Predigt im Gottesdienst zur regionalen Eröffnung der 45. Aktion "Brot für die Welt"

Wolfgang Huber

St. Marien zu Berlin

Beim Propheten Amos heißt es im 5. Kapitel:

„Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

I.

Nun wird zu Opfern eingeladen – und das mit solchen Worten. Nun begehen wir einen Feiertag und bekommen eine so grämliche Antwort. Nun sind wir hier in St. Marien versammelt – und es schallt uns entgegen: „Ich mag eure Versammlungen nicht riechen“.

Was ist da falsch gelaufen? Habe ich mich im Text vergriffen? So scheint es. Denn zur Eröffnung der Aktion „Brot für die Welt“ hatte man es nur auf diesen einen, wohlklingenden Satz des Propheten abgesehen: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

Aber das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Das prophetische Lob des Rechts gibt es nicht ohne die Brandmarkung des Unrechts, die Hoffnung auf Gerechtigkeit nicht ohne die Klage darüber, dass sie fehlt, auch bei uns. Die Aktion „Brot für die Welt“ eröffnen wir nicht, weil es schon immer so war. Wir brauchen diese Aktion vielmehr, weil es nicht so bleiben soll, wie es war.

Schöne Gottesdienste und festliche Versammlungen können und dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass vielen Menschen das Nötigste fehlt, auch durch unsere Schuld. Die feierlichen Adventslieder können wir nicht dazu missbrauchen, uns darüber hinwegzumogeln. Denn Gottesdienste sind keine Selbsttäuschungsaktion; Adventslieder sind keine Schlafkissen, damit unser Gewissen ruhig wird; und „Brot für die Welt“ ist nicht dazu da, dass wir vor dem Skandal von Hunger und Armut die Augen verschließen.

„Best Kid on Earth“ – bestes Kind auf Erden. Ist Ihnen die Aufschrift auf dem roten T-Shirt auch in die Augen gesprungen. Auf dem Foto, das zu diesem Gottesdienst eingeladen hat, war es zu sehen. Inmitten der Jugendlichen, die da mit Leidenschaft ihren kochenden Maisbrei rühren, steht er da, mit niedergeschlagenen Augen, die Hände zusammengelegt. Sein rotes T-Shirt fällt auf. Die Aufschrift noch mehr: Bestes Kind auf Erden. Man kann es spüren: Keinem andern will er diesen Titel wegnehmen. Für alle soll er gelten. Alle Kinder sind die besten Kinder auf Erden, denn sie sind alle Gottes Kinder. Und sie bleiben es bis ins hohe Alter. Denn sie bleiben Gottes Kinder, jede und jeder von Gott geliebt, jede und jeder einmalig in Gottes Angesicht.

Sie leben unter sehr unterschiedlichen Bedingungen, diese besten Kinder Gottes auf Erden. Eine dieser Lebenssituationen tritt heute in den Blick, von unseren Lebensbedingungen denkbar weit entfernt. In der Ausstellung, die Sie unter der Orgelempore sehen können, durch den Chor, der diesen Gottesdienst mitgestaltet, und durch die Informationen, die hier zugänglich werden, wird uns die Situation von Kindersoldaten im westlichen Afrika, im besonderen in Sierra Leone vor Augen gestellt. Ein zehnjähriger Bürgerkrieg ist im Jahre 2001 zu Ende gegangen. Tausende von Kindersoldaten waren an ihm beteiligt. Halbwüchsige, die unter Zwang nichts anderes gelernt haben, als mit verschiedenen Waffen Menschen zu töten. Vielen Kindern ist bei uns das „Räuber und Gendarm“ spielen nach wie vor eine Lieblingsbeschäftigung. Kommissare werden imitiert, die Guten siegen und der Gerechtigkeit wird Geltung verschafft. Spielerisch kommt das kindliche Gerechtigkeitsempfinden zum Ausdruck. Im westlichen Afrika wurden Kinder gezwungen, scharf zu schießen. Kein Spiel, sondern Krieg mit seinen furchtbaren Bildern, verstümmelte Körper und lebenslanges Leid sind die Folge.

Für die medizinische Versorgung aufzukommen, den Kindern eine Ausbildung und eine Perspektive zu geben, ist dringend notwendig. Wenn wir uns das Schicksal der Kindersoldaten und ihre Lebenssituation vor Augen stellen, stehen sie stellvertretend für die vielen benachteiligten Menschen auf dieser Welt. Nur wenn wir uns am konkreten Beispiel vor Augen führen, wie Menschen leben, wird auch die Frage unseres eigenen Helfens und Glaubens konkret.

II.

Nach dem prophetischen Wort der Kirche und ihrer Diakonie wird auch heute wieder und wieder gefragt. „Gott spricht: Das Recht ströme wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“ So heißt es beim Propheten Amos (Amos 5, 24). Einer der Kernsätze alttestamentlicher Prophetie tritt uns entgegen. Doch Prophet zu sein, sucht man sich nicht selber aus – damals so wenig wie heute. Im übrigen liegt meistens ein Missverständnis vor, wenn heute nach Propheten Ausschau gehalten wird. Denn nicht künftige Ereignisse vorherzusagen, sondern Gottes Wahrheit anzusagen, ist ihre Aufgabe. Da kann man leicht zum Außenseiter werden. Vom Propheten Hosea hat man gesagt, er sei „meschugge“. Die Urteile, die über den Propheten Amos im Umlauf waren, fasst Peter Calvocoressi folgendermaßen zusammen: „Amos, Prophet. grobschlächtiger Viehzüchter und Maulbeerfeigenpflanzer aus Tekoa, der einen ebenso plötzlichen wie zornigen Auftritt in der Öffentlichkeit Israels hatte und ziemlich schnell (um 750 v. Chr.) wieder hinausgeworfen wurde. ... Amos war jedoch kein x-beliebiger Rabauke, sondern ein scharfer Beobachter von Mensch und Natur. Er zeigte sich gut informiert und trat voller Empörung, Leidenschaft und Strenge auf. Er gehörte zum Lager der strikten Monotheisten; für ihn war Jahwe nicht nur der einzige Gott der Kinder Israels, sondern der einzige Gott überhaupt.“

Eine unbequeme Gestalt – wie man auch überhaupt von den Propheten nicht erwarten soll, dass sie es einem möglichst bequem machen. Auch mit ihren Texten soll man nicht zu leichthändig umgehen. (Man soll sie lesen und nicht nur ihre Spitzensätze fallen lassen – „Schwerter zu Pflugscharen“, die Gerechtigkeit als „ein nie versiegender Bach“ undsofort. Gewiss haben auch diese Spitzenaussagen selbst schon eine inspirierende Wirkung; die Friedensbewegung in der DDR vor 1989 hat das ebenso eindrücklich gezeigt wie Bärbel Bohleys Ausspruch nach 1989: „Wir hofften auf Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Manchmal freilich wird auf solche Schlüsselwörter Bezug genommen, als hätten nicht auch die Propheten gewusst, dass Frieden gewahrt und Recht durchgesetzt werden muss.)

Auch am Propheten Amos kann man das sehen. Warum sollte er sonst die Versammlungen der Israeliten so scharf kritisieren, ihre Opfer verwerfen und das Geplärr ihrer Lieder verspotten (so Amos 5, 21-23) – wenn nicht deshalb, weil sie im täglichen Leben vor der Verpflichtung zu Recht und Gerechtigkeit so schmählich versagen? Die Prophetie des Amos trifft sein Land in einer zeit der Hochkonjunktur. Der Handel floriert; die Wohlhabenderen können sich alles leisten, was sie wollen. Auch die Gottesdienste Israels nehmen an diesem Wohlstand teil; die Opfergaben werden immer üppiger, die Wohlgerüche immer wogender, die Lieder immer prächtiger. Doch wo die einen Gott und Geld im selben Atemzug feiern, geraten die andern ins Abseits; Arbeitslosigkeit und soziale Not breiten sich aus; Betrug und Schuldknechtschaft kommen hinzu. Ungerechtigkeit ist eine Realität, der Bruch des Friedens eine geschichtliche Erfahrung. Es ist dieser ernste Hintergrund, vor dem man den so poetischen Satz hören muss: „Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

Nur auf diesem Hintergrund können wir uns in das Bild hineinnehmen lassen, das der Prophet vor unseren Augen entwirft: das Bild eben vom strömenden Wasser und vom nie versiegenden Bach. Wer an einem reißenden Fluss oder auch nur an einem Bach steht und das Fließen des Wassers wahrnimmt, kann erahnen, wie kraftvoll die Quelle sein muss, die das Wasser hervorbringt. Und wer je in Gegenden mit trockenen Sommern gelebt hat, weil deutlich zu unterscheiden zwischen einem Bach, der im Sommer vertrocknet, und jenen selteneren, aber umso kostbareren Bächen, die auch in der heißesten Jahreszeit noch Wasser führen. Möglich ist das nur, weil die Quelle stark genug ist. Amos, selbst in der Wüste lebend, weckt mit dem Bild des frischen Wassers das Verlagen nach dem, wonach sein Volk sich am meisten sehnte: Nicht nur Wasser, sondern eben auch Gerechtigkeit.

Amos hat Recht. So wichtig das Wasser für das physische Überleben eines Menschen ist, so bedeutsam ist die Gerechtigkeit für das soziale Zusammenleben. Das eine ist ein so elementares Lebensmittel wie das andere. Deshalb ist die Ungerechtigkeit so lebensfeindlich wie der Hunger, die Bestechlichkeit so verwerflich wie der Raub des täglichen Brots. Und umgekehrt: Dort wo Menschen Gerechtigkeit widerfährt, wo ihre Würde als Ebenbild Gottes wieder hergestellt und ihnen zu ihrem Recht verholfen wird, ist der Schalom Gottes nahe. So wenig wir ohne Wasser physisch überleben können, so wenig gelingt das Zusammenleben ohne Gerechtigkeit.

Das ist der Grund, dessentwegen wir vor dem Unrecht, das uns umgibt, nicht kapitulieren. Immer wieder halten wir Ausschau nach den Möglichkeiten, die es gibt, dem Wasser der Gerechtigkeit eine freie Bahn zu schaffen – selbst wenn das im ersten Augenblick nur wie ein schmales Rinnsal oder gar wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erscheint. Wir wissen dabei: Von der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, sind solche Bemühungen weit entfernt. Aber wir wollen die kleinen Schritte zur Gerechtigkeit und Gottes große Gerechtigkeit nicht gegeneinander ausspielen. Wir wissen: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und wir bitten trotzdem im Vater unser um das tägliche Brot. Auch dies gehört zusammen.

III.

In die kurzen Worte des Propheten ist eingeschlossen, was wir heute Diakonie nennen: die Hilfe zum physischen Überleben und die Arbeit am gelingenden Zusammenleben. Diakonie ist immer konkrete Hilfe im Einzelfall und Arbeit an den gesellschaftlichen Strukturen zugleich. In beiden Hinsichten ist sie grenzüberschreitend.

Nach dem Maß, das uns Amos lehrt, beurteilen wir die Lebensverhältnisse von Menschen aus der Perspektive der Schwächeren, der Ausgegrenzten. Die Adventszeit ist die Zeit im Jahr, in der wir uns für diese Perspektive öffnen wollen. Es ist die Zeit, in der wir uns auf die weihnachtliche Bescherung vorbereiten. Dabei geht es nicht darum, dass wir uns endlich die Wünsche erfüllen, die wir schon das ganze Jahr heimlich hegten. Es geht darum, dass wir mit anderen teilen, was uns mit Freude erfüllt: die Zusage, dass Gott mit uns Frieden schließt, dass er uns an seiner Gerechtigkeit teilhaben lässt, dass er mit Wohlgefallen auf uns schaut. Die Freude darüber können wir nicht für uns behalten, wir wollen sie mit anderen teilen. Die Geschenke, die wir anderen Menschen machen, soll das zum Ausdruck bringen. Geteilte Freude ist ihr Sinn. Wie aber sollten wir ausgerechnet die Menschen von dieser Freude ausschließen, die unter ungleich schwierigeren Umständen leben als wir selbst. Wie sollten wir uns das Mitfühlen mit Menschen verbieten, die vom Licht der Weihnachtszeit nur schwer erreicht werden? Die Aktion „Brot für die Welt“ ist für uns eine große Hilfe dabei, dass wir mit den Menschen teilen, die ohne unsere Hilfe im Dunkeln bleiben würden. Nicht nur für sie, sondern vor allem auch für uns selbst ist die Aktion „Brot für die Welt“ eine große Hilfe zur Weihnachtsfreude. Denn sie ist doch nur als geteilte Freude, als gemeinsame Freude vorstellbar.

Kindersoldaten in Sierra Leone sind es, an denen wir uns das in dieser Adventszeit deutlich machen wollen. Und dann wollen wir unserem Hören und unserem Nachdenken, unserem Singen und unserem Beten auch Taten folgen lassen.

Amen.