Du sollst Vater und Mutter ehren – Generationengerechtigkeit in biblischer Perspektive - Vortrag bei der Jahrestagung des Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer in Deutschland

Christoph Kähler

1. Einer meiner psychotherapeutischen Freunde sprach vor einiger Zeit mit einem jungen Patienten über dessen berufliche Zukunft. Der junge Mann beschrieb die “ganz normale” Unsicherheit, in der er steckte, und skizzierte seine künftige patch-work-Biographie, in der immer wieder mal der eine Job von dem anderen abgelöst werden würde - Pausen zwischendurch nicht ausgeschlossen. Mein Freund schien bei aller gleichmäßig schwebenden Aufmerksamkeit, die zu seiner Pflicht gehört, doch eine Regung gezeigt zu haben. Sie verriet, dass diese Perspektive für ihn selbst etwas Beängstigendes hatte. Da tröstete der junge Patient den älteren Arzt mit der Bemerkung: “Herr Doktor, das läuft heute nicht mehr so, wie Sie das früher gewohnt waren. Eine über Jahre gesicherte Berufslaufbahn haben wir nicht mehr vor uns. ”Natürlich war damit auch, aber nicht nur die in der Regel lückenlose Berufsbiographie von gelernten DDR-Bürgern als überholt abgetan. Zugleich jedoch gab der junge Mann eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Unsicherheiten unserer Gesellschaft und Wirtschaft zu erkennen, die meinen Jahrgangsgenossen bei aller Einsicht in wirtschaftliche Zusammenhänge immer noch Mühe macht.

Zugleich erklärt solche Unsicherheit, warum die Generation unserer Kinder, die heute heiraten und Kinder bekommen könnte, so wenig geneigt ist, sich in dieses weitere Abenteuer zu stürzen, konkrete Verantwortung für künftige Generation zu übernehmen. Das Verhältnis der Generationen untereinander ist inzwischen ein Gegenstand ernsthafter Sorgen, da der demografische Wandel in absehbaren Zeiten heftige Umbrüche mit sich bringen wird und bestimmte Entwicklungen sich überhaupt nicht mehr umkehren lassen, da die Ungeborenen nicht ersetzt werden können . Insofern stehen wir mitten in einer Debatte, die den Ernst der Lage in Deutschland allmählich ins Bewusstsein hebt, nach dem Meinrad Miegel und Kurt Biedenkopf bereits vor über einem Jahrzehnt zunächst einsame Rufer waren, ehe sich jetzt viele mit dem Thema beschäftigen. Es gehört, wenn ich richtig sehe, zum Kern der Bemühungen um Reformen in Deutschland. Dass diese Debatte klare Ziele braucht, hat der Ratsvorsitzende der EKD Wolfgang Huber in seiner Berliner Rede vom 30. September diesen Jahres mit wünschenswerter Deutlichkeit herausgearbeitet.

2. Doch schon der Inhalt der Begriffe “Generation”, “Gerechtigkeit” und die Zusammensetzung “Generationengerechtigkeit” sind jeweils einer Bestimmung bedürftig. So möchte ich wenigstens kurz andeuten, welchen Inhalt ich diesen Begriffen gebe, ehe ich zu der eigentlich von ihnen gestellten Aufgabe übergehe:

Der Terminus Generation hat eine Makro- und eine Mikrodimension. Bezogen auf die Gesellschaft reden wir von bestimmten Gruppen von Gleichaltrigen oder Kohorten von einer Generation, die als Jahrgang oder als Gruppe von Jahrgängen durch die gleichen geschichtlichen Erfahrungen geprägt sind, wie die Kriegs- bzw. Nachkriegsgeneration, die der  “68er” oder die so genannte Generation “Golf”. Im Mikrobereich kommt eher die familiäre Struktur zum Ausdruck, wo die Generationenfolge mit Urahne, Ahne, Mutter und Kind beschreibbar ist. Die Sozialgeschichtliche Forschung hat allerdings deutlich gemacht, dass die vier bis fünf Generationenfamilien, die wir heute dank der medizinischen Fortschritte innerhalb eines Familienverbandes erleben können, in früheren Zeiten eher die Ausnahme waren.

“Suum cuique” “Jedem das Seine” so definiert die Antike Gerechtigkeit, ähnlich dann auch viele Theologen und Juristen von Augustin bis Karl Barth: Danach ist Gerechtigkeit “der feste und dauernde Wille, jedem sein Recht zuzuteilen.” Mit dieser alten Definition wird deutlich, dass Gerechtigkeit nie ein Zustand, sondern stets ein Prozess ist, in dem Ansprüche von verschiedenen Parteien miteinander zum Ausgleich gebracht werden und Frieden (auch als Prozess) hergestellt werden soll.

Wenn wir von Generationengerechtigkeit sprechen, kann das Verschiedenes meinen: Zum einen die Verpflichtung, nicht heute Lasten entstehen zu lassen, die künftige Generationen nicht mehr rückgängig machen können, aber tragen müssen. Dass auch solche Prozesse den Alten nicht unbekannt waren, zeigt ein Blick auf das in Hesekiel 18 zitierte Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«

So weit irgend möglich, müssen unsere Entscheidungen heute revisionsoffen sein. Kreditfinanzierte Haushalte – uns in der ELKTh nicht ganz unbekannt, aber inzwischen überwunden und bis 2009 abgezahlt – gehören als klassisches Beispiel zu den Belastungen, die heute aufgenommen, morgen Spiel- und Entscheidungsräume der nächsten Generation verengen. Zum anderen meint Generationengerechtigkeit auch die Verpflichtung, zwischen den Generationen nach dem angemessenen Anteil am verfügbaren gesellschaftlichen Einkommen und dem entsprechenden Ausgleich zu suchen. Dies ist bisher sehr stark als Austausch zwischen den im Berufsleben Stehenden und den aus dem Beruf Ausgeschiedenen verstanden worden, da durch Adenauer die Renten auf Umlagebasis umgestellt wurden. Wolfgang Huber hat nun in seiner Berliner Rede den Finger darauf gelegt: “...aus dem Blick geraten ist das Verhältnis zur nächsten Generation, zu den Kindern, die wir zur Welt bringen – oder eben auch nicht. Kinder werden sowieso geboren, hieß die Einsicht des alten Adenauer, mit der er begründete, warum die Verantwortung für Kinder in die Überlegungen zur Alterssicherung nicht einbezogen werden müsse. Jedenfalls heute und für Deutschland gilt: Weit gefehlt. Inzwischen liegt Deutschland in der Geburtenrate an der fünftletzten Stelle aller Staaten der Welt.” Huber bezweifelt, “dass dies Ausdruck für einen besonders ausgeprägten Egoismus von Alleinlebenden oder kinderlosen Doppelverdienern ist”. “Es liegt” sagte er “eher daran, dass wir nicht genug Vorkehrungen für die Vereinbarkeit zwischen Familien- und Berufsarbeit oder für den verlässlichen Wechsel zwischen diesen beiden Verantwortungsbereichen schaffen.” Er hat darum mit dem Terminus “Familiengerechtigkeit” den besonderen Akzent darauf gelegt, dass Familienpolitik zum Kernbereich der Reformpolitik gehören muss, wenn denn die Veränderungen in die notwendige und Zukunft ermöglichende Richtung gehen sollen. Wie sieht nun in der hebräischen Bibel und im Neuen Testament das Verhältnis der Generationen zueinander aus und wie ist dort die gegenseitige Verantwortung beschrieben.

3. Generationen und “Familie” in den biblischen Texten

Die Generationen lebten in den Zeiten des Alten wie des Neuen Testaments anders zusammen als heute. Es war in Israel wie in den neutestamentlichen Gemeinden war keineswegs per se harmonischer als das in modernen Gesellschaften. Es bedurfte ebenfalls der Aufmerksamkeit und der Pflege des Verhältnisses zwischen den Generationen und verstand sich nicht von selbst, wie die Fülle der alttestamentlichen Mahnungen zeigt

“Ein Auge, das den Vater verspottet,
und verachtet, der Mutter zu gehorchen,
das müssen die Raben am Bach aushacken
und die jungen Adler fressen”,

formuliert das Sprüchebuch recht drastisch.

Was haben wir als historische Realität und sozialgeschichtliche Grundform des Generationenverhältnisses in biblischen Zeiten anzusehen? Die kleinste Zelle der Gesellschaft in antiker Zeit ist nicht die “Familie” im heutigen Sinn, die im übrigen im Verlauf ihrer Geschichte erheblich an Mitgliedern und Aufgaben verloren hat. Erst seitdem der französische Terminus “famille” als Fremdwort im Deutschland des 18. Jahrhunderts benutzt werden musste, wurde damit vor allem die uns bekannte kleine Gruppe aus Vater, Mutter, Kind, also die Zwei-Generationen-Familie beschrieben. Sie hausen im Allgemeinen in einer privaten Wohnung, die deutlich vom Produktionsstandort getrennt ist. Zu ihr gehören nicht mehr selbstverständlich weitere Familienangehörige (ganz zu schweigen vom “Gesinde”), sondern nur im Einzelfall kommt es zur Wohngemeinschaft mehrerer Generationen. Sie ist also nicht mehr das, was man dann später die “Großfamilie” genannt hat, die Generationen übergreifen kann und – vor allem - mehrere Verwandtschaftsgrade auch in derselben Generation.

Das war zu alt- wie neutestamentlichen Zeiten bis hinein in die Neuzeit anders. Die Bibel, jedenfalls die ursprüngliche Übersetzung Martin Luthers kennt das Stichwort Familie – natürlich – nicht, sondern spricht vom “Haus”. Damit ist das “ganze Haus” als die grundlegende soziale und wirtschaftliche Einheit aller bäuerlichen und bäuerlich-adligen Kulturen gemeint. Es ließ sich, wie etwa Aristoteles lehrt, in drei zwischenmenschlichen Relationen beschreiben: Ehemann und Ehefrau, Vater und Kinder, Herr und Knecht / Sklave. Diese erfassten die elementaren sozialen Zuordnungen und Unterordnungsverhältnisse, wobei die faktische Stellung der Gewaltunterworfenen (Frauen, Kinder, Sklaven bzw. Knechte) sehr verschieden ausgestaltet war. Immerhin konnten zu ihnen die unverheirateten bzw. unselbständigen Mitglieder der Elterngeneration, also Onkel und Tanten, genauso gehören wie die Knechte und Mägde bzw. ihre Nachkommen.

Das “Haus” (griechisch oikos) war die grundlegende Wirtschaftseinheit, d.h. auch die Denkform, in der Wirtschaft etwa in der griechischen Philosophie reflektiert wurde. Daher der Name “oiko-nomia”, die Lehre von der “Hauswirtschaft”. Was die - tendenziell autarke - Hauswirtschaft einer agrarischen Gesellschaft nicht im Laufe eines Jahres selbst produzierte, konnte in der Regel kaum von außen ersetzt werden. Mißernten führten (bis auf die berühmte Ausnahme der Getreidevorräte des biblischen Josef in Ägypten) zur nackten materiellen Not, die alle Glieder betraf. In diesem Rahmen mußte auch die Versorgung der Alten, Kranken und Behinderten geleistet werden. Das Haus war die zumeist einzig funktionierende Solidargemeinschaft für die Blutsverwandten bzw. für die dem Haus zugeordnete Klientel. Es schützte alle Angehörigen (im Rahmen seiner Potenzen), selbst die Sklaven (also die “Festangestellten”). Nahezu ungeschützt, also aus der Solidargemeinschaft ausgeschlossen, blieben lediglich die Tagelöhner. Sie traf das schlimmste denkbare Los.

Dieses Modell der autarken Hauswirtschaft war so beherrschend und so selbstverständlich, dass auch die (für heutige Verhältnisse sehr kleine) politische Verwaltung größerer Einheiten, der Städte bzw. sogar der Weltreiche, unter ‘oikonomischen’, d.h. hauswirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen und so auch von den führenden Philosophen gelehrt wurde. Das fand auch darin seinen Ausdruck, dass die politischen und wirtschaftlichen Funktionäre großer Reiche mit Bezeichnungen aus dem Vokabular der innerhäuslichen Hierarchie als die “Sklaven” bzw. “Diener” des Königs bezeichnet wurden.

Dies bedeutet aber nach der Entwicklung von der Hauswirtschaft zur städtischen Wirtschaft, von dieser zur Volkswirtschaft und schließlich – tendenziell - zur Weltwirtschaft, dass es aus den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen biblischer Zeiten keine direkte und unmittelbare Weisung für die Lösung heutiger Probleme geben kann.
Wohl aber bleibt für eine christliche, biblisch begründete Ethik die Entdeckung von Grundsätzen bzw. Kriterien möglich und verpflichtend.

4. Die Bedeutung des vierten Gebots

Das – je nach Zählung - vierte oder fünfte Gebot aus dem Dekalog lautet bekanntlich in einer der beiden Fassungen (5. Mose 5,16): “Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der HERR, dein Gott, geboten hat, auf daß du lange lebest und dir's wohlgehe in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.” Wenn dies damals (wie heute) selbstverständlich gewesen wäre, dann hätte man das Gebot nicht geben, lehren und auslegen müssen. Es ist aber das erste soziale Gebot vor allen anderen sozialen Geboten, also in der Reihe, die sich dann in dem “Du sollst nicht töten” usw. fortsetzt. Es ist auch das Einzige, das die (positive) Folge des gebotenen Handelns nennt, während die folgenden Maximen ohne solche Angaben auskommen.

In seinem Kern beschreibt es die Pflicht, Vater und Mutter zu ehren, ihnen wie man auch übersetzen könnte, Gewicht zu verleihen bzw. zuzumessen. Das ist weithin und immer wieder so verstanden worden, als ob es vorwiegend um die immaterielle Ehre, die Autorität der Eltern ging . Das ist nicht falsch, aber einseitig. Die Ehrung lässt sich aber von der einzulösenden materiellen Verpflichtung nicht lösen. Mit dem Gebot dürfte auch die Aufgabe der erwachsenen Kinder beschrieben sein, die alten Eltern angemessen zu versorgen. Diese Form der elementarsten Pflicht dürfte der Anerkennung als Autorität, wie man das hebräische Wort auch verwendet findet, vor- bzw. zuzuordnen sein. Da die antike Wirtschaft des Alten wie die des Neuen Testaments keine außerhäusliche Altersversorgung kennt, sind die Alten, die Kranken und die sozial Schwachen darauf angewiesen, dass sich der Sozialverband um sie kümmert. Es gibt für sei keinen anderen sozialen Ort als das Haus, in dem sie materiell versorgt werden. Dies umfasst "konkret die angemessene Versorgung der alten Eltern mit Nahrung, Kleidung und Wohnung, bis zu ihrem Tod, darüber hinaus einen respektvollen Umgang und eine würdige Behandlung, die trotz der Abnahme ihrer Lebenskraft ihrer Stellung als Eltern entspricht. Dazu gehört schließlich eine würdige Beerdigung."

Die Voraussetzung dieses Gebots ergibt sich aus den Pflichten der Eltern. Sie sind verpflichtet, Kinder durch Belehrung und Unterweisung in das gemeinsame Leben, die Geschichte des Gottesvolkes und damit in die Ehrfurcht vor Gott einzuführen. Vater und Mutter haben auf den hinzuweisen, bei dem Menschenkinder ihre letzte Zuflucht finden können. “Der Tor verschmäht die Zucht seines Vaters; wer aber Zurechtweisung annimmt, ist klug. ... Wer Zucht verwirft, der macht sich selbst zunichte; wer sich aber etwas sagen läßt, der wird klug” , heißt es in den Sprüchen Salomos.

Kinder zu haben und sie angemessen zu erziehen, ist in den Antike die einzige mögliche und denkbare Lebensversicherung, insofern braucht es keine gesonderte Mahnung zum Kinderwillen. Psalm 127,3-5 stellt die unbestreitbare Tatsache fest: “Siehe, Kinder sind eine Gabe des HERRN, und Leibesfrucht ist ein Geschenk. Wie Pfeile in der Hand eines Starken, so sind die Söhne der Jugendzeit. Wohl dem, der seinen Köcher mit ihnen gefüllt hat! Sie werden nicht zuschanden, wenn sie mit ihren Feinden verhandeln im Tor.”

So ergibt sich eine klare gegenseitige Verantwortung der Generationen: Das vierte Gebot setzt voraus, dass die Älteren die Lebensmöglichkeiten der Nachkommen um ihrer selbst willen im Auge haben müssen. Das Gebot selbst “besagt, dass die Jüngeren die “Ausgebrauchten” nicht als Entsorgungsfälle betrachten dürfen, weil sie sonst die Humanität ihrer Gesellschaft beschädigen. Überträgt man das Gebot auf unsere modernen Verhältnisse, dann erinnert es daran, das Egoismus – der dem anderen die Würde abspricht – die Substanz einer menschenwürdigen Gesellschaft zerstört.”  Die Verheißung dieses Gebots “auf daß du lange lebest und dir's wohlgehe in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird” verweist darauf, dass unser Verhalten heute direkte und indirekte Folgen für unsere Zukunft haben wird. Sie kennen alle das berühmte Märchen der Gebrüder Grimm “Der alte Großvater und der Enkel” . In ihm beginnt ein kleines Kind eine Holzschüssel für seine Eltern zu schnitzen. Es hatte bei den Eltern gesehen, wie die den zittrigen Großvater behandelten und mit Essen kurzhielten.

5. Generationengerechtigkeit und Haustafelethik

An mehreren Stellen des Neuen Testaments finden sich nun die von Luther so genannten Haustafeln, die parallel zur ökonomischen Literatur der Zeit Weisungen zum Umgang der Generationen bzw. genauer der Gruppen des antiken Hauses miteinander bieten . Je paarweise werden Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Herren und Sklaven auf ihre soziale Verantwortung hin angesprochen. Dabei werden wie selbstverständlich auch die Dimensionen der Generationengerechtigkeit implizit genannt.

Die Unterordnung von Frauen, Kindern und Sklaven, die sie nahezu selbstverständlich lehren, erscheint uns heute auf den ersten Blick reichlich patriarchal. Das ist sozialgeschichtlich gesehen nicht falsch, sondern eher zu erwarten. Die alttestamentliche Gesellschaft wie die des Neuen Testaments war nicht anders als ihre Umgebung patriarchal, patrilinear und patrilokal strukturiert.

(a) Immerhin ergibt aber ein zweiter Blick etwa in die Haustafel aus Epheser 5f. die Mahnung: “Und ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn...” (6,4). Was ist das anderes, als die Aufforderung an die Eltern, also auch an die politisch Verantwortlichen, das Verhältnis der Generationen nicht über Gebühr zu belasten, also jeweils das Maß des Erträglichen einzuhalten oder in einer Situation wie heute allererst zu finden (s.o.)? Ein erstes Kriterium dürfte also das der Belastbarkeit der Generationen bzw. der Angemessenheit von Belastungen sein.

(b) Im Unterschied zum ökonomischen Schrifttum der Zeit, das heißt den Handbüchern zum Thema “Wie führe ich einen Haushalt?”, fällt im Neuen Testament auf, dass nicht allein die Hausväter auf ihre Verantwortung für die Führung des Haushalts und das bedeutet konkret für die angemessene Behandlung von Frauen, Kindern und Sklaven angeredet werden. Auch die anderen, also die der patria potestas (der väterlichen Gewalt) Unterworfenen werden nämlich direkt angesprochen und an ihre aktive, soziale Verantwortung erinnert . Das Verhältnis der Generationen ist auf Gegenseitigkeit angelegt. Insofern als Frauen, Kinder und Sklaven hier ermahnt und d.h. als Subjekte ethischen Handelns angesprochen werden, ist eine - allerdings asymmetrische - Gegenseitigkeit und die Verantwortung der Einzelnen erkennbar und gemeint. Wie immer diese gegenseitige Verpflichtung heute zu benennen ist, Solidarität oder stärker noch Mitmenschlichkeit, sie beruht auf der gegenseitigen Verpflichtung der Glieder der kleinsten sozialen Einheit, die aber in der größeren sozialen Einheit der christlichen Gemeinde aufgehoben und gehalten wird. Strukturell entspricht diese beiderseitige Verpflichtung der “Sozialpartner” wie die der Gemeindeglieder untereinander dem klassischen Gebot der Nächstenliebe "Du sollst deinen Nächsten lieben - wie dich selbst."  Darin ist enthalten, dass es nicht um einen einseitigen Altruismus geht, der sich selbst vergisst, sondern um eine Beziehung, in der beide leben und in der sie sich ihrer Gegenseitigkeit versichert sein können. Dies schließt ein positives Verhältnis zur eigenen Person und zu den eigenen Bedürfnissen ausdrücklich ein.

(c) Die gegenseitige Verpflichtung hat einen letzten Grund. Er besteht darin, dass es nicht nur die Gegenseitigkeit der Verpflichtungen gibt, sondern eine gemeinsame Verantwortung der Herren und der Knechte vor dem einen gemeinsamen Herrn: “Ihr wißt, daß euer Herr im Himmel ist, und bei ihm gilt kein Ansehen der Person”. Diese Erinnerung sichert, dass kein Mensch den anderen zum Objekt machen darf, sondern seiner Würde (Gottebenbildlichkeit) in der Verantwortung vor Gott eingedenk bleiben muss.

Diese Kriterien eines verantwortlichen Umgangs der gesellschaftlichen Gruppen miteinander lassen sich zwanglos weiter entwickeln, sie bedürfen dessen. Ich deute sie nur an einem Moment der alten Kirchengeschichte an:

Zu den sieben Gründen, warum das Christentum die Antike überlebt hat, rechnet Christoph Markschies den Umstand, dass die hochdifferenzierten ethischen Debatten der Antike durch das frühe Christentum auf den springenden Punkt gebracht, ja zum Teil abrupt abgebrochen und in der Substanz in die Praxis der christlichen Gemeinden überführt wurden. Als Beispiel nennt Marschies das Ende einer “lange(n) Debatte über den biologische und juristische Status des Embryos im Mutterleib durch (die) radikale These von de besondere geschöpflichen Würde”auch des ungeborenen Lebens” einerseits und andererseits das Ende des Rechtes des pater familias neu geborene Kinder annehmen oder aussetzen zu können. Das hat endlich auch die Rechtslage beeinflußt und andere Normen geschaffen, Normen, die uns heute selbstverständlich erscheinen, aber schon gar nicht mehr so selbstverständlich geblieben sind.

6. Eine unmittelbare Übertragung alt- und neutestamentlicher Weisungen auf unsere heutige Zeit und Gesellschaft ist nicht möglich. Wir haben die alte patriarchale, patrilokale und patrilineare Gesellschaft nicht mehr, für die und in der die Zeugen der Bibel Lebensformen entdeckten und weitergegeben haben.

Wie wir unter den modernen Bedingungen, in denen die private Altersvorsorge entkoppelt wurde von der eigenen Familienbiografie, die Sicherung der Älteren gestalten, bleibt unserer Verantwortung anheim gestellt. Wohl aber sind ethische Verpflichtungen und Ziele so elementar formuliert und so grundsätzlich festgehalten, dass sie auch unter unseren Bedingungen im Kern nicht in Frage gesellt, sondern bedacht, ausgeformt und praktiziert werden sollten.

Aus meiner Berufserfahrung, die mich längere Zeit für die junge akademische Generation verantwortlich werden ließ, aus den Erlebnissen als Vater und Großvater und als Bürger, bin ich beunruhigt darüber, dass über 40% der jungen Akademikerinnen in Deutschland keine Kinder haben bzw. haben werden, weil sie persönlich in Karriere und Berufsaussichten das unkalkulierbare Risiko tragen, das Schwangerschaft, Erziehungszeit und Betreuung über lange Jahre darstellen. Es beunruhigt mich weiterhin, dass es immer noch Politiker auf der Grenze zwischen Hochschule und Politik wie Peter Glotz gibt, die der Generation der Berufsanfänger meint, weitere Lasten  in diesem Fall die Last von Studiengebühren – auferlegen zu können, ohne nach den Folgen zu fragen. In dieser Situation mit Augenmaß diese mittlere Generation so zu stellen, dass sie ihre vielfachen Aufgaben auch lösen kann, scheint mir der Kern der vor uns liegenden Aufgabe zu sein. Ich schließe mit dem zentralen Satz aus Wolfgang Hubers Rede: “Es geht um einen Perspektivenwechsel für Familien, für Kinder und für die nach uns kommenden Generationen. Familiengerechtigkeit und Generationengerechtigkeit müssen zu zentralen Themen der heute nötigen Reform werden.”