Mit Spannungen leben

4. Homosexuelle Menschen in der Kirche

4.1 Homosexuelle Prägung, homosexuelle Praxis und christlicher Glaube

Die in diesem Text gebrauchte Redewendung "homosexuelle Prägung" läßt bewußt offen, ob und in welchen Fällen es sich um eine nur überwiegende oder um eine ausschließliche, um eine angeborene und/oder um eine im Verlauf der Lebensgeschichte erworbene Prägung handelt. Das wird auch dem derzeitigen Forschungsstand am ehesten gerecht, demzufolge die Fragen nach Bisexualität und den Ursachen von Homosexualität nicht letztlich geklärt sind. Für die homosexuell geprägten Menschen, die ihre Prägung als Belastung empfinden, ist die Frage nach den Entstehungsbedingungen allerdings insofern relevant, als von ihrer Beantwortung die Möglichkeiten und Chancen einer Veränderung mit abhängen.

Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in der Gesellschaft im allgemeinen und in der evangelischen Kirche im besonderen werden dadurch erheblich verschärft und belastet, daß in den einander gegenüberstehenden Gruppierungen und Verbänden zumindest tendenziell zwei miteinander unvereinbare Thesen vertreten werden:

  • Homosexualität ist eine Prägung, die unveränderbar ist und auch keiner Korrektur bedarf. Veränderungsversuche behindern oder verhindern die notwendige Selbstannahme. Sie führen nur dazu, daß Menschen deformiert oder gar gebrochen werden.
          
  • Homosexualität ist eine Prägung, die korrigierbar ist und der Korrektur bedarf. Veränderungsversuche erfordern große Geduld und Beharrlichkeit. Veränderung ist aber möglich und führt zur Befreiung und Selbstfindung.     

Jede dieser Gruppen kann für ihre These auf Beispiele und Belege verweisen, die jedoch nicht beweisen können, daß diese These allgemeingültig ist. Wenn es im Blick auf die Ursachen tatsächlich kein Entweder-oder gibt, dann ist es nicht überraschend, daß dies auch im Blick auf die Möglichkeit und Wünschbarkeit von Veränderungsprozessen gilt. An den beiden konträren Thesen wäre dann "nur" ihr Ausschließlichkeitsanspruch zu beanstanden.19)

Wenn es gelänge, auf diese Ausschließlichkeitsansprüche zu verzichten und das - zumindest partielle - Recht der jeweils entgegengesetzten These anzuerkennen, könnten die innerkirchlichen Auseinandersetzungen erheblich an Schärfe verlieren und an Sachlichkeit gewinnen. Dies stellt freilich an beide Seiten hohe Anforderungen, weil es um Grundsatzpositionen geht, von denen das jeweilige eigene Selbstverständnis wesentlich mitbestimmt ist.

Für das Leben und Zusammenleben auch in den christlichen Gemeinden und Kirchen ergeben sich aus der Überwindung dieser Alternative mehrere weitreichende Konsequenzen:

  • Die verschiedenen homosexuellen Menschen, die ihre eigene Prägung entweder als unveränderbare Veranlagung oder als lebensgeschichtlich entstandene Entwicklungsstörung wahrnehmen und verstehen, können sich gegenseitig in ihren jeweiligen Selbstwahrnehmungen und Selbstdeutungen freigeben und akzeptieren, ohne auf einer einheitlichen (nämlich der eigenen) für alle gültigen Sicht beharren zu müssen.
          
  • Die anderen Mitglieder der Kirchen und ihrer Leitungen haben keine Möglichkeit, Veranlassung oder gar Verpflichtung, generell oder im Blick auf irgendeinen Einzelfall festzustellen, ob es sich um eine unveränderbare oder veränderbare, um eine korrekturbedürftige oder anzunehmende Prägung handelt. Sie können und müssen dies der Selbstprüfung und Gewissensentscheidung jedes einzelnen überlassen. Sie müssen aber, wo dies nötig ist, für den Schutz und die Respektierung solcher Gewissensentscheidungen eintreten. Das heißt, sie dürfen es nicht unwidersprochen lassen, wenn homosexuell geprägte Menschen unter Druck gesetzt werden, weil sie ihre Prägung annehmen oder weil sie für sich nach einer Veränderungsmöglichkeit (aus dem Glauben) suchen.

4.2 Besondere Erwartungen und Aufgaben

Homosexuell geprägte Menschen haben Anspruch auf seelsorgerliche Beratung und Begleitung. Das ergibt sich auch aus den besonderen äußeren und inneren Belastungen, mit denen sie leben und die sie bewältigen müssen. Insbesondere angesichts der Ablehnung, die sie häufig in Gesellschaft, Beruf, Familie, aber auch in der Kirche erleben, ist es wichtig, daß sie Erfahrungen der Solidarität und des Akzeptiertseins machen. Dazu gehört die Möglichkeit, sich wenigstens einem Menschen ohne Angst anvertrauen und mit ihm offen reden zu können. Hier liegt eine vordringliche Aufgabe für die christlichen Gemeinden und Kirchen.20)

Das eben Gesagte würde aber mißverstanden und möglicherweise einen gegenteiligen Effekt hervorrufen, wenn daraus abgeleitet würde, homosexuell geprägte Menschen seien in besonderem Maße "Fälle" oder "Objekte" kirchlicher Zuwendung und seelsorgerlicher Betreuung. Echte Seelsorge wird nur in dem Maß gelingen, in dem die Ansprechpartner ihr eigenes Betroffensein von der Sexualität erkennen und anerkennen. Der oben erwähnte Anspruch auf seelsorgerliche Beratung und Begleitung ist kein Anspruch der Kirchen oder ihrer Amsträger, sondern ein Anspruch homosexuell geprägter Menschen an die Kirchen und die in ihnen tätigen Menschen. Ob von diesem Anspruch Gebrauch gemacht wird, muß - wie bei anderen Menschen auch - freie Entscheidung der homosexuellen Menschen selbst sein und bleiben.

Diese Respektierung ihrer Subjekthaftigkeit auch im Verhältnis zur kirchlichen Beratung und Begleitung ist selbst ein Beitrag zur Achtung der Menschenwürde und ein Schritt auf dem Weg zur Entkrampfung und Normalisierung des Verhältnisses "der Gesellschaft" und "der Kirche" zu ihren homosexuellen Mitgliedern.

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