Evangelische Identität in einer pluralen Gesellschaft

Hermann Barth

Beitrag bei einem Arbeitsforum der 41. Bundestagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU in Hannover

Identität - dieser Begriff klingt in vielen Ohren nach langwierigen historischen, philosophischen oder psychologischen Überlegungen. Aber man kann es viel einfacher haben. Im Englischen steht „Identity card” für „Personalausweis“. Wenn ich zeigen soll oder zeigen will, wer ich bin, muss ich mich ausweisen.  Dementsprechend lässt sich die Frage nach evangelischer Identität - die sich in einer pluralen Gesellschaft mit besonderer Dringlichkeit stellt - so formulieren: Wie weisen wir uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus? Auf diese Frage gebe ich im folgenden 10 Antworten. Einem Merksatz folgt jeweils eine knappe Erläuterung:

1. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir die Botschaft von der freien Gnade Gottes ausrichten.

Von Gott ist hierzulande in den öffentlichen Diskursen und im kulturellen Bereich nicht sehr viel die Rede. Vielleicht kann man aus heutiger Perspektive sagen, dass sich da etwas zu ändern begonnen hat. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Die Gottesvergessenheit ist nach wie vor groß, und sie reicht hinein bis in die Kirchen. Nicht wenige genieren sich, von Gott zu reden. Ganz anders bei den unter uns lebenden Muslimen. Eine Lehrerin an einem der Gymnasien Hannovers erzählte mir folgende Begebenheit. Als sie in einer 9. Klasse im Fach Geschichte die Entstehung von Klöstern und Orden im Mittelalter behandelte, kam nach einer Unterrichtsstunde ein türkischer Schüler zu ihr und fragte sie: „Glauben Sie an Gott?“ Diese Frage ist uns in der jüngeren Vergangenheit doch meist nur als skeptische oder spöttische Frage begegnet.

Wir können uns als evangelische Kirche und evangelische Christen freilich nicht damit zufrieden geben, dass überhaupt von Gott geredet wird, von irgendeinem Gott, von einem höheren Wesen, das irgendwie alle verehrten. Wir haben den Auftrag, von dem Gott Zeugnis abzulegen, der sich in Jesus Christus kenntlich gemacht hat. Mit den Worten der Barmer Theologischen Erklärung, deren 70. Jahrestag wir vor wenigen Wochen begangen haben: „Der Auftrag der Kirche ... besteht darin, an Christi Statt ... durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“ Wir haben also einen Gott zu bezeugen, der allen, die sich ganz auf ihn verlassen, eine unzerstörbare Würde und ein festes Herz verleiht und es uns auf diese Weise abnimmt, unsere eigene Kraft und überhaupt die menschlichen Kräfte zu überfordern.

2. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir Menschen in die Nachfolge Jesu rufen und sie an Gottes Gebot erinnern.

Jesus Christus ist nicht nur Gottes Zuspruch. „Mit gleichem Ernst“ - so nehme ich noch einmal die Barmer Theologische Erklärung auf - „ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“. Diesem Anspruch Gottes auf das ganze Leben der Menschen korrespondiert auf deren Seite die Suche nach Wegweisern und Orientierungspunkten. Viele unserer Zeitgenossen lassen sich zwar nicht davon beeindrucken, dass es das Gebot Gottes ist, das dieses oder jenes fordert. Aber sie haben alle Antennen ausgefahren, um überzeugende Maßstäbe kennen zu lernen. Es kommt also darauf an, ihnen die 10 Gebote und die Jesusgeschichten einladend und gewinnend nahe zu bringen.

3. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir unseren Glauben als eine Kraft zur Zivilisierung der Welt erweisen.

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte vor einigen Wochen (in der Ausgabe vom 24./25. April 2004) einen Beitrag, in dem der Autor in einer Mischung von Stolz und Trotz verkündete: Wir sind Heiden; „Europa hat die Nabelschnur zur Religion, die es durch die tausendjährige Schwangerschaft des Mittelalters getragen hat, endgültig durchtrennt.“ Töricht und ärgerlich an diesem Beitrag ist insbesondere die Leichtfertigkeit, mit der alle Beiträge der jüdisch-christlichen Tradition zur Bildung eines gesellschaftlichen Grundkonsenses über das, was sich gehört, abserviert werden. Aus welchen Quellen speisen sich denn Bereitschaft und Fähigkeit, sich der Schwachen anzunehmen? Wo lernt man es, den Blick für das fremde Leid zu bewahren? Auf welchem Nährboden wächst eine Kultur der Barmherzigkeit? Was bringt uns dazu, den Sonntag und die Feiertage als heilsame Unterbrechung der alltäglichen Geschäftigkeit festzuhalten? Ich behaupte nicht, die Orientierung der jüdisch-christlichen Tradition bringe verlässlich oder gar automatisch solche Resultate hervor. Ich sage auch nicht, für all die beschriebenen Anforderungen stehe nur die jüdisch-christliche Tradition zur Verfügung. Aber so sehr viele geistige Ressourcen und kulturelle Kräfte, auf die wir für die Zivilisierung der Welt rechnen dürfen, haben wir nicht. Es kommt also darauf an, die Quellen, aus denen sich der Konsens über das, was sich gehört, speisen kann - von den Manieren als der Kultur des Alltags bis zur rechtlichen Einhegung der Anwendung militärischer Gewalt -, neu zu erschließen.

4. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir die Unterscheidung zwischen dem Letzten und dem Vorletzten praktizieren.

Die Unterscheidung zwischen dieser Welt und dem Himmelreich, zwischen diesem Leben und dem ewigen Leben ist dem christlichen Glauben von der Bibel her eingestiftet. Die Lieder unseres Gesangbuches sind voll von Verweisen auf das, was nach diesem Leben und jenseits dieser Welt kommen wird. Wenn von den „letzten Dingen“ nicht oder nur in Restbeständen die Rede ist, dann wird die christliche Hoffnung nicht nur reduziert auf eine Schwundstufe: "Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen" (1. Korinther 15,19). Sondern dies hat auch Folgen für die Einstellung zu diesem Leben und dieser Welt. Wer das Letzte aus dem Blick verliert oder für gegenstandslos erklärt, der steht in der Gefahr, alle seine Erwartungen von Glück und Seligkeit auf den Bereich des Vorletzten zu richten. Damit aber werden dieses Leben und diese Welt maßlos überfordert. Die Rede von den „letzten Dingen“ ist oft unter den Verdacht gestellt worden, sie betreibe bloß Vertröstung aufs Jenseits. Ich will nicht bestreiten, dass es solche Fehlentwicklungen gegeben hat. Aber abusus non tollit usum: Die Unterscheidung zwischen dem Letzten und dem Vorletzten bewahrt davor, dieses Leben und diese Welt grenzenlos zu überfordern und - im äußersten Fall - fanatisch zu ihrem Glück zu zwingen, und sie stärkt darum die Fähigkeit, sich sowohl im persönlichen als auch im politischen Leben auf Kompromisse einzulassen.

5. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir den Sinn für das Heilige wecken.

Vom Heiligen zu sprechen geht von der Voraussetzung aus: In der Welt ist nicht alles gleich, es ist nicht alles profan, sondern aus dem Meer des Gewöhnlichen ragt das Besondere, das Ausgesonderte, das Unberechenbare, also das Heilige raus. Die radikale Verdiesseitigung des Lebens, die über Jahrzehnte bestimmend war, befriedigt viele Menschen nicht mehr. Damit wachsen die Chancen, in ihnen wieder den Sinn für das Heilige zu wecken: für heilige Zeiten, heilige Räume, heilige Bücher, heilige Themen, heilige Personen. Das aktuellste Beispiel ist der Schutz der Sonn- und Feiertage. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vom 9. Juni 2004) zum Ladenschluss ist ein ermutigendes Zeichen dafür, dass sich auch eine säkulare Gesellschaft den Sinn für heilige Zeiten bewahren oder ihn wiedergewinnen kann. „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“, wie die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 139 die Sonn- und Feiertage in einer klugen Formulierung beschrieb, sind ein Stachel im Fleisch. Sie stören und verunsichern. Denn der Mensch definiert sich nur zu gern über seine Arbeit und seine Leistung. Die Heiligung des Sonntags, ja schon seine bloße Existenz erinnern daran: Der Mensch ist nicht einfach das, was er aus sich macht.

6. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir unseren Glauben in der Gemeinschaft der Kirche leben.

Den evangelischen Christen wird häufig nachgesagt, sie hätten kein Verhältnis zur Kirche. Dass eine solche Einstellung faktisch anzutreffen ist, lässt sich nicht leugnen. Sie bedarf der beharrlichen Korrektur und besseren Belehrung. Niemand kann für sich allein Christ sein. Und wer es eine Zeitlang erfolgreich zu tun meint, der muss doch ehrlicherweise einräumen, dass sich die Spur des christlichen Glaubens in der Geschichte verloren hätte und in der Zukunft verlieren würde, wenn es die Gemeinschaft der Kirche nicht gäbe, in der die Verkündigung des Wortes Gottes geschieht und rein erhalten wird.

7. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir fromm sind.

Der Kurswert der Frömmigkeit - und schon ihr Verständnis - hat starken Schwankungen unterlegen. Frömmigkeit als die Ausbildung und Einhaltung bestimmter religiöser Formen stößt im evangelischen Raum heute noch weitgehend auf Skepsis. Aber die verbreitete Warnung vor bloßen Äußerlichkeiten erscheint - angesichts von deren offenkundigem Fehlen - eher als hohl. Eine Balance zwischen Innen und Außen, zwischen Haltung und Form, zwischen Glauben und Ritus zu erreichen bildet vielmehr eine große, keineswegs gelöste Aufgabe. Auch die evangelische Freiheit verträgt sich mit Formen, ja, sie verlangt nach Formen. Das gilt zunächst für das persönliche Leben; ich denke beispielsweise an die Sitte des Tischgebets oder den regelmäßigen Umgang mit Bibel und Gesangbuch. Es gilt aber auch für das gemeinschaftliche kirchliche Leben, etwa die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst oder die Pflege gottesdienstlicher Formen und Formeln statt ihrer Ersetzung durch individuelle Liebhabereien. Auch im Blick auf Formen religiöser Lebenspraxis könnte - wie im Falle des Redens von Gott - die Begegnung mit anderen Religionen eine heilsame Provokation werden.

8. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir in der Kirche keiner menschlichen Institution die Verfügung über die Wahrheit zuerkennen.

Wenig anderes ist für die Differenz zwischen evangelischem und römisch-katholischem Kirchenverständnis so charakteristisch wie das Verhältnis von Kirche und Wahrheit. Während das römisch-katholische Kirchenverständnis von der Überzeugung geprägt ist, dass der vorfindlichen Kirche mit ihren Ämtern und Strukturen die Wahrheit bleibend verheißen sei und darum unter bestimmten Bedingungen von der Unfehlbarkeit kirchlicher Lehre gesprochen werden dürfe, ist in dieser Hinsicht der grundlegende Satz des evangelischen Kirchenverständnisses: Konzilien können irren, jede menschliche Instanz der vorfindlichen Kirche kann irren. Daraus ergibt sich auch ein - jedenfalls grundsätzlich - positives Verhältnis zum innerkirchlichen Pluralismus. Die Einschränkung bezieht sich auf zweierlei: Eindeutigkeit oder gar Einstimmigkeit ist nach evangelischem Verständnis in den Grundfragen des Glaubens geboten, also in den Fragen, mit denen die Kirche steht oder fällt. Und auch in Fragen der Lebensform und der Weltgestaltung darf Pluralismus nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden, um so mehr dann, wenn sich die widerstreitenden Auffassungen aus einer unterschiedlichen Auslegung der Bibel ergeben.

9. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir uns an der Bibel orientieren.

Im evangelischen Gottesdienst, in der evangelischen Lehre, in den evangelischen Kirchenverfassungen, in der evangelischen Frömmigkeit - überall kommt der Bibel eine fundamentale Bedeutung zu. Für die reformatorischen Kirchen gilt von Anfang an nicht nur: Christus allein, aus Gnade allein, mittels des Wortes allein, durch den Glauben allein, sondern ebenso: die Heilige Schrift allein, sola scriptura. Aber die Wirklichkeit sieht teilweise erheblich anders aus. So haben die beiden letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen gezeigt, dass die in einem repräsentativen Querschnitt befragten evangelischen Kirchenmitglieder den Gebrauch der Bibel nicht besonders hoch einstufen. Unter den verschiedenen Antwortvorgaben für den Satz „Es gehört unbedingt zum Evangelischsein, dass ...“ hat nur ein Fünftel die Fortsetzung angekreuzt: „... man die Bibel liest".

10. Wir weisen uns als evangelische Kirche und evangelische Christen aus, indem wir für die Freiheit des Glaubens und des Gewissens eintreten.

Die Religionsfreiheit und mit ihr die Freiheit des Glaubens und des Gewissens sind als grundlegende Menschenrechte nicht - Gott sei's geklagt - von den Kirchen oder wenigstens mit den Kirchen, sondern weithin gegen die Kirchen erstritten worden. Gewiss hat die Reformation, etwa durch die Berufung auf das Gewissen, gegen das „zu handeln weder sicher noch heilsam“ sei, Gedanken hervorgebracht, die auf die Gewährleistung von Glaubensfreiheit, Bekenntnisfreiheit und das Recht auf freie Religionsausübung drängen. Aber aktive Wegbereiter und Türöffner für die Religionsfreiheit wurden in der Neuzeit andere Kräfte. Um so mehr haben wir heute Anlass, beharrlich und nötigenfalls auch im Gegensatz zu öffentlichen Stimmungen für die Freiheit des Glaubens und des Gewissens einzutreten. Denn gemäß unserem Verständnis der Wahrheit müssen wir beides sagen: Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Und: Die Wahrheit lässt sich nicht erzwingen und nicht fordern, sondern nur in Freiheit realisieren. Die Wahrheit wird niemals ein menschlicher Besitz. Man „hat“ sie nur, weil und insofern man von ihr ergriffen wird. In dieser Hinsicht sind Christen in der gleichen Lage wie die Menschen mit anderen religiösen Grunderfahrungen.

Ich füge noch zwei Nachbemerkungen an:
Wenn jemand nach dem Durchgang durch die zehn Merkmale evangelischer Identität den Eindruck gewonnen hat, das seien ja gar nicht ausschließlich, nicht einmal mehrheitlich Merkmale evangelischer, vielmehr gemeinsamer christlicher Identität, dann fühle ich mich völlig richtig verstanden. Ich sehe in der Ausrichtung auf die christliche, nicht speziell die evangelische Identität eine sachgemäße Antwort auf die gegenwärtige Situation des christlichen Glaubens. Wenn ich nach meiner religiösen und kirchlichen Verwurzelung gefragt werde, heißt meine Antwort vorrangig: Ich bin Christ. Erst in dieser Klammer kann und muss dann auch gesagt werden, was innerhalb des gemeinsam Christlichen das spezifisch Evangelische ist.

Niemandem wird schließlich - das ist die zweite Nachbemerkung - verborgen geblieben sein, dass die Markenzeichen evangelischer Identität, wie ich sie dargelegt habe, nicht einfach die Wirklichkeit der Kirche und des Christseins abbilden. Die real existierende evangelische Kirche ist vielmehr - auch das sei Gott geklagt - immer wieder ein kräftiges Dementi der ihr zugeschriebenen Markenzeichen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht eine Kluft. Das falsche Rezept wäre es, den Anspruch zu ermäßigen. Das führt am Ende nur dazu, sich mit der Wirklichkeit zu arrangieren und sie theologisch zu überhöhen. Genau so wenig Erfolg verspricht es, den Anspruch zu verstärken oder doch jedenfalls die Intensität, mit der der Anspruch eingeschärft wird, zu erhöhen. Appelle erreichen die Menschen nicht schon deshalb besser, weil sie lauter vorgetragen werden. Gerade eine Kirche, die vom Gedanken der Rechtfertigung des Sünders her erneuert wurde, sollte gegenüber den Versuchungen des gesetzlichen Weges misstrauisch sein. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit erinnert daran, dass die ganze Kirche - nicht weniger als die einzelnen Glaubenden - den „Schatz“ des Evangeliums „in irdenen Gefäßen“ hat, „damit die überschwengliche Kraft von Gott sei und nicht von uns“ (2. Korinther 4,7). Aber wir dürfen der Kraft Gottes zutrauen, dass sie auch von "irdenen Gefäßen" - wenigstens gelegentlich - Glanz ausgehen lassen, mit anderen Worten: dass sie aus Sündern Heilige machen kann. Denn neben der Rechtfertigung steht die Heiligung - im Leben der Glaubenden ebenso wie im Leben der Kirche.