"Herausforderungen des Sozialstaats" - Rede auf dem Sozialstaatskongress der IG Metall in Berlin

Wolfgang Huber

I.

„Herausforderungen des Sozialstaats"  ist ein vieldeutiges Thema. Wozu fordert mich der Sozialstaat heraus? Wozu fordere ich ihn heraus? Was verlangt der Sozialstaat von der Gesellschaft? Und wozu nötigt der gesellschaftliche Wandel den Sozialstaat?

All das sind sinnvolle  Zugangswege zu unserem Thema. Es mag Menschen geben, die den Eindruck haben, dass der Sozialstaat sie herausfordert, und sei es dazu, ihn zu umgehen oder auszunutzen. Es mag sein, dass es noch immer eine gesellschaftliche Grundhaltung gibt, die im Sozialstaat eine Art Wohlstandskuh sieht, die man melken kann, ohne sich zu fragen, wo sie das nötige Gras findet. Und es mag auf der anderen Seite diejenigen geben, die eine Zeit wirtschaftlicher Stagnation als willkommene Gelegenheit dafür ansehen, dem Sozialstaat selbst den Abschied zu geben und zu erklären, sein Jahrhundert sei vorüber. Ihnen gilt dann der „Rückbau des Sozialstaats“ als ein selbstverständliches Projekt,  das als so unausweichlich gilt, dass gar nicht mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie diskutiert wird. Besonders kluge haben in der Zwischenzeit den „minimal invasiven Sozialstaat“ erfunden, der die sozialstaatlichen Aufgaben mit vergleichbar kleinen Eingriffen erfüllen soll wie die „minimal invasive Chirurgie“. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass der Heilungserfolg auch beim Sozialstaat der gleiche bleibt, wenn der Eingriff nur noch so wenig zu sehen ist wie bei einer modernen Blinddarmoperation.

Solchen Arten von Herausforderung will ich bei meinen heutigen Überlegungen nicht folgen. Kataloge des möglichen oder wirklichen Sozialstaatsmissbrauchs will ich nicht aufstellen. Die Art von Institutionenaufzehrung will ich nicht beschreiben, in der Menschen von den Institutionen des gemeinsamen Lebens – den Sozialstaat eingeschlossen – Gebrauch machen, ohne sich darum zu scheren, wie sie auch für eine kommende Generation erhalten werden können. Und auch die wohl kalkulierte Sozialstaatsskepsis will ich heute nicht tiefer verfolgen, die eine Schwächephase des Sozialstaats dazu nutzen will, ihn abzubauen. Mein Thema ist die Frage, wie der Sozialstaat erhalten werden kann. Die Herausforderung, die nach meiner Überzeugung im Zentrum stehen muss, liegt in der Frage nach denjenigen Reformen, die nötig sind, damit der Sozialstaat auch morgen und übermorgen Bestand hat.

II.

In der Tat, der Sozialstaat ist herausgefordert! Er ist es aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation, aufgrund von Globalisierung und demographischem Wandel, auf Grund der Massenarbeitslosigkeit und der damit verbundenen Finanzierungsfragen. Der Reformdruck auf unsere sozialen Systeme ist heute größer denn je in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, der alten wie der neuen. Vor allem aber ist der Sozialstaat herausgefordert durch Mentalitätsentwicklungen in unserem Land, durch Prioritätenverschiebungen, die einer genauen Beobachtung, einer kritischer Analyse und nötigenfalls auch des beherzten Widerspruchs bedürfen. Es muss etwas getan werden, damit Grundhaltungen einer gerechten und solidarischen Gesellschaft nicht unter die Räder geraten. Gern bekenne ich mich in einer solchen Situation für die Evangelische Kirche in Deutschland zu der Notwendigkeit einer wachen Zeitgenossenschaft und zu der Mitverantwortung für die Zukunftsfähigkeit unseres Sozialstaats.

Die jüngsten Diskussionen um die Regierungserklärung vom 17. März und den sogenannten "Job-Gipfel" haben die Dringlichkeit einer solchen Diskussion erneut vor Augen geführt. Für mich haben sie erneut gezeigt, dass die Einzelmaßnahmen, die nun wieder in aller Munde sind auf das Leitbild bezogen und an dem Leitbild gemessen werden müssen, das für unsere Gesellschaft maßgeblich ist. Für mich kann das kein anderes Leitbild sein als dasjenige, unter das die Kirchen im Jahr 1997 ihre gemeinsame Stellungnahme zur wirtschaftlichen und sozialen Lage gestellt haben. „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ – so hieß damals der Titel. Daran wollen wir uns auch weiterhin orientieren.

Der Sozialstaat ist kein Schönwetterprojekt. Vielmehr wurde die Idee des Sozialstaats eben deshalb in unserer Verfassung verankert, weil sich die Verpflichtung auf soziale Gerechtigkeit nicht von selbst versteht. Mit dem Gedanken der Gerechtigkeit aber verträgt es sich nicht, wenn wirtschaftliche Schwierigkeiten vorwiegend auf dem Rücken der Schwächeren ausgetragen werden.

In den letzten Jahren ist der Sozialstaat in der öffentlichen Diskussion vor allem durch den demographischen Wandel und die veränderte Konkurrenzsituation auf den Weltmärkten in Bedrängnis geraten. Heute konkurrieren nicht nur Konzerne miteinander, sondern auch ganze Länder wollen Standortvorteile erringen. Die einen bringen billige Löhne als Standortfaktor ins Spiel, die anderen den hohen Standard von Bildung und Ausbildung. Auch der Sozialstaat stellt einen solchen Standortfaktor dar. Die sozialstaatliche Qualität eines Landes kann von denjenigen, die über Investitionen zu entscheiden haben, als ein belastender, aber auch als ein positiver Faktor gewertet werden. Blickt man in die Geschichte unseres Landes, dann ist der deutsche Sozialstaat über lange Jahre weltweit als ein positiver Standortfaktor angesehen gewesen. Die Tatsache, dass es in Deutschland ein hohes Maß an gesellschaftlichem Konsens  und deshalb auch an sozialem Frieden gibt, hat zur Folge gehabt, dass in Deutschland investiert wurde. Das hat dazu beigetragen, dass Deutschland mit seinen Produkten bis heute weltweit einen Spitzenplatz einnimmt.

Es geht jedoch selbst in der schwierigen Situation von heute nicht an, die Frage nach dem Sozialstaat nur unter dem ökonomischen Aspekt des Standortvorteils zu diskutieren. Die Schaffung des Sozialstaates in Deutschland und anderen Ländern hat nicht nur damit zu tun, dass er sich ökonomisch auszahlt; es geht vielmehr zugleich, ja vorrangig um grundsätzliche Wertorientierungen, ja um unser Menschenbild. In diesen Tagen gibt es einen besonderen Anlass, die christlichen Wurzeln dieses Menschenbilds in Erinnerung zu rufen. Personalität, Solidarität, Subsidiarität: mit diesen drei Stichworten hat der verstorbene Papst Johannes Paul II. die Eckpunkte dieses Menschenbild beschrieben. Er hat sich bewusst in die Traditionslinie der katholischen Soziallehre gestellt. So sehr er mutig gegen den Staatssozialismus östlicher Prägung aufgetreten und seinen Beitrag zur Überwindung der Spaltung des europäischen Kontinents geleistet hat, so klar hat er sich auch den Auswüchsen kapitalistischer Verwertungsinteressen entgegengestellt. Die Arbeit gehört in einem unmittelbareren Sinn zum Menschen als das Kapital, so hieß seine Überzeugung. Und mit einer Formulierung, die sich auch schon bei dem Reformator Martin Luther findet, konnte er sagen: „Die Arbeit gehört zum Menschen wie zum Vogel das Fliegen.“ Die gleiche Würde jeder menschlichen Person, die Verpflichtung auf die Solidarität gerade mit den Schwächeren und die Befähigung der sozialen Gemeinschaften dazu, ihre Verantwortung für das gemeinsame Leben wahrzunehmen: das sind die Grundlinien, in denen auch evangelische Sozialethik sich mit diesen Auffassungen der katholischen Soziallehre eng verbunden weiß.

Gerade dann müssen wir an diesen Grundlinien festhalten, wenn der Sozialstaat in eine krisenhafte Situation gerät. Der Sozialstaat ist nicht nur etwas für Zeiten, in denen wir ihn uns leisten können, sondern er ist gerade dann von besonderer Bedeutung, wenn wirtschaftliche Unterschiede schroffer werden, wenn Teile der Bevölkerung in Armut geraten und ausgegrenzt werden. Gerade in solchen Situationen ist der Sozialstaat herausgefordert und muss sich als entscheidendes Mittel der gesellschaftlichen Integration und der Herstellung von mehr Gerechtigkeit bewähren.

Es kann also gerade heute ganz und gar nicht darum gehen, den Sozialstaat zu verabschieden. Es geht vielmehr darum, ihn so zu gestalten, dass er in der schwierigen Situation von heute seinen grundsätzlichen Aufgaben gerecht werden kann. Wir wollen eine Gesellschaft, in der auch der Staat politische Verantwortung für sozialen Ausgleich und für die Herstellung von Gerechtigkeit in allen Bereichen, insbesondere im Bereich der Herstellung von Befähigungs- und Beteiligungsgerechtigkeit übernimmt. Damit ist nicht gesagt, dass alles das, was zur Gerechtigkeit in der Gesellschaft nötig ist, nur oder auch nur vorrangig durch den Staat getan werden könnte. Der „fürsorgliche Staat“ ist ganz gewiss ein versucherisches Bild; die Hoffnung auf einen solchen „fürsorglichen Staat“ schlägt tatsächlich leicht in dessen Überforderung um. Aber der Staat trägt nicht nur Verantwortung für die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns. Er trägt ebenso Verantwortung für die Rahmenbedingungen sozialer Gerechtigkeit und sozialer Vorsorge. Es ist eine Illusion, in dieser Hinsicht die entscheidenden Lösungen vom Funktionieren des Marktes zu erwarten. Der Markt sorgt für Effizienz, aber nicht zwangsläufig für Gerechtigkeit.

III.

Worin besteht nun die Krise, in die der Sozialstaat in den letzten Jahren geraten ist? Mehrere Faktoren wirken zusammen. Natürlich ist es zunächst die schwierige wirtschaftliche Situation, die vor allem die Fragen der Finanzierbarkeit sehr in den Vordergrund gedrängt hat. Noch bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahre meinte man, manche Folgen der hohen Arbeitslosigkeit  abfedern zu können, weil die wirtschaftlichen Triebkräfte genügend Potential zur Finanzierung der damit verbundenen Kosten entwickelten. In diesem Sinn konnte der Eindruck entstehen, als ob wir uns die stets wachsende Arbeitslosigkeit in Deutschland sozusagen „leisten“ könnten. Das war schon damals wirtschaftlich ein Irrtum. Menschlich galt das erst recht. Denn die Tatsache, dass eine so hohe Zahl von Menschen aus der Möglichkeit aktiver Beteiligung an der Gesellschaft ausgeschlossen wird und nicht die Chance erhält, den Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu erwerben, ist in sich selbst eine Ungerechtigkeit, die nicht hinnehmbar ist.

Doch darüber hinaus ist dies alles längst an ein Ende gekommen. Das Jahr 2001 hat auch in dieser Hinsicht eine Bewusstseinsänderung bewirkt. Nun tritt überdeutlich vor Augen, dass auch eine weitere Staatsverschuldung nichts an dieser Situation verbessern könnte. Auch das jetzige Ausmaß der Staatsverschuldung ist ja im Blick auf die nach uns Kommenden, die diese Schulden zurückzuzahlen haben, ethisch unvertretbar. Wir brauchen mithin strukturelle Veränderungen, um die wirtschaftliche Situation wieder zu verbessern und damit perspektivisch auch die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme sicher zu stellen.

Zu dieser Entwicklung haben die Kosten der Wiedervereinigung entscheidend beigetragen. Kein Land der Welt hat eine dermaßen große Solidaritätsleistung auf sich genommen. Wir stehen, so nehme ich an, alle gemeinsam dazu, dass die hohen Transferleistungen, die nach wie vor in die neuen Bundesländer fließen, gemeinsam aufgebracht werden müssen. Aber es ist hoch problematisch, in welchem Umfang diese Transferleistungen den sozialen Sicherungssystemen angelastet wurden. Dadurch ist eine zusätzliche Schieflage entstanden, die sich als Belastung des Sozialstaats im Ganzen auswirkt. Diesen notwendigen und bejahten Transferleistungen steht bisher leider keine entsprechende wirtschaftliche Leistungskraft im Osten gegenüber. Es ist bisher nicht gelungen, zu einem sich selbst tragenden, ausreichenden wirtschaftlichen Wachstum zu kommen. Dass aber dadurch der finanziellen Leistungskraft ganz Deutschlands Grenzen gesetzt sind, liegt auf der Hand und wird in Zukunft auch weiter unsere Situation prägen. Im Kern handelt es sich aber auch bei dem Umgang mit den Kosten der deutschen Einigung um eine sozialstaatliche Leistung, auf die wir stolz sein können und an der nicht gerüttelt werden darf.

Entscheidend jedoch ist im Hinblick auf die Krise des Sozialstaats natürlich die miserable, ja skandalöse Lage am Arbeitsmarkt. Die entsprechenden Zahlen sind bekannt. Bekannt ist auch, was diese Zahlen für die einzelnen Menschen konkret bedeuten. Man muss hier ganz deutlich sehen, dass auch die Zukunft des Sozialstaates an dem Abbau der Massenarbeitslosigkeit hängt. Sollte dies nicht in einem nennenswerten Umfang gelingen, so wird der Sozialstaat weiter abgebaut werden, weil die Finanzierungsprobleme anders nicht bewältigt werden können. Dies hätte dann eine Abwärtsspirale zur Folge, in die wir auf keinen Fall geraten dürfen.

Insofern müssen alle Anstrengungen darauf ausgerichtet sein, Arbeitsplätze zu schaffen. In dieser Hinsicht halte ich den Vorschlag von Bundespräsident Horst Köhler in seiner Rede am 15. März für zwingend, in Zukunft alle Regelungen für den Arbeitsmarkt, ob gesetzlich oder tariflich, daraufhin zu überprüfen, ob sie Beschäftigung fördern oder nicht. Und ich gehe an dieser Stelle noch weiter. Ich denke, dass nicht nur die Regelungen für den Arbeitsmarkt, sondern alle Regelungen, die die Wirtschaft betreffen, unter diesem Gesichtspunkt geprüft und gewichtet werden müssen. Nur dann entsteht ein nachhaltiges Bewusstsein dafür, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen oberste Priorität hat. Dabei muss es sich um Arbeitsplätze handeln, die in sich selbst sinnvoll und verantwortlich ausgestaltet sind.

In Folge einer solchen Überlegung muss zum Beispiel die Senkung der Unternehmenssteuer daran gebunden werden, dass dadurch wirklich neue Arbeitsplätze entstehen. Auch die Entscheidungen in der Wirtschaft müssen in dieser Hinsicht auf den Prüfstand! Anreize für die Wirtschaft haben ihren Sinn in der Schaffung von Arbeitsplätzen; das muss auch nachvollziehbar und überprüfbar werden. Es ist dieser Zusammenhang, in dem ich dem Empfinden Ausdruck gegeben habe, dass manche Manager, insbesondere in Großkonzernen, mit dieser Frage auf eine „kaltschnäuzige“ Weise umgehen. Mir ist entgegengehalten worden, solche Kaltschnäuzigkeit gebe es auch in anderen Berufsfeldern und Verantwortungsbereichen. Das ist durchaus richtig. Aber wenn Bundespräsident Köhler in einem solchen Zusammenhang von einer gemeinsamen patriotischen Verpflichtung gesprochen hat, dann schließt diese Verpflichtung nicht nur diejenigen ein, die für die politischen Rahmenbedingungen verantwortlich sind, und auch nicht nur diejenigen, die bei Tarifverhandlungen die Arbeitnehmerinteressen vertreten. Diese patriotische Verpflichtung betrifft auch die wirtschaftlichen Entscheidungsträger.

Dass wir einen neuen Konsens in unserer Gesellschaft brauchen, wird derzeit oft betont. Man kann von einem neuen Gesellschaftsvertrag sprechen. Er muss sich vor allem auf das gleiche Recht der Menschen auf gesellschaftliche Beteiligung beziehen – und das heißt eben zuallererst: auf einen gerechten Zugang zu Arbeitsplätzen und damit zu der Möglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt auch durch eigene Arbeit zu verdienen.

Zu den zentralen Herausforderungen des Sozialstaats gehört die  Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Hier scheint es aus meiner Sicht durchaus plausibel zu sein, im Interesse der Senkung der Lohnnebenkosten die Kosten der sozialen Sicherung möglichst weitgehend vom Arbeitsverhältnis abzukoppeln, wie es auch der Bundespräsident vorgeschlagen hat. Entsprechende Systeme, in denen die soziale Sicherung fast ganz über Steuern finanziert wird, gibt es ja auch in anderen Ländern, die damit, was den Arbeitsmarkt anbetrifft, offensichtlich gute Erfahrungen gemacht haben. Aber auch an dieser Stelle hängt eben alles vom Ergebnis ab.

Eine weitere, vielleicht sogar die größte Herausforderung für den Sozialstaat ist der demographische Wandel. Die Zahlen sind Ihnen allen bekannt, die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, auf die Atmosphäre in unseren Kommunen, auf die Zufriedenheit in unseren größeren Familienzusammenhängen beginnen wir gerade erst zu ahnen. Wer mit Kindern oder Enkeln zusammenleben darf, wird jeden Tag erfüllt von der Freude, Zeuge dieses Gottesgeschenkes zu sein. Bei manchen Belastungen des täglichen Lebens wird er immer wieder angesteckt von der Unbeschwertheit, der Neugier, oft auch der heilsamen Infragestellung durch Kinder. Mit Kindern zu leben, heißt ständig herausgefordert zu sein. Mit ihnen zusammen lernt man Dankbarkeit für die ganz kleinen und die ganz großen Dinge im Leben. Wer mit Kindern lebt, begegnet dem Wunder des Lebens und erfährt neu, was für ein Wunder auch das eigene, von Gott gegebene, behütete und geliebte Leben ist. Bildung und Ausbildung, Familienpolitik, vor allem aber Familienethik sind entscheidende Faktoren für das Gelingen einer zukunftsfähigen Gesellschaft insgesamt, für die notwendige und zugleich gerechte Reform. Den Rückgang der Geburtenraten dürfen wir nach meiner festen Überzeugung nicht wie ein Naturgesetz betrachten. Und wenn jemand die Hoffnung ausdrückt, dass Deutschland von der Atmosphäre und Mentalität wie von den politischen Rahmenbedingungen her endlich zu einem kinderfreundlichen Land wird, dann hat das in meinen Augen nichts „Illiberales“, wie Hans D. Barbier dieser Tage gesagt hat.

Nun hat der demographische Wandel aber auch unmittelbare Konsequenzen für den Sozialstaat. Mir sind die Stimmen im Ohr, die hier vor übertriebenen Sorgen warnen. Das geht hin bis zu der Einschätzung, alle Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Sozialversicherungssysteme würden mehr als kompensiert durch die zu erwartenden Produktivitätssteigerungen, so dass strukturelle Änderungen überhaupt nicht angezeigt seien. Ich gestehe, dass mich diese Position nicht überzeugt. Gewiss sind Differenzierungen nötig; und in der politischen Diskussion ist sicher an manchen Stellen zu sehr vereinfacht worden. Beispielsweise gibt es für die Gesetzliche Krankenversicherung keineswegs, wie oft behauptet wird, eine Automatik dahingehend, dass die höhere Lebenserwartung zu höheren Kosten führt; vielmehr liegt das Hauptproblem darin, dass sich der Anteil der allein die Beiträge begründenden Löhne und Gehälter aus abhängiger Erwerbsarbeit am gesellschaftlichen Gesamteinkommen stetig verringert. Deswegen liegt der entscheidende Reformbedarf in der Einbeziehung aller Menschen mit allen ihren Einkommensarten in den Solidarausgleich. Im Blick auf Rente und Pflege kommen wir aber nicht daran vorbei, dass die dramatische Veränderung im zahlenmäßigen Verhältnis von arbeitenden Beitragszahlern und Leistungsempfängern Konsequenzen für die entsprechenden sozialen Sicherungssysteme haben muss. Bei entsprechender Anstrengung sind diese Probleme lösbar. Aber verharmlosen sollte man sie nicht. Vielmehr müssen wir die Lage vorurteilsfrei analysieren, unsere Zielvorstellungen offen diskutieren und alle miteinander, und ich meine wirklich alle, zu Veränderungen bereit sein.

IV.

In diesem Zusammenhang muss man natürlich auf die Frage der Agenda 2010 und insbesondere der Hartz-Reformen eingehen. Ich will keinen Zweifel daran lassen, dass ich die Grundgedanken der Hartz-Reformen für richtig halte. Aber eines wäre in der gegenwärtigen Situation äußerst problematisch: wenn nämlich im Vollzug der Reformen die Beweislast im Blick auf Arbeitsbereitschaft und die Suche nach Arbeitsplätzen nunmehr in einer extremen Weise einseitig auf die Opfer dieser Entwicklung, die Arbeitslosen, verlagert würde. Ich halte die Veränderungen bei der Betreuung der Arbeitslosen durch die Agenturen für Arbeit für das eigentliche Kernstück von Hartz IV und bestehe mit allem Nachdruck darauf, dass diese nun sehr zügig umgesetzt werden. Wenn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin der Arbeitsagentur nur noch für 75 Jugendliche zuständig ist, wird sehr schnell sehr deutlich werden, wo das Problem des deutschen Arbeitsmarktes liegt. Ich hoffe sehr, dass dieser Ansatz bei intensiver persönlicher Förderung, den ich sehr begrüße, schnell zu Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt oder aber schnell zu Einsichten darüber führen wird, was wirklich geändert werden muss.

Denn bisher hapert es beim Fördern deutlich, wohingegen das Fordern zunächst einmal sehr im Vordergrund steht. Bei der Auswertung der bisherigen Erfahrungen, für die ein besonderer Ombudsrat eingerichtet wurde, muss diese Frage das nötige Gewicht bekommen. Die Korrekturen an dieser Reform, die hoffentlich nicht zu lange auf sich warten lassen, müssen insbesondere die Zuverdienstmöglichkeiten anders gestalten als bisher. Ich mache persönlich keinen Hehl daraus, dass ich auch die Konzeption und die Bezeichnung der „Mehraufwandsentschädigungen“ für dringend verbesserungsbedürftig halte.

Aber wie auch immer gestaltet – zu den faktischen Auswirkungen der Hartz-Reform wird ganz bestimmt ein Effekt gehören, den man nicht ohne Sorge sehen kann, nämlich die Zunahme und der weitere Ausbau des ohnehin vorhandenen Niedriglohnsektors. Durch die Hartz-Regelungen kann man, so es denn entsprechende Arbeitsplätze gibt, viel mehr Menschen als bisher in Tätigkeiten bringen und vielleicht auch zwingen, die im Niedriglohnbereich angesiedelt sind.

Hier entsteht ein großer Bereich in unserer Gesellschaft, in dem Menschen am Rande der Armut leben und arbeiten. Zugleich muss man nüchtern einräumen, dass ohne diesen Bereich auch auf mittlere Frist die Arbeitslosigkeit noch viel höher wäre. Wer den wachsenden Anforderungen an Qualifikation und Professionalität in anderen Bereichen nicht entsprechen kann, wird in vielen Fällen Arbeitsplätze nur im Niedriglohnbereich finden.  Angesichts des damit verbundenen Armutsrisikos halte ich es für dringend nötig, dass dieser Bereich in den Mittelpunkt unseres Interesses und der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt. Alle Möglichkeiten müssen genutzt werden, um diesen Bereich so sozial wie möglich zu gestalten und die in ihm arbeitenden Menschen nicht auszugrenzen, sondern sie gesellschaftlich anzuerkennen und ihre Tätigkeiten aufzuwerten.

V.

Unsere gemeinsame Aufgabe besteht darin, in einer schwierigen Situation das uns Mögliche zu tun, damit die Sozialstaatsverpflichtung auch für die nach uns folgende Generation noch gültig sein kann. Unsere Verantwortung ist es, den Sozialstaat auch für die nach uns Kommenden funktionsfähig zu erhalten. Deshalb muss mit großer Entschlossenheit in Schule und Bildung, in Ausbildung und Wissenschaft investiert werden, damit die nachwachsende Generation mehr Chancen bekommt, den Herausforderungen ihrer Zeit gerecht zu werden.

Alle in Frage kommenden Indikatoren zeigen, dass eine gute Ausbildung das entscheidende Instrument ist, um vor gesellschaftlicher Ausgrenzung und Armut bewahrt zu bleiben. Gute Bildung und Ausbildung sind dabei mehr als nur die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten. Es geht auch darum, dass sich die innere Haltung des Menschen formt und er dazu ermutigt wird, auf seine eigenen Kräfte zu vertrauen und diese Kräfte in die Gemeinschaft einzubringen. Es geht darum, dass Menschen ihre Fähigkeit entdecken, etwas zu gestalten und sich qualifiziert an der Gesellschaft zu beteiligen.

Das Verhältnis zwischen Sozialstaat und Bildung tritt nur selten in den Blick. Dass Bildungsreform der entscheidende Teil der heute notwendigen Reformen ist, wird viel zu selten ins Bewusstsein gehoben. Aber Bildung bleibt der alles entscheidende Faktor. In sie muss auch dann investiert werden, wenn dafür in anderen Bereichen Kürzungen nötig werden. Es gibt kaum ein anderes Land, in dem die soziale Herkunft und der Schulerfolg so eng zusammenhängen wie in Deutschland. Die Tatsache, dass auf diese Weise in Deutschland Armut erblich ist, empfinde ich als Skandal. Dadurch wird auch – gerade angesichts der demographischen Entwicklung – ein entscheidendes Potenzial für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft verspielt. Deshalb muss in Zukunft die Beweislast umgekehrt werden: Nicht nur die Schülerinnnen und Schüler müssen nachweisen, dass sie die erforderlichen Qualifikationen erworben haben. Sondern die Schulen müssen nachweisen, dass sie das Notwendige getan haben, um Schüler zu fördern und zu qualifizieren.

Der Sozialstaat ist kein eigenständiger Akteur, der auf solche Herausforderungen von sich aus reagieren könnte. Der Sozialstaat sind wir alle; gemeinsam müssen wir deshalb die vor uns liegenden Herausforderungen angehen.

Ich bin sicher: Wir werden auch in Zukunft einen sozialen Rechtsstaat gestalten und uns am Ideal der Gerechtigkeit, an Befähigung, Teilhabe und sozialem Ausgleich orientieren. Und ich bin ebenso sicher: Der Sozialstaat der Zukunft wird anders aussehen als der Sozialstaat der Vergangenheit. Wir brauchen eine Kultur des Förderns, die von Anfang an auf Befähigungsgerechtigkeit setzt und alle Ressourcen in diesem Bereich konzentriert. Das beginnt bei der Förderung der Familien und endet schließlich bei einem partnerschaftlichen Umgang in der Arbeitswelt.

Ich hoffe darauf, dass die Gewerkschaften diesen Reformprozess engagiert und zukunftsorientiert mitgestalten.