Einführungsreferat für EKD-Texte 80 "Sterben hat seine Zeit" bei der Pressekonferenz in Berlin

Prof. Dr. Wilfried Härle, Heidelberg

Die Fragen, die sich auf die letzte Lebensphase – auf Krankheit, Sterben und Tod  - beziehen, beschäftigen viele Menschen ganz persönlich, aber sie beschäftigen auch Verbände, Organisationen, Parlamente, Regierungen und die christlichen Kirchen. Für viele Menschen ist dieser Themenbereich mit Ängsten und Sorgen besetzt. Gesucht wird nach Regelungen und Lösungen, die sowohl dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten als auch dem hohen Wert des menschlichen Lebens Rechnung tragen. Die Kammer für Öffentliche Verantwortung und der Rat der EKD beteiligen sich an diesem Gespräch und versuchen, ausgehend vom christlichen Menschenbild, hierzu einen ethisch orientierenden Beitrag zu leisten.

In der öffentlichen Diskussion, an der sich die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“ und die vom Bundesjustizministerium eingesetzte sog. Kutzer-Kommission beteiligt haben, lassen sich mehrere Spannungen beobachten. Damit meine ich nicht die bekannten hauptsächlichen Kontroverspunkte: Formvorschriften, Beteiligung des Vormundschaftsgerichtes, Reichweitenbegrenzung, Einbeziehung eines Konsils etc., sondern verschiedene Grundorientierungen methodischer und inhaltlicher Art:

  • Orientierung an den Einzelfällen  oder an generellen Richtlinien;
  • Orientierung am Selbstbestimmungsrecht oder an der Pflicht zur Fürsorge  und Lebenserhaltung;
  • Orientierung an den Vorgaben durch Patientenverfügungen oder an der aktuellen Situation des Patienten sowie
  • Orientierung an den Ängsten und Befürchtungen der jetzt lebenden Menschen oder an künftigen gesellschaftlichen Entwicklungen.

Die Kammer für Öffentliche Verantwortung hat „Überlegungen zum Umgang mit Patientenverfügungen aus evangelischer Sicht“ erarbeitet, die der Rat der EKD nun der Öffentlichkeit vorlegt. Diese Überlegungen sind durchgehend geprägt von dem Bemühen, an all diesen Punkten ein unsachgemäßes „entweder – oder“ zu vermeiden und zu einem sachgemäßen, strukturierten „sowohl – als auch“ zu kommen, das nicht additiv zu verstehen ist, sondern auf wechselseitige Durchdringungen und eine konstitutive Zusammengehörigkeit jeweils beider Momente verweist.

So überlässt der Text die Entscheidung, was am Lebensende auf Grund einer Patientenverfügung zu tun und zu lassen ist, weder im Sinne einer Situationsethik bloß den Gegebenheiten des Einzelfalles, noch hält er eine Ableitung der Entscheidung aus generellen Regeln im Sinne der Prinzipienethik für möglich, sondern er versteht die ethischen Regeln als Grenzziehungen und Orientierungspunkte, die einen Raum für ethisch fundierte Ermessensentscheidungen sowohl eröffnen als auch begrenzen. (So exemplarisch in 4.6: Regeln für den Umgang mit Patientenverfügungen). Dieses Modell, das ein spezifisch evangelisches Element darstellt, könnte auch für andere Handlungsfelder modellhaft sein.
Der Text bietet statt des Gegensatzes zwischen Orientierung am Selbstbestimmungsrecht und Orientierung an der Fürsorge eine Verhältnisbestimmung an, die den Charakter einer Balance hat, und darüber hinaus zu zeigen versucht, dass die Respektierung des Selbstbestimmungsrechtes selbst Ausdruck von Fürsorge sein kann und dass die Ausübung von Selbstbestimmungsrecht in mehrfacher Hinsicht Fürsorge seitens anderer Menschen (Angehöriger und Ärzte) zur Voraussetzung hat. (Davon handelt vor allem Abschnitt 4.3).
Auch im Blick auf die Frage, welche Bedeutung in der Entscheidungssituation einerseits die vorher abgefasste Patientenverfügung, andererseits die aktuelle Situation des Patienten hat, versucht die Kammer für Öffentliche Verantwortung einen abstrakten Gegensatz, der der Realität nicht gerecht wird, zu überwinden. So müssen Menschen das Vertrauen haben können, dass ihr vorher dokumentierter Wille ernst genommen, beachtet und so weit, wie dies verantwortbar ist, umgesetzt wird. Aber der Tatsache, dass diese Willensäußerung in einer anderen, früheren Situation getan würde, die nicht mit der gegenwärtigen Situation identisch ist, nötigt zugleich zu einer sorgfältigen Interpretation der Verfügung im Lichte der nun gegebenen Situation und der aufmerksamen Beachtung der jetzigen Lebensäußerungen des Patienten. Deswegen befürwortet die Kammer für Öffentliche Verantwortung auch nachdrücklich die Einbeziehung eines Konsils . (Siehe dazu vor allem Abschn. 4.4).
Schließlich bestehen auch beim Blick auf die Sorgen und Ängsten der jetzt lebenden Menschen im Verhältnis zu möglichen Auswirkungen evtl. gesetzlicher Änderungen auf künftige gesellschaftliche Konstellationen und auf die dann bestehenden Sterbebedingungen nicht nur Spannungen, sondern auch tiefgehende Zusammenhänge und Verbindungen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Ausweitung von rechtlich zulässigen Möglichkeiten der Selbstbestimmung in vielen Fällen die Erwartung erzeugt, dass diese Möglichkeiten dann auch in Anspruch genommen werden, so dass zumindest ein Erwartungsdruck entsteht, der zugleich die Selbstbestimmungsmöglichkeiten einschränkt. Was erlaubt ist, wird schnell zu einer Pflicht, zumal wenn das Erlaubte sich als kostengünstig erweist. Von diesen Überlegungen her versucht die Kammer für Öffentliche Verantwortung auch zur Frage der Reichweitenbegrenzung Stellung zu nehmen (bes. in 4.5), und sie tut das im Sinne der hier vorgetragenen Überlegungen. Das zeigt im Übrigen, dass diese vier Aspekte einen engen sachlichen Zusammenhang bilden.

 

Die Ihnen vorliegenden „Überlegungen“ der Kammer für Öffentliche Verantwortung wurden einstimmig beschlossen. Sie bilden insofern also kein Kompromiss-, sondern ein Konsenspapier. Die Überlegungen verzichten bewusst darauf, konkrete Vorschläge zur gesetzlichen Regelung zu machen. Sie wollen stattdessen in der beginnenden, notwendigen gesellschaftlichen Diskussion einen Beitrag zur ethischen Orientierung leisten. Die Tatsache, dass in der Kammer, in der ganz kontroverse Positionen vertreten sind, die Formulierung und Annahme dieses Konsenspapiers möglich war, bestärkt uns in der Hoffnung, dass es auch einen Beitrag zu dem notwendigen gesellschaftlichen Konsens leisten kann.

Heidelberg / Berlin  21. März 2005

Pressemitteilung
EKD-Texte 80: Sterben hat seine Zeit