Die evangelische Kirche als gesellschaftlicher Akteur – Anforderungen an Sozialethik und Pastoralsoziologie

Prof. Dr. Gerhard Wegner, Gründungsdirektor des SI

Vortrag anlässlich der Eröffnung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD

Es gibt einen vordergründigen Anlass, heute an diesem Ort zugleich „Anforderungen an Sozialethik und Pastoralsoziologie“ vorzutragen: Dies ist ganz einfach die Tatsache, dass im heute neu eröffneten Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD beide Arbeitsbereiche unter einem Dach vereinigt worden sind. Zum einen das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD aus Bochum, das sich über 35 Jahre äußerst produktiv mit sozialethisch relevanten Fragen wie Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Wirtschaftsethik, Fragen der Nachhaltigkeit und vielem mehr beschäftigt hat. Zum anderen das Pastoralsoziologische Institut der Evangelischen Fachhochschule Hannover, der früheren Pastoralsoziologischen Arbeitsstelle der Ev.- Luth. Landeskirche Hannovers, das ebenfalls auf eine über 30 jährige erfolgreiche Tätigkeit zurückblicken kann. Das PSI war im Bereich Aus- und Fortbildung engagiert und hat sich mit Fragen der sozialwissenschaftlichen Ausleuchtung religiöser Praxis und den Arbeitsfeldern der evangelischen Kirche beschäftigt und dazu eine große Zahl von vor allem empirischen Untersuchungen durchgeführt. Beide Institute haben dazu beigetragen kirchliche Praxis in der komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu orientieren und die Rolle und Gestalt des christlichen Glaubens in der Gesellschaft zu klären.

Beide Arbeitsbereiche unseres Instituts stellen sozialwissenschaftliche Kompetenz im Auftrag der Kirche bereit. Das ist nicht selbstverständlich. Mit dem SI hält unsere Kirche daran fest, dass sozialwissenschaftliche Aufklärung zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung und zur Steuerung eigener Prozesse nötig bleibt.  Kirchliche Leitungsentscheidungen und kirchliches Handeln insgesamt braucht auch die Sozialwissenschaften, um sich umfassend über den Weg der Verkündigung des Evangeliums klar zu werden. Dabei geht es nicht – und kann es nicht gehen - um eine Ersetzung der Theologie als Leitwissenschaft der Kirche, sondern um eine kreative Begegnung, die dazu helfen kann klarer und deutlicher zu sehen, was die Gestalt christlichen Glaubens in den Umbrüchen der sozialen, kulturellen und politischen Entwicklungen heute ausmacht.

Die Evangelische Kirche als gesellschaftlicher Akteur

Und damit komme ich über den vordergründigen Anlass hinaus zu dem eigentlichen Grund, warum Sozialethik und Pastoralsoziologie zusammengehören: weil beide Funktionen der evangelischen Kirche in ihrer Rolle als Akteurin in der Gesellschaft beleuchten. Die Kirche trägt zum einen Verantwortung für ihre Gestalt und ihre Ordnung, dafür, wie sie sich selbst organisiert. Für diesen Prozess der eigenen Steuerung können Überlegungen aus der Pastoralsoziologie hilfreich sein. Das, was dabei herauskommt, die soziale und kulturelle Gestalt der Kirche, ist zum anderen immer auch zugleich Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Durch ihre Gestalt nimmt sie Einfluss auf die Gesellschaft. Wie Kirche sich entwickelt und wie christlicher Glaube in ihr erfahrbar wird, zeigt sich deswegen, was es mit ihrer Sozialethik auf sich hat. Die Organisation der Kirche ist immer auch gelebte Sozialethik. Deswegen gehören Pastoralsoziologie und Sozialethik zusammen.

Dies gilt besonders dann, wenn wir die missionarische Dimension des Glaubens überzeugend ausgestalten wollen. Gerade sie ist nicht ohne die von seiner wahrnehmbaren Gestalt faktisch ausgehende Sozialbotschaft zu haben. Da, wo die Kirche Menschen gewonnen hat und gewachsen ist, hatte dies immer mit ihrer erfahrbaren Gemeinschaftsgestalt zu tun. An ihr lässt sich ablesen, welche Lebensformen christlicher Glaube ermöglicht. Sie ist das, was vom Glauben, den man nicht sehen und anfassen kann, zunächst erfahren wird. Mission braucht Gesellschaftsdiakonie. Wo Gottesdienste so gefeiert werden, dass „man nicht durch die Woche kommt“, wenn man an ihnen nicht teilnimmt – da blüht die Kirche auf – und die Menschen auch.

Wenn man dies so sagt, dann wird – gerade im Vergleich zu den Texten der Gründungsgestalten von SWI und PSI - deutlich, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Das ist schon alleine an der Rede von Kirche als gesellschaftlicher Akteurin ablesbar. Natürlich ist Kirche immer ein gesellschaftlicher Akteur gewesen und hat entsprechend gehandelt. Allerdings hat es eine ganze Zeit gebraucht, bis sich auch ein entsprechendes Selbstverständnis entwickelt hat, das evangelische Kirche bewusst als intermediäre gesellschaftliche Institution begreift. Lange Zeit hat sie sich eher als eine staatsanaloge Institution begriffen, deren Partner eben der Staat war – die Menschen gehörten ohnehin dazu.

An diesem Punkt sind die Umbrüche, vor denen wir heute stehen, mit Händen zu greifen. Ob es sich dabei nun um in der Wirkung noch längst nicht abzuschätzende Veränderungen durch die Übernahme moderner Management- und Organisationstechniken in der Kirche handelt, oder ob es um eine verstärkte Kampagnen- und Werbefähigkeit in die Gesellschaft hinein geht – es ist deutlich zu erkennen, dass wir uns als eine Organisation im mittleren Bereich der Gesellschaft, zwischen dem Staat und den Individuen, begreifen müssen. Wenn nicht alles täuscht, werden diese Veränderungen auf die Dauer das Gesicht der Kirche verändern.

Die „Kernkompetenz“: Kommunikation des Evangeliums

Eines bleibt allerdings wie es immer war: Die Kirche ist keine Organisation in der sich Menschen zur Vertretung ihrer Interessen in der Gesellschaft zusammenschließen. Sie beruht darauf, dass sie sich als von Gott gestiftet und deswegen seiner übergreifenden Wahrheit verpflichtet weiß. Ihre „Kernkompetenz“ bleibt die Verkündigung des Evangeliums in vielen verschiedenen Formen. Ihre Organisationsaufgabe ist es vor allem, die Freiheit dieser Verkündigung sicherzustellen. Das bedingt von vornherein, dass Raum und Zeit für die „Überraschungen Gottes“, für die „Epiphanie des Heiligen“ im Mittelpunkt stehen müssen, weil dadurch alles, was in der Kirche geschieht, seinen Horizont und Rahmen hat. Damit wird das menschliche Handeln nicht abgewertet, sondern im Gegenteil: Es gerät in die richtige Beleuchtung.

Karl-Fritz Daiber, der mit anderen zusammen das PSI 1971 gegründet hat, formulierte schon 1979 in dieser Richtung pointiert: „Die Kirche lebt überhaupt nicht davon, dass sie gute Synodale und Älteste, Pfarrer und Bischöfe hat, die Kirche lebt ausschließlich von der Gegenwart Jesu.“ Sagt dann aber auch: „Diese Aussage wäre indessen missverstanden, wenn sie dazu verleiten würde, das Menschenmögliche in Gemeinden und Kirchen nicht zu tun und darum auch jene Erfahrungen nicht aufzunehmen, die in anderen sozialen Feldern gemacht werden.“

Genau darum soll es auch im SI in Zukunft gehen. Um die Aufarbeitung solcher Erfahrungen zur Stärkung der Menschen, ihres Glaubens und der Kirche. Dabei werden Fragen nach den wirklich prägenden Wertentscheidungen und wirkenden Leitbildern in der sozialen, politischen und kulturellen Wirklichkeit, aber auch in der Gestaltung von Organisationen, im Vordergrund stehen. Wohin wollen wir in unserem Land? Wohin mit Europa? Wohin kann es überhaupt gehen? Wie werden die notwendige Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und das soziale System ausbalanciert? Man hat bei den Reformen des vergangenen Jahres eine entsprechende Debatte schmerzlich vermisst.

Antworten auf diese Fragen ersetzen freilich nicht die Urteilskraft derjenigen, die die Maximen des Glaubens und seiner Ethik umsetzen müssen. Unser Institut will – wie Kirche insgesamt - in dieser Hinsicht nicht selbst Politik machen, sondern gute, lebensdienliche Politik möglich machen. Seine Thesen und Projekte unterstützen und stärken – wenn es gut geht - die Handlungsfähigkeit von Christen in der Gesellschaft. Das Handeln selbst können sie nicht ersetzen.


Anforderungen an Sozialethik und Pastoralsoziologie

Aber was hat es nun mit den Anforderungen an Sozialethik und Pastoralsoziologie konkret auf sich? Welche Aufgaben kommen auf sie in den nächsten Jahren zu? Wo liegen die Herausforderungen? Es wäre vermessen, an dieser Stelle eine umfassende Bilanz der sozialethischen und pastoralsoziologischen Arbeit, und sei es nur der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, zu ziehen. Ich konzentriere mich deswegen auf einige Ausschnitte, die nach den bisherigen Diskussionen im Vorstand und im Team des SI in den kommenden Jahren eine gewichtige Rolle spielen sollen.

1.  Sozialethik

Die protestantische Sozialethik hat die Gestaltung des Gesellschaftsmodells der alten Bundesrepublik Deutschland begleitet und zentrale Entscheidungen, die im Hintergrund einer verantwortlichen Sozialen Marktwirtschaft stehen, mit getragen und unterstützt. Bisweilen wird dies nicht mehr recht wahrgenommen. Traugott Jähnichen und Günther Brakelmann – einer der „Väter“ des Bochumer SWI - haben deswegen 1994 formuliert: „Wäre man sich der Nähe der eigenen Tradition zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft bewusster gewesen, hätte man selbstbewusster und souveräner über die Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft diskutieren können.“

Zu deren wesentlichen Elementen gehören eine Reihe von Institutionen wie die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Partizipation und Mitbestimmung in Unternehmen, die Einrichtung von Tarifverträgen, des Kündigungsschutzes, der beständigen Humanisierung der Arbeit, des Sozialversicherungssystems, der Absicherung von Arbeitslosen, bis hin zum sozialen Wohnungsbau und vielem mehr. Insgesamt ist es ein Gesellschaftsmodell, das auf Ausgleich und dem Zwang zur Einigung gründet - also die Existenz unterschiedlicher Interessen bewusst voraussetzt. Grundlegend ist die verständige Bejahung einer marktwirtschaftlichen Grundorientierung, in der allerdings die Kräfte von Kapital und Arbeit als aufeinander angewiesen und ineinander gefügt, d.h. letztlich als gleichberechtigt begriffen werden. Das Ziel ist eine wirtschaftlich leistungsfähige und dynamische – aber auf Ausgleich, auch auf die Bewahrung gewisser Gleichheitsstandards – ausgerichtete und immer wieder korrigierbare gesellschaftliche Entwicklung.

Behält man diese Grundoption im Blick, dann tun sich heute eine Reihe von Problembereichen auf, die es zu bearbeiten gilt. Drei davon seien hier benannt:

- Das Problem des Paradigmenwechsels in den Leitbildern der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.
- Die Frage nach der Entwicklungsrichtung der Wirtschaft.
- Schließlich die schon klassische Problematik der Zukunft der Arbeit und der Qualität des Lebens.

Zunächst zur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Hier greift spätestens seit dem 1. Januar ein deutlicher Paradigmenwechsel, den wir mit dem Namen Hartz verbinden. Es geht dabei um mehr als nur um einige Korrekturen: Hartz IV ist ein in Paragraphenform gefasstes neues Denken über die Motive menschlichen Handelns, der Ursachen von Arbeitslosigkeit und darüber, wie der Staat seinen Bürgern helfen soll – oder auch nicht. Ein großes soziales Experiment, das unser Land verändern soll. Sein Kern besteht darin, die sozialen Sicherungsleistungen in Zukunft schneller als bisher auf Bedürftigkeit absenken zu können. Etwas grob gesagt: Das soziale Sicherungssystem garantiert in Zukunft für wesentlich mehr Menschen als bisher nur noch eine Grundsicherung in Höhe der Sozialhilfe. In den Gesetzen sind zugleich eine große Zahl neuer Instrumente vorgesehen, um Menschen zu unterstützen, wieder Arbeit zu finden – aber auch die Disziplinierungsmöglichkeiten wurden verschärft. Wenn das Instrumentarium richtig in Gang kommt – und wenn sich vor allem auch die wirtschaftlichen Daten verbessern – wird man sehen, ob  das Verhältnis von Fördern und Fordern als ausgeglichen erlebt wird.

Dass jedoch insgesamt das Ziel Leistungsabbau ist, wird man nicht leugnen können. Die reale Möglichkeit ist, dass die Entwicklung zwar durchaus zu mehr Arbeitsplätzen – vor allem im Niedriglohnbereich – führen kann, parallel dazu aber mehr Armut entsteht. „Mehr Jobs durch mehr Ungleichheit“ – ist das unsere Zukunft? Geht der Trend zu einer zwar arbeitenden aber am Rand der Armut lebenden Unterklasse? Schaut man sich bestimmte Tarifverträge heute an, so haben wir diese Situation bereits. Soll es so bleiben? 

Diese Frage stellt sich noch dringender, da es sehr wahrscheinlich ist, dass das mögliche wirtschaftliche Wachstum in Deutschland nicht mehr genügend Arbeitsplätze schaffen wird und wir andere Wege gehen müssen, um uns in Zukunft vor einer immer weiter wachsenden sozialen Kluft zu schützen. Sie kennen die dementsprechenden neuesten Zahlen. Die betuchtesten 10 % der Haushalte besitzen 47 % des gesamten privaten Nettovermögens von 5 Billionen Euro und ihr Anteil ist noch gestiegen. Der Anteil der unteren 50 % aller Haushalte beläuft sich lediglich auf 4 % und dieser Anteil ist noch gefallen. Man kann sich damit trösten, dass diese Zahlen in anderen Ländern noch viel schlimmer ausfallen. Wichtiger allerdings wäre die Frage, welche Maßstäbe wir eigentlich haben.

Besonders drastisch ist die Situation, was die Bildungschancen in Deutschland anbetrifft. Auch diese Situation ist bekannt. Es gibt kaum ein Land der Welt, in dem die Bildungschancen von Kindern so sehr vom Status der Eltern abhängen wie in Deutschland. Die Lage ist heute schlechter als vor den großen Bildungsreformen Ende der sechziger/ Anfang der siebziger Jahre. Die Chance für ein Kind aus einem Elternhaus mit hohem sozialen Status, ein Studium aufzunehmen, ist mehr als 7 mal größer als die eines Kindes aus einer Facharbeiterfamilie.

Diese Situation ist mit Gerechtigkeitswerten kaum zu vereinbaren und sie ist auch ein gewaltiger Verschleiß von Human-Ressourcen, der wertvollsten Ressourcenart, die es gibt – und zwar gerade in einem Land, dem die Kinder fehlen. Mit Jürgen Kaube in der FAZ kann man schlicht feststellen: „dass es in diesem Land eine immense Anzahl von Kindern gibt, die um die Teilhabe an einem selbstbestimmten Leben gebracht werden.“

Angesichts dieser Situation kann die Rede von mehr Eigenverantwortung zynisch klingen. Wirkliche Eigenverantwortung kann nur derjenige übernehmen, der selbst Schutz und Fürsorge erlebt hat. Wer diese Erfahrung vor allem in der Zeit als Kind nicht gemacht hat, der hat es schwer. Und gar mitentscheiden in der Gesellschaft, ein mündiger Bürger sein, kann nur der, der sich nicht um alltägliche Fragen des Überlebens kümmern muss.
 
Die Entwicklung dieser grundlegenden Fähigkeiten sichert nicht der Staat. Was es braucht ist eine stärkere Zuwendung zu Familien. Da sind uns viele Länder weit voraus. Die demografische Entwicklung ist ja kein Naturgesetz – sie hat auch damit zu tun, dass das Leben mit Kindern für viele kein attraktives Leitbild mehr ist, und Kinder nur noch als Kostenfaktoren begriffen werden, die man, wie man das auch sonst in der Gesellschaft mit Kosten macht, minimieren muss. Wo solch eine Haltung greift liegt jedoch eine Gesellschaft im Sterben. Was wir brauchen ist eine neue Art der Umverteilung – Umverteilung in die Zukunft, d.h. in unsere Kinder.

Was sich auf diese Weise in Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zeigt ist nicht zuletzt der Ausdruck von Umbrüchen im Wirtschaftssystem. Hier ist der Veränderungsdruck gewaltig. Hat die Idee der Sozialen Marktwirtschaft noch eine Zukunft? Das Gemeinsame Wort der Evangelischen und Katholischen Kirche von 1997 hat dies noch nachdrücklich betont und zugleich eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft gefordert. Das Denken in der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft setzt aber ein bestimmtes Wirtschaftsmodell voraus, das auf der Zurechnung von personaler Verantwortung für wirtschaftliche Entscheidungen und auf einer sich sozusagen „im Realen“ abspielenden Wirtschaft basiert, die ihrerseits gesellschaftliche Zwecke erfüllt.

Nun gibt es aber längst ganz andere Tendenzen, die wirtschaftliche Entwicklung von einem abstrakten Investitionsgeschehen her angetrieben sieht, in dem alles, was es nur gibt, vom wirtschaftlichen Nutzen her bewertet und Renditeerwartungen unterworfen wird. Das kann absurde Züge dann annehmen, wenn auch anerkannte Gemeingüter einer solchen Prüfung ausgesetzt werden. So gab es vor kurzem einige Äußerungen, die die begonnene Justizreform mit einer Verbesserung des Wirtschaftsstandorts Deutschland rechtfertigten. Sollen also auch Fragen der Gerechtigkeit dem ökonomischen Kalkül untergeordnet werden?

Paul Kirchhof hat die Alternative, um die es hier geht, vor kurzem in der FAZ benannt. Es geht darum, ob die Kirchen „eine Wirtschaftsordnung befürworten, in der das anonyme Fondseigentum regiert, das sich in Sekundenschnelle um den Erdball bewegt und allein nach Renditeerwartungen platziert, oder aber das Verantwortungseigentum fördern, in dem der Unternehmer mit seinem Namen und seinem Vermögen die Qualität seiner Leistung verantwortet.“ (FAZ vom 3. Juni  2004) 

In welche Richtung wird sich die Entwicklung unserer Wirtschaft bewegen? Hat sie sich als erfolgreichstes „System“ längst aus dem Werteverbund der Gesellschaft verabschiedet? Lässt sich überhaupt noch von gemeinsamen geteilten Zielen sprechen, denen auch die Wirtschaft verpflichtet ist? Gibt es in dieser Hinsicht noch so eine Kultur, die das gesellschaftliche Leben grundiert? Dies sind sehr grundsätzliche Überlegungen - natürlich. Aber man kommt ja wirklich ins Grübeln, wenn man z.B. an jene Nachrichten kurz vor Weihnachten denkt, nach denen die Deutsche Bank 18 % vor Steuern auf das eingesetzte Kapital verdient, dennoch aber 2000 Arbeitsplätze abbaut, weil die Rendite auf 25% steigen muss – sonst könne man im internationalen Wettbewerb nicht mithalten. Eine Nachricht die, wie es in der SZ hieß, geeignet ist, die Marktwirtschaft zu diskreditieren. Wenn schon solche Gewinne nicht ausreichen um Arbeitsplätze zu sichern, was dann? Natürlich kann man sich schlecht vorstellen, dass sich angesichts globaler Konkurrenz deutsche Konzerne mit weniger zufrieden zu geben als andere. Aber: Ist das wirklich ein Weg in die Zukunft? Vor allem ein Weg, der das Vertrauen der Menschen in die Zukunft sichert? Was könnten Alternativen sein?

Schließlich: Die Zukunft der Arbeit und der Qualität des Lebens. Unsere heutige Situation ist im historischen Vergleich einmalig. Noch nie waren die Produktivkräfte so umfassend entwickelt, noch nie brachte der Einsatz eines industriellen Arbeiters so viel Leistung wie heute. Das Ausmaß des gesellschaftlichen Reichtums ist gewaltig. Immer mehr Güter können mit immer weniger Arbeit produziert werden – und die auf uns zu kommenden technischen Innovationen werden diesen Prozesse noch gewaltig beschleunigen. Es wird weniger Arbeit geben – an diesem Trend werden auch die Hartz-Gesetze nichts ändern.

Kurt Biedenkopf hat die Herausforderung, vor der wir stehen, auf den Begriff gebracht: „Worum es deshalb geht, ist nicht, mehr Wachstum für mehr Beschäftigung zu fordern. Wir sollten uns vielmehr die Frage stellen, warum sich der hohe Einsatz von Wissen und Kapital nicht zum Wohle unseres Landes und seiner Menschen auswirkt, sondern zum Nachteil vieler Arbeitsloser.“ (Die Zeit vom 25.11.04)

Wenn man die Situation nüchtern in den Blick nimmt kann man auch ihre gewaltigen Chancen würdigen: die Chancen nämlich mehr Freiheit – vor allem mehr Zeit – für alle zu schaffen – das Projekt des Zeitwohlstandes. Wir erleben in dieser Hinsicht z.Z. einen massiven Roll-Back. Arbeitszeitverlängerungen mögen ja im Hinblick auf den Renteneinstieg sinnvoll sein – was die Verlängerung der Wochenarbeitszeit anbetrifft, sind sie es nicht. Wer dieses Ziel betreibt, riskiert – jedenfalls kurzfristig – eine höhere Arbeitslosigkeit, auch wenn mittelfristig die Senkung der Arbeitskosten ökonomisch sinnvoll sein kann. Ähnlich ist es mit der Abschaffung von Feiertagen. Langfristig kann ein sinnvoller Weg nur über das Teilen von Arbeit – so naiv das ja auch klingen mag - und eine neue Wertschätzung von Freizeit, Eigenarbeit und nicht zuletzt Muße gefunden werden. Freie Zeit zu haben ist nicht nur ein wesentlicher Faktor von Lebensqualität, sondern hat auch viel mit der kulturellen Integration der Gesellschaft zu tun.

2. Pastoralsoziologie

Nun zum Feld der Pastoralsoziologie. Hier geht es um die Aufbereitung soziologischer Theorien, Einsichten und Instrumente als Hilfsmittel und zur Ausleuchtung christlicher und kirchlicher Praxis. Durch die Renaissance der Religionssoziologie in Deutschland seit den neunziger Jahren ist der Bereich der Fragestellungen erheblich angewachsen. Drei für das SI in Zukunft relevante Themenbereiche seien herausgegriffen:

- Fragen nach der Reichweite kirchlicher und religiöser Kommunikation.
- Studien zur Organisationsentwicklung der Kirche.
- Schließlich: die Durchführung von Wirkungsanalysen und Evaluationen kirchlicher Praxisfelder.

Wenn sich evangelische Kirche heute immer deutlicher als eine in der Gesellschaft aktive Organisation begreifen muss, braucht sie Aufklärung über die Reichweite ihrer Kommunikation. Welche Prägekraft in der Gesellschaft hat sie tatsächlich? So ist unsere Kirche nach wie vor mit hohen Austrittszahlen konfrontiert, die mit bestimmten Bildern von Kirche in den Gruppen, Schichten und Milieus unserer Gesellschaft zusammenhängen. Sie lassen für sie die Beteiligung an Kirche als unattraktiv erscheinen. Trotz aller manifesten Präsenz  der Kirche überall im Lande gibt es  offensichtlich Hindernisse und Grenzen, die die Kommunikation des Evangeliums beeinträchtigen.

Pastoralsoziologie kann einen Beitrag dazu leisten, diese Kommunikationsprobleme aufzuhellen. Dies ist in den Mitgliedschaftsstudien der EKD, vor allem im Hinblick auf die so genannten „Kirchlich Distanzierten“, immer wieder getan worden. Die in einer vorläufigen Zusammenfassung erschienene IV. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung geht diesen Fragestellungen im Hinblick auf soziale Milieus und Lebensstile weiter nach. Im PSI ist zuletzt eine Studie über die Teilnahme an Gottesdiensten entstanden, die deutlich herausarbeitet, wie selektiv ihre Besucherstruktur ist. Kirchlich normativ muss der Gottesdienst integrativ im Zentrum kirchlichen Lebens stehen – faktisch leistet er diese Aufgabe aber nur für einen sehr begrenzten Kreis.

Wie im Fall des Gottesdienstes ist auch sonst deutlich zu belegen, dass sich der „kommunikative Ballungsraum“ der Kirche in wenigen kulturellen Milieus verdichtet, und andere, insbesondere moderne Milieus mit hohen Selbstverwirklichungswerten, aber auch die neuen unteren sozialen Milieus der Gesellschaft, schlecht erreicht werden. Ja, es lassen sich in einigen Bereichen sogar Tendenzen zur sozialen Schließung der kirchlichen Kreise und der Herausbildung eines kirchlichen Milieus feststellen, die verhindern, dass Menschen mit anderen Lebensstilen überhaupt noch Zugang finden. Was es hier braucht, sind neue Wege, die Kommunikation auf Augenhöhe ermöglichen. 

Diese Analyse ist weitgehend bekannt und es werden immer wieder neue Wege eröffnet, um aus dieser Situation herauszukommen. Was immer im einzelnen auch unter der missionarischen Dimension unserer Kirche verstanden wird: die Überwindung ihrer Fesselung an bestimmte kulturelle Formen und Stile wird dabei im Vordergrund stehen. Wir müssen die kommunikativen Kerne, die es gibt, pflegen und gleichzeitig Wege finden, um anschlussfähig an neue Lebenswelten zu werden. Dabei gilt es zunächst einmal schlicht hinzusehen und wahrzunehmen, wie Menschen heute ihr Leben gestalten. Die missionarische Problematik ist heute nicht viel anders als früher: Das Evangelium begegnet Menschen zunächst immer in geprägten kulturellen und sozialen Formen, die vielen fremd sind – und es erreicht nur dann ihr Leben und ihr Herz, wenn sie es sich in ihren Formen anverwandeln können.

Ein weiteres Feld ist die Organisationsentwicklung der Kirche. Von Anfang an – seit den Zeiten der Kirchenreform-Debatten – erweisen sich sozialwissenschaftliche Studien und dementsprechende Kompetenz als hilfreich. Die biblisch-christliche Tradition – zumal in protestantischer Prägung – schreibt der Kirche keine besonderen Ordnungen und Verfahren vor. Evangelische Kirche ist in dieser Hinsicht auf Selbststeuerung und Selbstorganisation angewiesen. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass es auf die Einrichtungen und Ordnungen letztlich gar nicht ankommt. Man kann aber auch – und dies scheint mir die Zukunft zu sein – den Auftrag anerkennen, diese Ordnungen aus Liebe zu den Menschen heraus zu gestalten. Denn an ihrer Erfahrung hängt bei den meisten Menschen fast alles. Die geglaubte Kirche muss in der sichtbaren Kirche erlebbar sein.

Diese Zusammenhänge können soziologisch erhellt werden. Über die Frage, wie sich Religion organisieren lässt, gibt es ganze Bibliotheken – von den großen Theorien über Kirche, Sekte und Mystik bis hin zu Studien über die Struktur von Kirchengemeinden oder religiösen Gruppen und Bewegungen. Welche Erfahrungen werden hier gemacht? Die Dinge werden dann noch konkreter, wenn z.B. die Einführung von Personalentwicklungsgesprächen in der hannoverschen Landeskirche begleitend evaluiert wird. Oder wenn alle Pastoren der Landeskirche oder auch die Religionslehrer befragt werden, wie sie sich selbst, ihre Arbeit, Kirche und Gesellschaft erleben. Solche Untersuchungen erlauben erhebliche Aufschlüsse über das Berufsethos dieser Gruppen – aber auch über die Zukunft von Religion in der Gesellschaft. Sie können zum Anstoßen von Veränderungen in sachangemessener Weise nützlich sein.

Solche Studien erheben zunächst nach den Regeln empirischer Sozialforschung das, was „Sache“ ist. Auf diese Weise weiten sie den Blick für die Betroffenen und die Verantwortlichen. Sie helfen zu unterscheiden zwischen nur subjektiven Meinungen und verallgemeinerbaren Tendenzen und „Fakten“. So entideologisieren sie manchen Streit – erlauben aber auch begründete Kritik. Gerade im Hinblick auf die immer stärkere „Organisationsgestalt“ von Kirche wird man so sehen können, wohin die Reise geht. Bringen die Veränderungen durch stärkere Zielorientierung, größere Flexibilität, Erfolgskontrolle und anderem wirklich mehr Hinwendung und Kontakt zu den Menschen? Tragen sie zu einem attraktiveren Bild von Kirche in der Öffentlichkeit bei?

Schließlich: Die Sozialwissenschaften können in der Evaluation kirchlicher Praxisfelder und Projekte helfen. In dieser Hinsicht waren sie immer schon nützlich – von Besucherbefragungen bei den Kirchentagen, der kirchlichen Präsenz auf der EXPO 2000 über die Wirkungen von Jugendarbeit und Konfirmandenunterricht – bis hin zur Wahrnehmung von Predigten – eines der kompliziertesten Felder, das im PSI bearbeitet wurde.

Solche Analysen sind spannend, weil sich in ihnen zeigt, ob man die Ziele, die man sich vorgenommen hatte, auch wirklich erreichte. Das setzt allerdings voraus, dass man solche Ziele überhaupt definiert hat – etwas, was noch längst nicht immer in kirchlicher Arbeit der Fall ist – und auch nicht überall der Fall sein kann. Hat man sie erreicht, dann hat man in der herkömmlichen Sprache offensichtlich Erfolg gehabt. Und hat man dies nicht, kann man lernen bei der nächsten Aktion die Hebel anders umzulegen. Die Handlungsfähigkeit der Kirche in der Gesellschaft kann so – und eigentlich nur so – wachsen.  Kirche wird so zur lernenden Organisation.

Allerdings wissen auch alle, die hiermit zu tun haben, dass die Wege nicht so gerade sind, wie sie scheinen. Was ist der Erfolg von Kirche? Woran lässt er sich messen? Nur wenn es dafür Kriterien gibt, ist Evaluation möglich. Hier betreten die Sozialwissenschaften nun allerdings theologisch besetzten Boden – aber sie werden sich nicht scheuen ihn dialogisch mitzubeackern und in Gespräche mit einzusteigen. Denn wie man auch immer den Erfolg kirchlicher Arbeit ausweist: dies hat Rückwirkungen auf die Begegnung mit den Menschen und die Positionierung der Kirche in der Gesellschaft. Teilt sie die Erfolgskriterien, die auch sonst gelten? Oder setzt sie ihnen bewusst Kriterien der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit entgegen? Völlig abwegig ist es sicherlich die Wahrheitsfrage in der Kirche durch Erfolg oder Effizienz zu ersetzen. Die Diskussion über diese Fragen hat erst begonnen und sie wird uns im Umbau von Kirche und Gesellschaft weiter begleiten.

Eine christliche Vision der Gesellschaft

Bei all dem, was man zu den Herausforderungen von Sozialethik und Pastoralsoziologie sagen kann, bleiben alle Tätigkeiten gebunden an eine Grundbegeisterung vom christlichen Glauben – und insbesondere an seine Visionen von einer lebendigen, an Christus gebundenen, Kirche und einer von daher kommenden Vorstellung einer gerechten und guten Gesellschaft.

Lassen Sie mich zum Abschluss meine persönliche Vision formulieren. Sie ist inspiriert durch das was ich über die Hintergründe des PISA-Erfolgs der Finnen erfahren habe. Die Finnen sagen: “Von uns gibt es nur fünf Millionen. Wir können es uns nicht leisten, auch nur einen davon zu verlieren. Deswegen zählt jedes Kind. Und entsprechend geht es im Bildungswesen zu: Sollte ein Kind von den Leistungen her nicht mitkommen, muss die Schule Maßnahmen anbieten. Schafft es ein Schüler dennoch nicht muss die Schule nachweisen, dass sie alle Fördermöglichkeiten ausgeschöpft hat.“ 

Ich entdecke in diesen Grundsätzen einen der Leitsätze christlicher Diakonie: „Keiner darf verloren gehen!“ Was dieser Satz ausdrückt entspricht dem Geist eines der faszinierendsten „Leitbilder“ des Neuen Testaments, nämlich der Vorstellung vom Leib Christi, wie sie Paulus im 1. Korinther 12 entwickelt. Paulus diskutiert hier die Frage der Verbindung der Christen bzw. der Kirche und der Gemeinde mit Christus und verdichtet sie im Symbol des „Leibes Christi“. Er beschreibt den Zusammenhang der Christen im Bild eines menschlichen Leibes, an dem Christus das Haupt und die Christen die verschiedenen Glieder sind. Und er erklärt dann: So verschieden wie die Glieder auch sind, so sind sie doch alle aufeinander angewiesen. Das Auge kann nicht zum Fuß sagen „Ich brauche dich nicht“ oder umgekehrt. „Gerade die Teile des Körpers, die schwächer scheinen, sind besonders wichtig.“ sagt Paulus. Und spitzt alles zu in dem wunderbaren Satz: „Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, dann leiden alle anderen mit. Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.“

Das Bild rührt an. Und weil das so ist kann man schnell auf Distanz gehen: das sei doch Romantik, eine vergangene, organische Gesellschaftsvorstellung schimmere dadurch. So ginge es heute nicht mehr. Solche Reaktionen sind verständlich. Und doch denke ich: Dieses Bild ist deswegen so faszinierend, weil es die gegenseitige Angewiesenheit, die Gleichheit aller Menschen in aller Verschiedenheit deutlich macht. Wir sind mit verschiedenen Gaben ausgestattet, haben verschiedene Aufgaben im Leben, leben in unterschiedlichen Lebenswelten und sind doch, eminent aufeinander angewiesen. Es gibt keinen Grund, dass sich einer über den anderen erhebt – aber auch nicht, dass sich jemand kleiner macht als er ist. Jeder und Jede hat einen Platz. Wir sind nicht gleich – sonst wären wir auch nicht aufeinander angewiesen – aber krasse, die Würde und das Leben beeinträchtigenden Unterschiede in der sozialen Absicherung oder im Verhältnis Reichtum und Armut sind nicht gerechtfertigt. Der Grundsatz, nach dem die Unterschiede in der Gesellschaft gerade so groß sein dürfen, dass die durch sie gesteigerte Leistungsbereitschaft den Schwächsten zugute kommt, könnte durchaus von Paulus sein.

Es ist dies die Vision von einer Gesellschaft, in der man sich umeinander kümmert, ohne sich doch gegenseitig die Freiheit zu beschneiden. Es ist die Vision einer Gesellschaft, die deswegen bei aller notwendigen Interessenauseinandersetzung die Dimensionen der Solidarität und der Gemeinschaft nicht aus dem Blick verliert. Es ist letztlich die Vision einer Gesellschaft, in der es Wertschätzung gibt für die wesentlichen menschlichen Antriebskräfte, nämlich für Liebe und Barmherzigkeit. Letztendlich sind sie es, die die christliche Wertorientierung ausmachen und die eine lebenswerte Gesellschaft zusammenhalten. Und es ist die Verheißung unseres Gottes, dass diese Kräfte sich vermehren, wenn man sie pflegt.