang vergangenen Jahres geschwunden – glücklicherweise –, als etwa die Bundesjustizministerin fast mit einer an „roma locuta“ erinnernden Attitude behaupten wollte, jedes Nachdenken über den Regelungsgehalt des Embryonenschutzgesetzes verstoße schon gegen unabänderliches Verfassungsrecht. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit immerhin haben wir uns in der bioethischen Debatte mittlerweile zurückerobert, auch weil die Autorität des ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Benda durch den späteren Verfassungsgerichtspräsidenten Herzog und die heutige Präsidentin Limbach in einer den Pluralismus rettenden Weise ausbalanciert worden ist, und weil die erneute Lektüre der Verfassungsgerichtsrechtsprechung zum Schutz ungeborenen Lebens die Erkenntnis in Erinnerung gebracht hat, dass das Verfassungsgericht zu der Frage „Verschmelzung oder Nidation“ ausdrücklich gerade nicht judiziert hat.

Ganz ähnlich war es übrigens mit der Debatte, ob das Embryonenschutzgesetz rasch geändert werden solle oder nicht. Die zeitweilig herrschende Meinung in der öffentlichen Debatte, die bemerkenswerterweise vor allem in den Feuilletons geführt wurde, was der Gleichsetzung von herrschender Meinung und political correctness förderlich war, ließ jeden sich auf der rechten Seite wähnen, der sich gegen eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes aussprach. Und nun haben wir feststellen müssen, dass die Forschung an importierten embryonalen Stammzellen wohl nur durch eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes zu verhindern sein wird, und jetzt werden – noch ironischer – gerade von engagierten Gegnern der Forschung an embryonalen Stammzellen Überlegungen laut, die Adoption von überzähligen Embryonen zuzulassen, was eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes erfordert, das ja die Leihmutterschaft verbietet. Man sieht, auch in der öffentlichen Debatte verändern sich Frontverläufe manchmal sehr rasch.

Der Rückblick auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts führt mich zu einem weiteren Hinweis: Bei der Abtreibungsdebatte ging es um das Recht auf Leben. Dieses ist wie alle Grundrechte nicht absolut. Soweit wir seriös diskutiert haben, waren wir uns überwiegend einig, dass ungeborenes Leben geschützt werden müsse; gestritten haben wir um die Frage, wie dieser Schutz tatsächlich besser erreicht werden könne.

Die bioethische Debatte führen wir dagegen vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Sie ist kein Grund-recht, sondern Grundlage unserer staatlichen Gemeinschaft. Sie ist keinen Abwägungsprozessen zugänglich, aber gerade deshalb empfiehlt sich auch Zurückhaltung bei der Umsetzung in konkrete Rechtsnormen. Mir scheint, dass im Zusammenhang mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde der Hinweis auf Böckenfördes Voraussetzungen angebracht ist, Voraussetzungen, von denen der freiheitliche säkularisierte Staat lebt und die er selbst nicht garantieren kann. Das heißt nicht, auf eine Antwort auf die Frage zu verzichten, was Menschenwürde gebietet, aber es rät zur Zurückhaltung in Bezug auf die rechtlichen Konsequenzen, die zu ziehen sind. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist die Grundlage des Bekenntnisses zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten insgesamt. Kein einzelnes Grundrecht ist absolut. Die Grundrechte bedingen und beschränken sich gegenseitig, und die Forschungsfreiheit gehört dazu.

Wie sehr gerade der Drang nach Erkenntnis und Forschung den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, das wird mir in der gegenwärtigen Debatte vergleichsweise zu wenig bedacht. Das Einzigartige des Menschen gegenüber anderem Leben ist durch die Entschlüsselung des Genoms offenbar nicht zu erklären. Soweit ich verstanden habe, bietet auch die Evolutionsbiologie nicht eine klare Grenze, ab wann der Mensch Mensch geworden ist; die Erklärung, die sie für das Einzigartige des Menschen findet, hat mit der Suche nach Erkenntnis viel zu tun. Und das Einzigartige des Menschen ist die Grundlage der Menschenwürde. Der Konflikt zwischen Freiheit der Forschung und Menschenwürde, den viele in unserer aktuellen Debatte sehen, sollte wohl doch genauer hinterfragt werden. Menschenwürde als Grundlage staatlicher Gemeinschaft verlangt, dass jede Rechtsnorm sich daran messen lassen muss, aber gerade deshalb empfiehlt sich Zurückhaltung bei der Umsetzung in einzelne Rechtsnormen gewissermaßen im Verhältnis eins zu eins.

Wie schnell man auf Abwege kommen kann, wenn man zwischen Menschenwürde und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) nicht unterscheidet, das zeigt die Debatte um die Zulässigkeit der PID. Teilweise wird argumentiert, in vitro müsse erlaubt sein, was in vivo nicht verboten sei. Umgekehrt wird darauf verwiesen, dass bei der Abtreibung immer eine Konfliktsituation gegeben sei, also ein Abwägen zwischen verschiedenen Rechtsgütern oder über die Geeignetheit der Mittel zum Erreichen des Schutzzwecks. Dem gegenüber liege bei der PID mangels emotionaler Bindung eine Konfliktsituation überhaupt nicht vor, so dass die Zulassung der PID schnell zur Selektion führen könne.

Das Ergebnis, dass die verschmolzene Zelle in vitro sub specie Menschenwürde einen höheren rechtlichen Schutz genießen soll als Embryo oder Fötus im Mutterleib, die „nur“ ein Recht auf Leben haben, das der Abwägung mit dem Lebensrecht der Mutter unterworfen bleibt, dieses Ergebnis ist gleichwohl paradox. Von dieser Einschätzung hat mich auch die Rede von Bischoff Huber in der Konrad-Adenauer-Stiftung nicht abgebracht, der dazu gesagt hat, menschliche Schutzverpflichtung reiche eben nur so weit, wie es tatsächlich möglich sei – ultra posse nemo obligatur. Würden wir auf in vivo-Befruchtung generell verzichten, könnten wir in vitro Embryonen, konsequent zu Ende gedacht, besser schützen. Der Spiegel hat in der vergangenen Woche den „Baby-Boom aus  der Retorte“ zum Titel gemacht. Der Chemiker, der vor 50 Jahren ein Hormon zur Empfängnisverhütung entwickelt hat, sagt darin die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung vorher, indem die Menschen künftig „Spermien und Eier in einer Bank auf Eis legen und sich anschließend sterilisieren lassen.“

Ob wir eine solche Entwicklung wirklich aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde verpflichtend ableiten müssen, bleibt mir mehr als zweifelhaft. Also müssen wir zwischen Menschenwürde und Recht auf Leben genauer unterscheiden. Ich denke, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde gebietet, dass der Mensch Wert an sich bleiben muss und nicht zum Zweck werden darf. Das scheint mir klar. Was das bei einzelnen rechtlich zu regelnden Fragen bedeuten soll, muss dennoch hinterfragt werden. In der Geschichte wäre das Sezieren von Leichen lange als Verstoß gegen die Menschenwürde gewertet worden. Ich meine das überhaupt nicht ironisch. Auch heute hat die Menschenwürde Bedeutung auch für den Umgang mit dem verstorbenen Menschen und mit Leichen, und ich bin überzeugt, dass das richtig ist. Aber es gilt nicht grenzenlos. Und es zeigt, dass Menschenwürde und jeweiliger Erkenntnisstand auch in einer Beziehung stehen. Menschlicher Erkenntnisdrang, Forschertrieb wird heute auch dann nicht als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen, wenn sich die Forschung auf den Menschen selbst bezieht. Ganz unproblematisch muss das nicht sein. Aus der Schöpfungsgeschichte wissen wir, dass die Frucht vom Baum der Erkenntnis die Sünde enthält. Aber irdisches Leben ist erst nach der Vertreibung aus dem Paradies, ist also ohne Sünde nicht denkbar. Da bin ich wieder bei dem Punkt, wie sehr der Drang nach Erkenntnis das Einzigartige des Menschen gegenüber anderem Leben ausmacht. Freiheit der Forschung ist vielmehr Bestandteil der Menschenwürde als mögliche Bedrohung.
 
Jedenfalls verstehen wir – von gewissen Sekten abgesehen – heute anatomische Forschungen kaum noch als Verstoß gegen die Menschenwürde, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms auch nicht, nicht einmal die Organtransplantation. Weil Menschenwürde und jeweiliger Erkenntnisstand der Forschung in einer Beziehung zueinander stehen, neige ich dazu, Forschung im Zweifel nicht gesetzlich zu reglementieren. Artikel 5 Abs. 3 GG enthält übrigens auch keinen Regelungsvorbehalt für die Forschungsfreiheit. Ethisch gebunden bleibt, wie alle Grundrechte, auch die Freiheit menschlichen Erkenntnis- und Forschungsdrangs. Aber die ethische Abwägung, was zur Verbreiterung menschlichen Wissens geeignet und was ethisch vertretbar erscheint, die muss meines Erachtens eher in der Verantwortung der Forscher als durch den Gesetzgeber getroffen werden. Deshalb halte ich wenig davon, das wir als Gesetzgeber entscheiden, ob die Forschung an adulten Stammzellen oder die an embryonalen Stammzellen der richtige Weg ist.

Ich plädiere für dieses zurückhaltende Verständnis von gesetzlicher Normierung auch deshalb, weil wir internationale Bezüge – und europäische – nicht völlig aus unseren Debatten ausblenden sollten. Zum einen müssen wir unser Verständnis von Menschenwürde schon auch mit dem Verständnis anderer konfrontieren, wenn wir der Gefahr von Fundamentalismus begegnen wollen, weltweit und im übrigen auch im Sinne unseres Freiheitsverständnisses von Pluralismus im säkularisierten Freiheitsstaat. Weil jeder Mensch Träger von unveräußerlichen Menschenrechten ist, ist eine Ordnung von Menschenwürde und Freiheit nicht ohne Toleranz und Pluralismus möglich. Und zum anderen werden wir Erkenntnisse, Forschungsergebnisse anderer nutzen, auch wenn sie gegen unser Verständnis von Menschenwürde gewonnen sein sollten. Man muss das nicht überbewerten, aber gegen ein zu großes Maß an Rigorismus kann es schützen.

Im übrigen möchte ich auch noch das, was vielleicht in fünf oder zehn Jahren allgemeine Ansicht sein wird, nicht heute als Verstoß gegen die unantastbare Menschenwürde gewertet sehen. Viele argumentieren ja, man solle doch erst einmal an adulten Stammzellen forschen – vielleicht sei die Forschung an embryonalen Stammzellen gar nicht erforderlich. Dagegen ist wenig zu sagen – außer dass ich das nicht beurteilen kann. Aber wenn ich die Forschung an embryonalen Stammzellen als durch die Unantastbarkeit der Menschenwürde ausgeschlossen ansehen würde, dann darf ich nicht sagen, versuchen wir es doch erst einmal mit adulten Stammzellen und hinterher schauen wir mal.

Das Argument vom Dammbruch wird viel gebraucht, zum einen in dem Sinne, dass etwas wegen möglicherweise unabsehbaren Weiterungen nicht zulässig sein dürfe. Und auch umgekehrt, indem etwa gesagt wird, nachdem man die In-Vitro-Fertilisation zugelassen habe, könne man die Zulässigkeit von PID nicht mehr ausschließen. Mich überzeugt das eine so wenig wie das andere. Ich finde, dass in der ethischen Debatte uns der „überschrittene Rubikon“ niemals wirklich entlasten kann. Wir müssen immer unsere aktuell anstehenden Entscheidungen abwägen, ethisch begründen und vertreten. Auch aus diesem Grund bin ich gegen Übertreibungen bei konkretisierenden Ableitungen aus Art. 1 GG. Mir sind keine Beispiele bekannt, dass in der Geschichte Erkenntnisse nicht allgemein genutzt wurden, auch wenn sie auf noch so fragwürdige Weise einst gewonnen wurden. Niemand bestreitet heute,  dass in vitro gezeugte Kinder genauso unter Menschenwürde fallen wie die in vivo gezeugten Kinder, obwohl gegen die In-Vitro-Fertilisation auch Einwände aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde begründet wurden. Und jetzt erstaunt mich schon, dass auf die Frage, was mit den sogenannten überzähligen Embryonen geschehen solle, unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung von Menschenwürde gerade von engagierten Gegnern der Forschung an embryonalen Stammzellen die Zulässigkeit der Leihmutterschaft erwogen wird, auch wenn man das mit „Adoption“ freundlicher ausdrückt.

Der Hinweis auf die internationale Diskussion erlaubt mir auch die Bemerkung, dass die vielfach gelobte Entscheidung von Präsident Bush sich nur darauf bezieht, was in den USA an Forschung staatlich finanziert, nicht aber, was durch den Gesetzgeber erlaubt oder verboten werden soll. Wenn der Gesetzgeber bei der Begrenzung von Forschung zurückhaltend sein sollte, auch weil man die Ergebnisse denknotwendig noch nicht kennen kann, dann führt mich das zu dem nächsten Punkt, nämlich dass der Gesetzgeber nicht wissenschaftlichen Erkenntnisstand definieren sollte, sondern sich auf die Regelung von Rechtsfolgen oder Normen beschränken sollte. Beim Transplantationsgesetz haben wir auf die gesetzliche Definition des Todeszeitpunktes verzichtet und uns darauf beschränkt, die Organentnahme ab dem Zeitpunkt zu erlauben, zu dem keine Hirnströme mehr gemessen werden können. Das scheint mir eine weise Entscheidung. Beim Embryonenschutzgesetz haben wir noch den Fehler gemacht, den Beginn des Lebens mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle definieren zu wollen. Notwendig für die rechtliche Regelung des Embryonenschutzgesetzes war dies nicht, und das Bundesverfassungsgericht war in seiner Rechtsprechung zum Schutz ungeborenen Lebens klüger.

Ich habe mir viel Widerspruch eingehandelt mit meiner Bemerkung, dass ich mir menschliches Leben in seiner Entstehung nicht ohne die Mutter denken kann, obwohl Theologen beider christlichen Konfessionen diese Auffassung ebenso vertreten wie andere monotheistische Weltreligionen. Dabei stimmen mir Biologen zu, und unsere bürgerliche Rechtsordnung übrigens auch.

Nehmen wir an, es gelänge – was ich nicht hoffe – in vitro etwas autonom – jedenfalls ohne Bezug zu einer Mutter – Lebensfähiges zu erzeugen: wollen wir einem solchen Homunculus dann wirklich Menschenwürde und Gottesebenbildlichkeit zuerkennen? Ich möchte das eine nicht, und das andere auch nicht. Im übrigen bin ich von solchen Horrorvorstellungen ziemlich wenig geplagt, weil die seriösen Forscher das nicht für realistisch halten, vor allem aber, weil ich die oft auch von mir gestellte Frage „Darf der Mensch alles,  was er kann?“ inzwischen eher als Ausdruck von Hybris ansehe, weil sie unterstellt, dass der Mensch alles könnte. Ich glaube nicht, dass der Mensch Gott wirklich ins Handwerk pfuschen könnte, und mein Verständnis von der Geschöpflichkeit des Menschen ist gerade nicht, dass der Mensch großzügig und freiwillig darauf verzichtet, Gott ins Handwerk zu pfuschen. So klein ist Gott nicht, dass er auf diese menschliche Großzügigkeit angewiesen wäre.

Für unser Thema folgere ich, dass bei der unmittelbaren Ableitung von rechtlichen Regelungen aus dem Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde als Grundlage unserer staatlichen Gemeinschaft eher Zurückhaltung geboten ist, dass wir auf die gesetzliche Definition von naturwissenschaftlichem Erkenntnisstand wie etwa Beginn und Ende des Lebens verzichten und uns auf die notwendige Regelung von Rechtsfolgen beschränken sollten. Die gebotene inhaltliche Begrenzung von Grundrechten, zu denen auch die Forschungsfreiheit gehört, muss auch unter der Verpflichtung der Menschenwürde möglichst zurückhaltend erfolgen, zumal sich die Menschenwürde in den Grundrechten gerade konkretisiert.

Ich würde der Forschung immer empfehlen, den ethisch weniger problematischen Weg im Zweifel vorzuziehen, würde staatliche Förderung darauf konzentrieren und beschränken, würde aber bei der rechtlichen Vorgabe für Forschungswege und - methoden äußerste Zurückhaltung üben.

Nach alledem halte ich kurzfristig, dass heißt in dem zunehmend vom Wahlkampf überlagerten verbleibenden Rest dieser Legislaturperiode, eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes nicht für geboten – nicht um ein Verbot für den Import embryonaler Stammzellen durchzusetzen und nicht um die Adoption überzähliger Embryonen zuzulassen. Wenn wir uns in der nächsten Legislaturperiode an eine Novellierung machen, sollten wir entsprechend der Systematik beim Transplantationsgesetz darauf verzichten, den Beginn menschlichen Lebens gesetzlich definieren zu wollen. Angesichts vorhandener Stammzelllinien und sogenannter „überzähliger“ Embryonen sollten wir derzeit dabei bleiben, die Erzeugung menschlicher Embryonen zu anderen Zwecken als dem der Fortpflanzung verboten zu halten, und wir sollten für die Forschung an Stammzellen und an überzähligen Embryonen eine Genehmigungspflicht einführen, um institutionelle Vorkehrungen für möglichst sorgfältige Abwägung zu schaffen. Die Forschung an importierten Stammzellen zu erlauben und beispielsweise zugleich eine Antwort darauf zu verweigern, was mit den bei uns vorhandenen überzähligen Embryonen geschehen soll, das scheint mir dagegen dem hohen Ton mancher aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde abgeleiteten Position nicht gerecht zu werden.

Bei der PID bin ich dafür, alles was in Richtung Selektion gehen könnte, so gut wie irgend möglich zu unterbinden. Gleichwohl werden wir um Antworten auf die Frage strafrechtlicher Konsequenzen so wenig herumkommen wie in der Abtreibungsdebatte. Mit letzterer habe ich mehr als 25 Jahre Erfahrung, nicht zuletzt auch in meiner eigenen evangelischen Kirche. Der politische Streit um Strafrechtsnormen hat am Ende wenig erreicht. Die Einsicht ist mir nicht leicht gefallen, aber vermutlich erreichen wir mehr für die Achtung vor dem Leben, wenn wir potentielle Eltern in konkreten Notsituationen nicht mit der Strafdrohung allein lassen. So könnte eine Zulassung der PID in Einzelfällen unter strengen Voraussetzungen und Kontrollen – ungefähr nach dem Muster einer Indikationslösung bei der Abtreibung – am Ende der bessere Weg sein.

Gerade weil Achtung und Schutz der unantastbaren Menschenwürde Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist, kann niemand sich mit der Formulierung von strafbewehrten Verboten allein begnügen. Nicht alles, was man schwarz auf weiß zu besitzen glaubt, kann man getrost nach Hause tragen. Ethische Begründung für konkretes Handeln und Entscheiden bleibt immerwährendes Gebot und Notwendigkeit.

Moral ist für die Fragestellung unserer Debatte vielleicht nicht der richtige Begriff; aber ob es nun ethische Gebote oder direkt der Schutz der Menschenwürde als Grundlage unserer staatlich verfassten Gemeinschaft sei, in jedem Fall ist die Ernsthaftigkeit der Begründung für Gesetzgeber, Forschung, öffentliche Debatte wichtiger als die rechtliche Konkretisierung in allein gültige Glaubenswahrheiten. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Achtung vor dem menschlichen Leben ist durch Gesetze allein nicht zu gewährleisten – der Verlauf der Abtreibungsdebatte in Jahrzehnten belegt das. Gewissensbindung jedes einzelnen und der öffentlichen Debatte insgesamt kann auch schützende Wirkung entfalten. Schließlich geht es bei den verschiedenen Grundrechtstheorien immer auch um das Verhältnis von Verfassungsinterpretation und demokratisch legitimierter Gesetzgebung, was meines Erachtens zusätzlich dafür spricht, dass sich Verfassungsrechtsprechung und Gesetzgebung bei der Aufstellung von verbindlichen Konkretisierungen aus allgemeinen Verfassungsprinzipien eher zurückhalten sollten. Eine Gruppe evangelischer Ethiker hat dieser Tage in einer Stellungnahme dafür plädiert, einzelne, eng gefasste moralische Standpunkte nicht zur Grundlage einer pluralistischen staatlichen Rechtsordnung zu machen. Rechtsregelungen seien so zu gestalten, dass sie Entscheidungen gemäß unterschiedlicher moralischer Überzeugungen offen halten. Das sei auch die Konsequenz aus der Auffassung, dass ethische Konflikte in der Rechtsordnung befriedet werden können. Mir scheint, dass wir auf diese Weise dem Spannungsverhältnis von Recht und Moral besser gerecht werden als mit der aktuellen Empfehlung beider Kirchenleitungen an die Mitglieder des Deutschen Bundestages.