Eröffnung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (SI)

Wolfgang Huber

Liebe Frau Landesbischöfin Käßmann,
lieber Herr Direktor Professor Wegner,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

Die Eröffnung eines neuen Instituts ist in diesen Zeiten kein alltäglicher Vorgang. Das gilt nicht nur für den kirchlichen Bereich; aber für ihn gilt es in besonderer Weise. Auch wenn ein solches Institut aus der Zusammenführung von zwei Vorgängerinstitutionen entsteht, ist ein solcher Schritt heute ein Zeichen für Gestaltungswillen und Zukunftsorientierung. Deshalb eröffnen wir heute das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD am Standort Hannover mit großer Freude. Ich danke allen, die an der Verwirklichung dieses Projektes mitgewirkt haben und vor allem denjenigen, die sich nun in den Dienst unseres Sozialwissenschaftlichen Instituts stellen. Ich wünsche Ihrer Arbeit gutes Gelingen und intensive Resonanz.

Denn eine solche Arbeit ist von unübersehbarer Dringlichkeit. Als Kirche stehen wir vor neuen und unübersehbaren Herausforderungen. Unsere Gesellschaft durchläuft einen dramatischen Wandel, für den der Alterswandel der allerdeutlichste Indikator ist. Die Rolle von Religion in dieser Gesellschaft wandelt sich; im selbstbewussten Umgang mit religiöser Pluralität sind wir noch immer ungeübt. Unsere Kirche fragt in vielfältigen Formen neu nach Identität und Auftrag; aber uns allen ist deutlich, dass mit diesem neuen Fragen nicht ein Rückzug aus dem Handeln in die Gesellschaft hinein und aus der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung gemeint sein kann. Denn in dieser Gesellschaft leben die Menschen, die wir mit dem Evangelium erreichen wollen. Die Kommunikation des Evangeliums schließt gesellschaftliche Präsenz ein. In einer komplexen Gesellschaft aber kann es gesellschaftliche Präsenz der Kirche nicht ohne sozialwissenschaftliche und sozialethische Kompetenz geben. Natürlich trägt zu ihr entscheidend die sozialwissenschaftliche und sozialethische Forschung an den Universitäten und insbesondere an den theologischen Fakultäten bei. Aber diese Kompetenz muss zugleich so gebündelt werden, dass sie unmittelbar für die kirchlichen Handlungsaufgaben fruchtbar gemacht wird. Das ist in kurzen Worten die Zielsetzung, von der wir uns bei der Entscheidung für das Sozialwissenschaftliche Institut mit Sitz in Hannover haben leiten lassen. Und im Blick auf diese Zielsetzung wiederhole ich: Es ist Anlass zu großer Freude, dass wir dieses Institut heute eröffnen können.

Dankbarkeit für das mit der Gründung des Institus Erreichte verbindet sich als mit der Vorfreude auf das, was dieses Institut zu Stande bringen soll. In einer schwierigen Zeit macht diese Stunde deutlich, dass wir in unserer Evangelischen Kirche zu klaren Entscheidungen bereit und zu kraftvollen Schritten in die Zukunft entschlossen sind. Jeder Neubeginn ist mit schmerzlichen Abschieden verbunden; das ist gerade in diesem Fall so. Ich habe viel Verständnis für die Empfindungen derer, bei denen das Gefühl des Abschieds noch stärker ist als das Gefühl des Neubeginns. Und doch sehe ich den Schritt, den wir heute gehen, mit einem hoffnungsvollen Blick. Auch in dem heutigen Ereignis spiegelt sich etwas von dem, was wir an vielen Stellen spüren können: Bereitschaft zum Aufbruch in schwieriger Zeit. Solche Zeichen des Aufbruchs und des Neuanfangs kann man an vielen Stellen sehen. In den Gemeinden entstehen wie jedes Jahr so auch in 2005 neue Jugendkreise, Bibelgesprächskreise und offene Angebote für Menschen jeden Alters. Wir feiern die Wiedereinweihung renovierter Kirchengebäude - nicht nur in Dresden -, wir eröffnen neue Schulen in christlicher Trägerschaft, wir gründen neue Verbände für neue Aufgabenbereiche, wir spüren eine verstärkte Zuwendung etwa zu den Themen Kinder und Familie, Bildung und Ausbildung. Gerade in den vergangenen Monaten bemerken wir eine verstärkte Zuwendung zu Fragen des Glaubens, der eigenen Lebensgestaltung, der kulturellen und religiösen Identität unseres Landes und Europas. Das tiefe Erschrecken über das Seebeben im Indischen Ozean hat nach dem Dienst der Kirche rufen lassen. Wir stehen als Kirche vor schweren finanziellen Problemen; Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen sich begreifliche Sorgen um ihre Zukunft; Gemeindeglieder sind beunruhigt durch notwendige Umstrukturierungen. Aber wir versuchen auf vielen Ebenen, auf diese Situation mit Auftragsgewissheit und Weitsicht zu reagieren. Das ist nötig für eine Kirche, die auch in einer schwierigen Situation eine lebendige und kraftvolle Kirche sein will.

Ein solcher Neuanfang wäre zu allen Zeiten bemerkenswert, er ist heute in besonderer Weise erfreulich. Aber genauso wie an dem Blick nach vorn liegt mir daran, die beiden Wurzeln des neuen Instituts zu würdigen: Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD in Bochum und das Pastoralsoziologische Institut der Hannoverschen Landeskirche mit Sitz in der Evangelischen Fachhochschule Hannover. Mir ist bewusst, dass für beide Institute der Weg zum Sozialwissenschaftlichen Institut mit Enttäuschungen und Verletzungen verbunden war. Aber andere Wege haben sich schließlich als weniger überzeugend erwiesen. Wir haben deshalb immer wieder dafür geworben, die inhaltlichen Perspektiven, aber auch die strukturellen Chancen zu sehen, die in diesem Projekt liegen. Der Rat der EKD ist in hohem Maß motiviert, das Seine zu einem solchen Erfolg beizutragen.

Ich hatte im Lauf der vergangenen Jahrzehnte vielfältigen Anlass, die Arbeit dieser beiden Institute wahrzunehmen, zu nutzen und für mich fruchtbar zu machen. Es ist für mich deshalb inhaltlich sehr gefüllt, wenn ich für diese Arbeit namens der Evangelischen Kirche in Deutschland Dank sage. Beide Institute haben sich je in ihrem Bereich für unsere Kirche in hohem Maß verdient gemacht. Ich freue mich besonders, dass Professor Günter Brakelmann, der langjährige Leiter des SWI, dem ich mich als langjähriger Weggefährte auch persönlich sehr verbunden weiß, heute unter uns ist und möchte ihm für seinen persönlichen Einsatz, aber auch für die unter seiner Leitung erarbeiteten Ergebnisse des SWI ganz ausdrücklich danken. Der letzte Leiter des SWI, Dr. Przybylski ist heute leider nicht unter uns; das mindert aber nicht den Dank für seine Arbeit und seine Leitungstätigkeit in einer schwierigen Übergangssituation. Ich danke persönlich den anwesenden Mitarbeitern des SWI, Herrn Jablonowski und Herrn Rinderspacher, die mit an das SI gekommen sind, Herrn Claußen, der dem Rat der EKD als Beauftragter für Fragen der Arbeitslosigkeit dient, und Herrn Volz, der inzwischen als Leiter der Männerarbeit der Evangelischen Kirche im Rheinland tätig ist. Natürlich haben zum SWI - ebenso wie zum PSI - immer auch nicht-wissenschaftliche Mitarbeitende gehört, nicht zuletzt im Sekretariat. Wer selbst in einem derartigen Institut gearbeitet hat, weiß, in welchem Umfang das Gelingen der Arbeit auf ihren Schultern ruht. Auch ihnen danke ich für die bisherige Arbeit herzlich.

Die Kontinuität des SI zum PSI wird bereits durch die Räumlichkeiten hier auf dem Gelände der Evangelischen Fachhochschule Hannover deutlich. Auch mit Blick auf das PSI kann ich nicht die gesamte Geschichte nachzeichnen. Ich begrüße sehr herzlich und in großer Dankbarkeit den langjährigen Leiter, Karl-Fritz Daiber, Ingrid und Wolfgang Lukatis und Pastor Grosse, der weiterhin zu den aktiven Mitarbeitern des SI gehören wird. Wer diese Namen nennt, weiß zugleich, dass die Arbeiten dieser wichtigen Forschungsstelle weit über den Bereich der hannoverschen Landeskirche ausgestrahlt haben.

Mit Dankbarkeit blicken wir auf die Geschichte und die Leistungen von SWI und PSI zurück, dankbar bin ich aber auch für die Initiative, die Veränderungen, die vor wenig mehr als einem Jahr in beiden Instituten absehbar waren, für den Neuanfang in Gestalt des SI zu nutzen. Ich halte die Form der Kooperation zwischen Landeskirche und EKD und damit das Konzept der intelligenten Bündelung für Ressourcen, das sich orientiert an den sachlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen, für wegweisend. Die nicht nur für kirchliche Verhältnisse ausgesprochen schnelle Klärung der mit der Institutsgründung verbundenen Fragen und die Umsetzung der Entscheidungen bis zur formellen Eröffnung heute sind beeindruckend und vorbildhaft. Dass die Freude über den mit der Gründung des SI gewagten neuen Aufbruch Lob und Zustimmung sowohl unter inhaltlichen als auch unter planerischen (das heißt immer auch: finanziellen) Gesichtspunkten erhält, ist eine sehr erfreuliche Rückmeldung an diejenigen, die die Gründung des SI auf Seiten der hannoverschen Landeskirche und auf Seiten der EKD vorbereitet haben. Ich nenne stellvertretend für viele Beteiligte als Koordinatoren dieses Prozesses Vizepräsident Schindehütte von der hannoverschen Landeskirche und Oberkirchenrat Kreuter von der EKD.

Nun geht es an die Arbeit, die wir alle mit herzlichen Segenswünschen begleiten. Sie gelten zunächst Prof. Gerhard Wegner, der bereit war, die Leitung des SI zu übernehmen, worüber ich mich sehr freue. Ein schönes Signal finde ich es, dass in beiden Arbeitsbereichen des Instituts zum 1. Januar je ein neuer Mitarbeiter beziehungsweise eine neue Mitarbeiterin ihren Dienst aufgenommen haben: Matthias Zeeb als Volkswirt und Petra-Angela Ahrens als Pastoralsoziologin. Ebenso sei Frau Messmer-Klingen und Frau von Nathusius gedankt, die im Sekretariat des SI arbeiten. Die Mitarbeitenden, die bereits in den Vorgängerinstituten tätig waren, habe ich bereits genannt.
Sie alle, das feste Team des SI, das sicher bald durch Projektmitarbeiter ergänzt werden wird, sollen für die Kompetenz des deutschen Protestantismus in sozialwissenschaftlichen und pastoralsoziologischen Fragen bürgen. Sie sind der Grund für unsere Vorfreude auf weiterführende, für unsere Kirche und für unsere Gesellschaft hilfreiche Ergebnisse der Arbeit des Instituts.

Ohne Zweifel sind wir Zeugen tiefgreifender sozialer Veränderungen. Diese Veränderungen betreffen sowohl die Kirche auf allen Handlungsebenen wie auch die Gesellschaft insgesamt. Unabdingbare Voraussetzung für eine angemessene Reaktion auf diese Veränderung ist eine solide Bestandsaufnahme und eine gründliche, wissenschaftlich fundierte und kritische Anfragen berücksichtigende Analyse. Dafür wollen wir dieses sozialwissenschaftliche und sozialethische Kompetenzzentrum nutzen. Sie werden gewiss auch in mir persönlich einen interessierten und aufmerksamen Leser Nutzer Ihrer Arbeit erleben. Sie wissen, dass manche finanzielle Entwicklung Diskussionen über das zukünftige Profil unserer Kirche beschleunigt hat. Den Schatz der Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD wollen wir auch unter dieser Fragestellung heben. Die Frage nach dem "Unverzichtbaren", nach dem "Kern" unserer Arbeit wird uns sicher langfristig ebenso begleiten wie die Frage, wie die Kirche zielgruppenspezifisch arbeiten und ihre lebensbegleitende Kompetenz stärken kann. Für den pastoralsoziologischen Arbeitsbereich des SI liegt auf der Hand, dass neue Konzepte für die Gemeindearbeit, für Gottesdienst und Verkündigung, für Gruppen und Kreise ebenso wie für die Gemeindeleitung auf solide theoretische Vorarbeit und kritische wissenschaftliche Begleitung angewiesen sind. Dasselbe gilt für die Wahrnehmung der öffentlichen Verantwortung der Evangelischen Kirche: Unsere öffentlichen Äußerungen sind auf gründliche Vorarbeiten und kompetente Konzeption und Reflexion angewiesen. Kaum etwas wäre peinlicher, als wenn ein kirchlicher Beitrag, dem in der gesellschaftlichen Debatte stets eine besondere Rolle zukommt, sachlich fehlerhaft wäre. In vielen Fragen wird man mit guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein können, in vielen Fragen wird es Positionen geben, die sich sehr kritischen Rückfragen des Glaubens stellen müssen, aber in jedem Fall müssen wir mit unseren Stellungnahme auf der Höhe der Diskussion sein.

Damit ist schon deutlich: Das, was hier geschehen soll, gehört selbst zum Kern des kirchlichen Auftrags und hat deshalb auch an diesem Auftrag seinen entscheidenden Bezugspunkt. Wir haben in diesen Fragen eine Kompetenz aufgebaut und in der zurückliegenden Zeit zur Geltung gebracht, die jetzt weiterzuentwickeln und zu aktualisieren ist. Viele Beispiele machen das deutlich. In den nächsten Wochen wird der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vorgelegt werden. Die Entschließungen des Bundestags, in denen diese Berichterstattung beschlossen wurde, beziehen sich ausdrücklich auf eine entsprechende Forderung des Gemeinsamen Wortes der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage. Oder denken Sie an die immensen Herausforderungen des demographischen Wandels: In der erst am Anfang stehenden familien- und generationenpolitischen Diskussion ist die Auseinandersetzung um grundlegende Fragen der Werte und des Menschenbildes und damit der Beitrag der evangelischen Kirche unverzichtbar. Wir schulden es nicht nur unserer Gesellschaft, uns in ihr kritisch und deutlich erkennbar als Kirche zu engagieren, wir werden auch durch unseren Glauben dazu verpflichtet, nach außen erkennbar werden zu lassen, wozu Gott uns und unsere Gesellschaft ruft. Das arbeitsweltbezogene, sozialpolitische und sozialethische Engagement gehört zum Kernauftrag der Kirche, ist unverzichtbarer Bestandteil unseres Glaubens und Lebens.

Auf die Unterstützung bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung durch Sie, den Vorstand und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland, freue ich mich mit großer Erwartung und wünsche Ihnen für Ihre Arbeit Gottes Segen.