Mut zu Reformen

Manfred Kock

, „Treffpunkt Gendarmenmarkt“ in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Mut zu Reformen – das ist eigentlich eine paradoxe Parole. Denn Reformen versprechen doch eine Verbesserung der gegenwärtigen Lage. Wenn aber etwas nur besser werden soll – wozu braucht es dann Mut? Eine Politik der Reformen – das müsste doch geradezu attraktiv und populär sein. Etwa so wie in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als man mit der Reformparole auf den Lippen zum Wahlerfolg beitragen konnte. Und heute? Da gleicht die Politik fast schon dem Mikado-Spiel: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren … Das kann sogar soweit gehen, dass die Spitzenkandidaten großer Parteien zwar ungefähr wissen, was zu geschehen hätte. Aber keiner traut es sich zu, darüber als erster zu reden. Darum sind auch unsere Wahlkämpfe immer weniger ein Wettstreit um bessere, konkretere Lösungen für politische Herausforderungen.

Politik braucht Mut zu Reformen. Sie muss die Angst vor den Bürgern überwinden. Sie muss ihre Angst vor dem politischen Konkurrenten überwinden, der die Ängste der Bürger ausnutzen könnte. Warum ist dies so? Weil sich die Bedeutung des Begriffs „Reform“ radikal verändert, sich gewissermaßen um 180 Grad gedreht hat.

In der Aufbauphase unserer Bundesrepublik und bis in die Mitte jener 70er Jahre, bis zu den ersten beiden Ölkrisen (um auch auf die externen Gründe einmal hinzuweisen), verstanden wir unter Reformen zweierlei: erstens den Abbau der gesetzlichen Hindernisse der persönlichen Lebensgestaltung, also die Liberalisierung unserer Gesellschaft; zweitens den Aufbau unserer gesetzlichen sozialen Ansprüche, die Verdichtung der sozialen Netze und der staatlichen Daseinsvorsorge. Die Liberalisierung der Gesellschaft erfährt jedoch ihre Grenzen ebenso wie der Ausbau der staatlichen Daseinsvorsorge die Grenzen der Finanzierbarkeit erreicht hat. Diese Grenze ist, wie jedermann erkennt, inzwischen schon überschritten. Das spricht weder gegen eine bestimmte soziale Leistung im Einzelnen – und schon gar nicht gegen den Sozialstaat insgesamt. Aber wenn das Ensemble aller Ansprüche an den Staat und an die sozialen Sicherungssysteme von der Produktivität der Volkswirtschaft nicht mehr gedeckt werden können oder wenn sie gar zur Belastung der Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb werden, dann – um es einmal so auszudrücken – gefährden die Mittel den Zweck. Dann sind Reformen überfällig. Und zwar Reformen, die da und dort mit Verzicht einhergehen. Die Menschen müssen lernen, auf einzelne lieb oder bequem gewordene Ansprüche zu verzichten – und zwar nicht, weil der Sozialstaat demontiert werden soll, sondern weil er erhalten werden muss.

Aber das sagen Sie einmal dem, der ganz konkret, und hier und heute, etwas her- oder aufgeben soll. Die Begründung, das sei nötig, um die Zukunft des Sozialstaats zu sichern, wirkt doch recht abstrakt. Darum erfordert es Mut, Reformen nicht nur anzukündigen, sondern auch konkrete Schritte zu beschließen. Das verlangt zudem Vertrauen: Vertrauen in die Fähigkeit der Politik, ein neues, allgemeines Versprechen zu halten, wo sie doch gerade bisher geltende Zusagen zurücknehmen muss, zum Teil wenigstens.

Mut und Vertrauen: Der Ökonom kennt dafür den Begriff Kredit. Solider Kredit, das ist nicht das windige Leben auf Pump. Kredit, das heißt: gesicherte, vertrauenswürdige Erwartung auf die Zukunft. Wenn einem das Geld knapp wird, braucht man umso mehr Vertrauen, um in der Zukunft handlungsfähig zu bleiben. Mut zu Reformen – das heißt nichts anderes als dieses: Die Politik muss sozusagen „mit leeren Händen“ um Vertrauen werben. Das ist angesichts einer Staatsquote um und über die 50 Prozent vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt, aber es geht um Vertrauen, dass es später nur wieder aufwärts gehen kann, wenn man jetzt auf einen Teil der Ansprüche verzichtet.

Ich fasse zusammen: Früher hieß Reform: Alle bekommen mehr. Es wird besser. Heute aber heißt Reform: Allen muss etwas genommen werden. Nur durch Verzicht wird es besser. Solches politisch zu vertreten und durchzusetzen kostet Mut, Mut und Vertrauen in die Zukunft.

Mut und Vertrauen in die Zukunft: An dieser Stelle, kann deutlich werden, weshalb die Kirchen in dieser Lage etwas beizusteuern haben, obwohl sie doch selber genauso mit dem Sparzwang zu kämpfen haben. Die Kirchen verfügen nicht nur über Vermögen – in viel geringerem Umfang übrigens, als bisweilen vermutet wird -, die Kirchen verwalten auch einen Schatz von Erfahrungen. Dazu gehört in erster Linie das Zukunftsvertrauen; sie haben gelernt, zwischen Selbstvertrauen und Gottvertrauen zu unterscheiden.

In einer der uralten Vertrauensgeschichten der Bibel sagt Gott einem Mann, dessen eigene Zukunftserwartung nach menschlichem Ermessen minimal war:

Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. ( 1. Mose 12 )

Das ich dir eines Tages zeigen will! Das wird dem Abraham und seiner Frau Sarah angesagt und zugemutet. Sie sollen alle patriotischen und familiären Verpflichtungen stehen und liegen lassen – auf Kredit, auf Vertrauen Neuland betreten. Und sie tun es ohne Murren.

Noch an eine andere Erzählung will ich erinnern: Mose soll sein Volk auf eine lange Wanderschaft führen, weg von den bequemen Fleischtöpfen Ägyptens – deren Daseins sichernde Funktion war allerdings nur um den Preis der Freiheit zu haben. In dieser Geschichte freilich heißt es: „Das Volk aber murrte …“, denn der Weg durch die Wüste ist lang und entbehrungsreich.

Nun lassen sich religiöse Erzählungen keineswegs direkt in Politik übersetzen, schon gar nicht im Verhältnis eins zu eins. Auch soll ja keiner unserer führenden Politiker zum Stamm-Vater (oder zur Stamm-Mutter) werden oder gar unser Volk zum Auswandern in ferne Lande bewegen. Aber auf das Experiment, dass ein Gemeinwesen auch dadurch gedeihen kann, dass es sich aus dem gewohnten Gehäuse des Status quo herausbewegt, kann man sich leichter einlassen, wenn man solche Geschichten kennt und wenn man von daher weiß, dass sich die Gegenwart eben nicht im Verhältnis eins zu eins in Zukunft übersetzen lässt, erst recht dann nicht, wenn man sie im Grunde schon heute nicht mehr bezahlen kann. Jedenfalls sollten doch Christen in solchen Situationen zu denen zählen, die immer wieder einen neuen Aufbruch wagen, auch wenn sie manches Gewohnte hinter sich lassen müssen. Leben als Christ – das heißt eben nicht nur religiös, sondern auch politisch und sozial: Leben auf Kredit. Aber nur in dem positiven Sinne: auf Vertrauen hin!

Mut zu Reformen: Diese Parole ist in unserer Situation kein Ruf in ein völlig unbekanntes Land. Denn niemand kann ernsthaft den Sozialstaat und die soziale Marktwirtschaft abschaffen wollen zugunsten eines gesellschaftlichen Systems, das uns erst noch jemand zeigen will. In Wirklichkeit geht es gar nicht um einen Exodus in vollkommen unbekanntes Gelände, sondern um die Sicherung des uns allen anvertrauten Gemeinwohls in Gestalt des uns durchaus vertrauten und in vieler Hinsicht grundsätzlich bewährten Sozialstaats. Es geht also nicht um eine unbestimmte Reform mit vagen Zielen. Es geht um nichts weniger als um eine Reformation des Sozialen, und das ist mehr als eine Rückkehr zu einem bezahlbaren Sozialstaat. Wir müssen einen von Grund auf erneuerten Zustand erreichen, in dem das Gemeinwesen die Verpflichtung zur Daseinsvorsorge finanzieren kann und dabei das Gebot der Verantwortung gegenüber den Schwachen wahrt.

Ich habe mein Thema im Rückgriff auf die prägende Erfahrung meiner eigenen Tradition variiert: Mut zur Reformation, zur Reformation des Sozialstaats!

  1. Wenn es heute abend um diesen Mut zur Reformation geht, dann möchte ich die der Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergeschenkte Möglichkeit nutzen, in den öffentlichen Raum hineinzuwirken – und um Vertrauen auf die Zukunft werben, um Kredit für eine mutige Politik. Wir brauchen keine medial aufgeschäumten Parolen, sondern seitens unserer gewählten Volksvertreter den schlichten Mut zur Wahrheit und das Zutrauen in die Einsichtsfähigkeit mündiger Bürgerinnen und Bürger.

    Dies hatte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland im Blick, als er sich im Jahre 1997 zusammen mit der Deutschen Bischofskonferenz unter der Überschrift „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland äußerte. Damals ging es darum, Tendenzen entgegenzutreten, die den Gedanken einer freien Marktwirtschaft zu Lasten der sozialen Komponenten überbetonten. Von kirchlicher Seite musste die soziale Komponente der sozialen Marktwirtschaft in Erinnerung gerufen werden: Sozialer Ausgleich dient dem Gemeinwohl. Auch heute ist noch richtig, was damals betont wurde: Solidarität und Gerechtigkeit gehören zum Kernstück jeder biblischen und christlichen Ethik. Aber auch der Satz der „Hinführung“ zum Gemeinsamen Wort hat unveränderte Aktualität: „Wer notwendige Reformen aufschiebt oder versäumt, steuert über kurz oder lang in eine Existenz bedrohende Krise“ (vgl. Gemeinsames Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage Nr. 1). Dies gilt heute noch mehr als vor sechs Jahren, denn wirklich durchgreifende Reformen sind in wichtigen Politikfeldern noch nicht erfolgt: Bei der Alterssicherung nicht, und im Gesundheitswesen nicht.
     
  2. An sich ist dieses Reformdefizit merkwürdig, leben wir doch in einer Welt, die ansonsten stets „das Neue begrüßt und seine Erscheinungen privilegiert“ (Thomas Macho, Diktatur des Neuen?, NZZ vom 21./22. Dezember 2002, S. 49). Aber bei der jetzt anstehenden Reformation geht es um Besitzstände im Bereich der sozialen Sicherung. Die sollen in den Augen vieler Betroffener auf jeden Fall gewahrt bleiben. Eine mehr als paradoxe Vorbedingung, die das Scheitern jeder Reform vorwegnimmt und selbst bei noch so großem Anlauf nur kleinste Hupfer anstelle des großen Sprunges zulässt.
     
    Im Gemeinsamen Wort hatten beide Kirchen bereits beklagt, dass die Reformfähigkeit darunter leidet, dass Besitzstandswahrung und Strukturkonservatismus weit verbreitet sind (Gemeinsames Wort Nr. 10).

    Es wäre aber unverantwortlich, die erforderlichen Strukturreformen hinauszuschieben, bis die sozialen Sicherungssysteme zusammenbrechen. Darum ist heute und nicht erst morgen Handeln angesagt. Denn die gebotenen Änderungen haben ihren Grund in Entwicklungen, die sich weitgehend einer Steuerung entziehen: Die demographische Entwicklung und der medizinische Fortschritt, der Letztere ist sogar hoch erwünscht.
     
  3. Die demographische Entwicklung moderner Gesellschaften führt überall dazu, dass sich das Zahlenverhältnis zwischen älteren und jüngeren Personen im erwerbsfähigen Alter massiv verändert. Dazu gehört die Verlängerung der Lebenserwartung, die mit einer nachhaltigen Verkürzung des Erwerbslebens einhergeht (vgl. Peter Gross, Demographische Paradoxien, NZZ vom 23./24. Oktober 1994, S. 33). Zudem führen die Bedürfnisse vieler nach einer unabhängigen Lebensgestaltung zu einem dramatischen Rückgang der Kinderzahlen. Je älter eine Bevölkerung ist, desto höher sind naturgemäß die Pro-Kopf-Aufwendungen für die Altersversorgung.
     
    Es liegt auf der Hand, dass man dieses Problem vordergründig nur bewältigen kann, wenn man entweder das Renteneintrittsalter hinausschiebt oder die Rentenhöhe herabsetzt. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat bereits in der vergangenen Legislaturperiode in ihrer Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens kritisiert, dass die Anpassungslasten vor allem den Jüngeren aufgeladen und der Rentenbestand weitgehend verschont wird. Da die demographischen Veränderungen, die die Finanzierung der Rentenversicherung in Schwierigkeiten bringen, bereits heute spürbar sind, trat die EKD dafür ein, den Faktor der demographischen Veränderungen bei der Rentenformel so früh wie möglich wirksam werden zu lassen. Dies gilt auch heute noch.
     
  4. Bei einer immer älter werdenden Bevölkerung steigen auch die Aufwendungen für das Gesundheitssystem. Die beiden Kirchen haben bereits in ihrem Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage auf den im Gesundheitswesen bestehenden Reformbedarf hingewiesen. Gleichzeitig haben sie aber auch vor solchen gesetzlichen Eingriffen gewarnt, die „einem Entsolidarisierungsprozess Vorschub leisten und Einkommensschwache in unvertretbarer Weise benachteiligen“ (vgl. Gemeinsames Wort, Abschnitt Nr. 185).

    Damit ist das Problem beschrieben: Es muss zu Strukturreformen kommen, damit das Gesundheitswesen in Deutschland dauerhaft stabilisiert wird und dadurch zur Ruhe kommt. Dies muss auf einem Wege geschehen, der die Eigenverantwortung stärkt, gleichzeitig aber nicht aus dem Auge verliert, dass es Kranke gibt, die in besonderer Weise auf die Solidarität der Gemeinschaft angewiesen sind. Ich denke dabei an die chronisch Kranken.

    Der Rat der EKD hat sich im vergangenen Jahr auf der Grundlage einer Ausarbeitung der Kammer für soziale Ordnung in die Diskussion eingeschaltet und unter der Überschrift „Solidarität und Wettbewerb“ für mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen plädiert. Es heißt dort: Mitverantwortlichkeit "kann ... nur durch Eigenverantwortlichkeit jedes einzelnen Mitglieds der Solidargemeinschaft zum Tragen kommen – dies vor allem bei knapper werdenden Ressourcen“ (Abschnitt 6 der Stellungnahme). Gleichzeitig wird unter Hinweis auf den Satz aus dem Brief des Paulus an die Galater „Einer trage des anderen Last“ darauf hingewiesen, dass ein ethisches Postulat eines solidarischen Sicherungssystems durchaus bedeuten kann, „auf die Inanspruchnahme von Leistungen, die man auch selbst erbringen kann, zu verzichten, um anderen, die darauf angewiesen sind, den Zugang auf Dauer offen zu halten“ (Abschnitt 5 der Stellungnahme). Wenn alle Versicherten nur darauf aus sind, jeweils für sich ein Maximum an Leistungen aus dem System herauszuholen, ist der Kollaps vorprogrammiert. Daher dürfen Zuzahlungen und Selbstbeteiligung, die finanzielle Eigeninteressen des Versicherten ins Spiel bringen, nicht unter ein Denkverbot gestellt werden. Aber differenziert sollte es schon geschehen: Chronisch Kranke, die sehr viel mehr Leistungen benötigen als der Durchschnittsversicherte, müssen von derartigen Regelungen ausgenommen werden.

    Eigenbeteiligung ist aber nur ein Mittel, um einem Ausufern der Gesundheitsausgaben gegenzusteuern. In der Stellungnahme des Rates der EKD zum Gesundheitswesen wird auf gravierende institutionelle Mängel des Gesundheitswesens aufmerksam gemacht. Es werden u.a. genannt: Regionalkartelle von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen sowie der unzureichende Leistungs- und Konditionenwettbewerb zwischen den Krankenkassen (Abschnitt 16 der Stellungnahme).
    Damit wird eine jahrzehntelang für unverzichtbare Säule des Gesundheitswesens zur Diskussion gestellt.

    Bewegung kann in das Gesundheitswesen kommen, wenn der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen gefördert wird. Unterschiedliche im Leistungsangebot und in der Beitragsgestaltung müssen zugelassen werden. Zwar muss eine zureichende Standardversorgung für jeden sichergestellt sein. Ich wüsste aber nicht, was aus sozialethischer Sicht dagegen eingewandt werden kann, wenn den Kassen die Möglichkeit eingeräumt wird, denjenigen einen niedrigeren Beitragssatz zu gewähren, die damit einverstanden sind, dass die freie Wahl des Arztes oder des Krankenhauses eingeschränkt wird. Selbstbehaltmodelle und die Möglichkeit von Beitragsrückerstattungen bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen sollte man ebenfalls unvoreingenommen prüfen.

    Solidarität und Eigenverantwortung müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Das Element der Solidarität kann bei uns dadurch verstärkt werden, dass alle Bürgerinnen und Bürger in die Gesetzliche Krankenversicherung einbezogen werden. Im Augenblick ist diese Solidarität dadurch begrenzt, dass Beamte, Selbständige, gut verdienende Arbeiter und Angestellte in der Privaten Krankenversicherung versichert sein können. Sie nehmen an dem Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken nicht in ausreichendem Maße teil. Die Eigenverantwortung der Patienten auf der anderen Seite gilt es beispielsweise dadurch zu stützen, dass ihnen bewusst gemacht wird, welche Kosten sie verursachen.

    Aber auch die Anbieter von Gesundheitsleistungen müssen in die Pflicht genommen werden, um die vorhandenen Ressourcen effizienter einzusetzen. Dazu gehört eine unabhängige Qualitätskontrolle. Von sachkundiger Seite wird darauf hingewiesen, dass die Behandlung chronisch Kranker deutlich verbessert werden könnte, wenn es „Qualitätszirkel von Ärzten, regelmäßige Fortbildungen und eine Spezialisierung auf bestimmte Leistungsarten“ gäbe (vgl. Joachim Wiemeyer, An Haupt und Gliedern – Eckpunkte für eine umfassende Gesundheitsreform, Herder-Korrespondenz Nr. 12/2002, S. 605 ff. (S. 606)).
     
  5. Der dritte Bereich, in dem hoher Reformbedarf besteht, ist die Arbeitsmarktpolitik. In den letzten Jahren – ja, ich muss leider sagen: Jahrzehnten – haben die Kirchen immer wieder vergeblich an die politisch Verantwortlichen appelliert, Entscheidendes zum Abbau der unverantwortlich hohen Arbeitslosigkeit zu tun. Einiges ist geschehen, allerdings nur mit einem begrenzten Erfolg. Auch die Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission – so verdienstvoll die Vorschläge im einzelnen sind – wird keinen durchschlagenden Erfolg bringen, solange man sich nicht zutraut, beispielsweise für Neueinstellungen eine Lockerung des Kündigungsschutzes vorzunehmen und Anreizstrukturen zu schaffen, die deklarierte Arbeit finanziell attraktiver machen als Arbeitslosigkeit. Das Thema „produktivitätsgerechte Lohnkosten für Geringqualifizierte“ darf ebenfalls nicht ausgeklammert werden.

    Dabei wird man nicht erwarten dürfen, dass einzelne Maßnahmen und Regelungen an sich schon die Hauptimpulse für den Abbau der Arbeitslosigkeit sein können. Ungleich wichtiger sind nachhaltige Entscheidungen jedes einzelnen Unternehmers. Es muss nicht die naive Argumentation aufrechterhalten werden, wonach Wachstum automatisch Arbeitsplätze schafft. Die Wirtschaft braucht eine Umkehr dieser Unternehmensphilosophie. Es müssen Arbeitsplätze geschaffen werden, um Wachstum zu bilden. Einen hohen Stellenwert haben dabei Anreizstrukturen. Sie müssen richtig gesetzt werden. Es gilt, bei der Schaffung gesetzlicher Regelungen das zu vermeiden, was der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft Horst Siebert den Kobra-Effekt nennt: „Zu Zeiten der englischen Kolonialverwaltung soll es in Indien einmal zu viele Kobras gegeben haben. Um der Plage Herr zu werden, setzte der Gouverneur eine Prämie pro abgelieferten Kobra-Kopf aus. Die Inder sollten also Kobras einfangen. Wie reagierten sie? Sie züchteten Kobras, um die Prämie zu kassieren.“ (Horst Siebert, Der Kobra-Effekt, 2002, S. 11)

    Ich denke, es ist nicht die Aufgabe der Kirchen, Vorschläge im Detail zu machen. Damit würden sie sich auch selbst überfordern. Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen; sie wollen Politik möglich machen. Heute muss es darum gehen, Mut zu Reformen zu machen. Mut zu Reformen hat nur derjenige, der etwas gestalten will. Dieser Auftrag liegt bei denjenigen, die dazu ein Mandat von den Wählerinnen und Wählern haben, und bei denen, die in der Wirtschaft, in den Verbänden und Gemeinschaften Verantwortung tragen.

    Wir alle sind aufgerufen, diesen Prozess konstruktiv zu begleiten und nicht in erster Linie darauf zu achten, ob eigene Besitzstände gefährdet werden. Ich denke, vor allem ist es wichtig, sich nicht von der in manchen Zirkeln herrschenden Katastrophenstimmung anstecken zu lassen, die im letzten Quartal des vergangenen Jahres von manchen Presseorganen regelrecht angeheizt wurde. Es kann keine Rede davon sein, dass es in Deutschland „pfeilgerade in den Abgrund“ geht, wie es unlängst die sonst um Nüchternheit bemühte NZZ in einer Schlagzeile drastisch ausgedrückt hat. Wer in einem um 0,3 % erhöhten Krankenkassenbeitrag, höheren Mineralöl- und Tabaksteuern und dem Wegfall einiger Steuervergünstigungen Symptome eines nationalen Notstandes sieht oder die Bürger „auf die Barrikaden“ ruft, fördert kein Klima, in dem notwendige Entscheidungen geprüft und getroffen werden. Dazu sind Nüchternheit und konstruktive Alternativideen gefordert - und insbesondere eine Haltung, die Gemeininteressen über Eigeninteressen stellt. Mut zu Reformen!