"Über den zeitlichen und ewigen Aspekt der Generationenverantwortung" - Laudatio für Bundesministerin Renate Schmidt, Mainz

Manfred Kock

Meine sehr geehrten Damen und Herren, verehrte Frau Bundesministerin Renate Schmidt!

Der Verein „… und mitten drin“ – verleiht Ihnen, Frau Bundesministerin, den Preis „Dialog der Generationen 2005“. Als Grund für die Würdigung nennt die Verleihungsurkunde Ihren „gelebten Dialog zwischen den Generationen in Ihrem privaten und öffentlichen Leben“. Auf die vielen Ehrenämter, die Sie übernommen haben, wird hingewiesen. Die zahlreichen von Ihnen initiierten Projekte und Gesetzesinitiativen in den Aufgabenfeldern Ihres Ministeriums werden genannt. Die Förderung des Dialoges zwischen den Generationen wird als Grund der Preisverleihung besonders erwähnt.

Ich bin der Bitte, die Laudatio zu halten, gerne nachgekommen. Die Nähe zum Wahltermin könnte bei oberflächlicher Betrachtung meine Mitwirkung als eine Werbung erscheinen lassen, der sich ein – wenn auch pensionierter - kirchlicher Amtsträger enthalten sollte. Aber abgesehen davon, dass die Anfrage an mich erfolgte, als die Wahl noch nicht anstand, gilt die Preisverleihung einer Politikerin mit einer authentischen und überzeugenden Vita. Deren Dialogfähigkeit und persönliches Engagement sind Kennzeichen eines Verantwortungsbewusstseins, das über den polischen Lagern steht. Mit der Initiative „Allianz für die Familie“ haben Sie gemeinsam mit Frau Liz Mohn Zeichen gesetzt, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens fördern. Eine familienfreundliche Unternehmenskultur und Arbeitswelt braucht Impulse aus allen Lagern. Gerade das würdigt der Ihnen verliehene Preis. Darum ist es mir leicht, hier zu sprechen.

Eine familienfreundliche Gesellschaft fördert die Bildung ihrer Kinder und erneuert auch die Sichtweise von Alter und Altwerden. Impulse dafür bezieht unsere Kultur aus der christlich - jüdischen Tradition, auf die ich in meiner Laudatio hinweisen will.

Die Weisheit Israels rechnet dem Alter nicht automatisch verständige Einsicht und kluge Ratschläge zu. Verwirf mich nicht in meinem Alter, verlass mich nicht, wenn ich schwach werde, lautet der Gebetsruf des 71. Psalms. Er lässt erkennen, dass die Realität des alltäglichen Alterslebens in biblischen Zeiten nicht verklärt werden sollte. Und beim Prediger heißt es: Ein Knabe, der arm, aber weise ist, ist besser als ein König, der alt, aber töricht ist und nicht versteht, sich raten zu lassen. (Koh 4,13)

Dennoch verdankt die Menschheit der Überlieferung Israels mit dem Elterngebot des Dekaloges einen unentbehrlichen Maßstab für die gegenseitige Verantwortung der Generationen für das gegenwärtige Zusammenleben. Davon soll hier die Rede sein.

I. Elterngebot zielt auf Verantwortungsgemeinschaft

Eine der wichtigsten geistigen Ressourcen hat Israel der Menschheitskultur mit der Thora geschenkt, die in dem Doppelgebot der Liebe zusammengefasst ist: Du sollst Gott deinen Herrn lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinem Vermögen – und deinen Nächsten wie dich selbst (denn er ist wie du).

Dieser Weisheit in ihrer jüdisch-christlichen Überlieferung verdanken wir das Wissen der Haltungen und Handlungen, welche uns Menschen fähig machen für jene Verantwortung, die ich und du zu einem wir zusammenschließt. Nur so können Eigennutz und Gewinnstreben gebändigt werden, die eben nicht nur Hilfen im Kampf ums Überleben sind, sondern meistens in der Form der Rücksichtslosigkeit auftreten. Eigennutz begründet die Fähigkeit des Menschen zu überleben. Die Nächstenliebe verleiht die Fähigkeit, das nicht auf Kosten anderer zu tun.

„… auf dass du lange lebest im Lande, das dir der HERR, dein Gott gibt“, dieses Zitat entstammt dem nach der hebräischen Zählung fünften der zehn Gebote, und das lautet so: „Du sollst deinen Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott gibt“. Im Deuteronomium wird noch hinzugefügt: auf dass du lange lebest und es dir wohl gehe…

Damit werden dem Volk des Bundes Gestaltungsmöglichkeiten des Zusammenlebens angeboten als eine ausdrückliche Verheißung: Leben wird gut, wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kindern gelingt, und das Volk wird leben, wenn Kinder ihre Eltern ehren.

Im jüdischen Pflichtenkatalog, den Mizwot, und in den christlichen Katechismen werden in der Entfaltung des Wortes ehren den heranwachsenden Kindern zunächst die Pflichten gegenüber ihren Eltern eingeschärft. Die Eltern vermitteln „die Lebenskunde, …ohne deren Beachtung das Wohnen des Volkes und also auch das Wohnen dieser Kinder im Lande … keine Dauer haben könnte“.

Wenn auch in ökonomischen Zusammenhängen zurzeit häufig der Eindruck erweckt wird, als sei die Erfahrung von Älteren entbehrlich, hat das Elterngebot als Hinweis auf die gesellschaftliche Kraft der Lebenserfahrung auch heute noch seine bleibende Bedeutung. Sie haben, verehrte Frau Ministerin, in Ihrer Grundsatzrede „Erfahrung hat Zukunft“ eindrücklich darauf hingewiesen, dass die Potentiale der Senioren zu nutzen sind. Allerdings wird das Elterngebot bei vielen vorschnell als Ausdruck einer patriarchalischen, autoritären Ordnung gekennzeichnet, vor allem wohl deshalb, weil unsere Katechismen die Pflichten aus dem Gebot übertragen auf den Gehorsam gegenüber anderen Autoritäten wie Lehrer und Obrigkeit. Aber das Elterngebot ist nicht als eine Erziehungshilfe zum Kindergehorsam gedacht, wenn es die Achtung und Weitergabe von Lebenserfahrung einfordert, und schon gar nicht als Ordnungshilfe für das Verhältnis zur Obrigkeit. Es zielt vielmehr auf die lebenslange Verantwortungsgemeinschaft zwischen den Generationen. Dazu gehören vor allem die Versorgung und die Pflege der alten und kranken Familienangehörigen. Familie ist also nicht nur überall dort, wo Eltern für ihre Kinder sorgen, sondern sie ist auch der Ort, an dem Kinder für ihre alten Eltern verantwortlich sind.

Das Elterngebot der Thora setzt eine Gesellschaft voraus, in der der Einzelne über die Familie in die kulturelle, politische Gemeinschaft eingebettet ist. Das waren in biblischer Zeit vor allem Großfamilien. Unter diesen Bedingungen war die Fürsorge der Generationen füreinander, die das Gebot einschärft, eine Grundlage der sozialen Sicherung. Menschen bekamen auch für ihr Alter Freiraum gewährt, wurden in Zeiten der Krankheit gepflegt und wurden versorgt, wenn sie mit eigener Arbeit den Lebensunterhalt nicht mehr erwirtschaften konnten. Die Eltern ehren, das bedeutete im hebräischen Wortsinn: Sie dürfen ihr Gewicht und ihr Gesicht haben und behalten, auch wenn sie selber nicht mehr für den Lebensunterhalt der Familie sorgen können. Unter damaligen Verhältnissen war dieses Sozialsystem sehr erfolgreich – trotz allen Murrens und aller Nörgelei über das Alter, die es auch in biblischen Zeiten schon gab; erfolgreich vor allem, wenn die ganze Gesellschaft unter erschütternden Ereignissen wie Missernte, Krieg und Ausbeutung zu leiden hatte.

II. Verantwortung der Generationen füreinander - „Generationenvertrag“

Gesellschaftsstrukturen sind heute komplexer als in biblischen Zeiten. Kleinfamilien und eine wachsende Single-Kultur machen gesellschaftliche und politische Arbeit erforderlich, damit plausibel bleibt, dass die Alten zu ehren dem Wohle aller zugute kommt. Zudem ist es viel schwieriger zu vermitteln, wie unter heutigen ganz anderen Bedingungen die Generationsverantwortung als eine Solidarität auch mit denen  gewahrt werden kann, zu denen keine verwandtschaftliche familiäre Beziehung besteht.  Und vollends schwierig ist es, Solidarität zu üben mit Generationen, die noch gar nicht auf der Welt sind.

Es gibt Gott sei Dank noch viele Familien, in denen Verantwortung unter den Generationen wahrgenommen wird. So erbringen Familien immer noch mehr als 80 % der Leistungen für ihre pflegebedürftigen Angehörigen. Sehr häufig sind zwar die Lebens- und Wohnbedingungen nicht gegeben, um diese Fürsorge unter einem Dach zu leisten. Auch wohnen alte Menschen gerne selbständig, solange es irgend geht. Aber auch in solchen Lebenssituationen sind Kinder verantwortlich, und in den meisten Fällen verhalten sie sich entsprechend.

Das Füreinander-Einstehen der in Ehe oder Lebenspartnerschaft miteinander verbundenen Menschen und die Bereitschaft von Eltern und Kindern, lebenslang Verantwortung füreinander zu tragen, gehören zu den Existenzgrundlagen unserer Gesellschaft. Die Eltern zu ehren bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, alles zu sanktionieren, was sie getan und unterlassen haben. Es heißt aber, dass wir mit ihnen in einer Reihe, in einer Haftungsgemeinschaft stehen. Würden wir Nachgeborenen uns aus dem Staube machen und die Verantwortung für die Geschichte unseres Volkes von uns weisen, wäre der Rückfall in rassistische Dunkelheit unausweichlich.

Zugleich aber muss Verantwortung auch eine lebendige, auf Gegenwart und Zukunft bezogene Gestaltungspflicht bleiben oder werden, damit das Zusammenleben der Menschen in unserem Land und der ganzen Menschheit besser gelingt. Dieses den Menschen im Lande einzuschärfen, haben Sie in vielen Ihrer Aktivitäten geleistet.

In der politischen Diskussion wird in diesem Zusammenhang von ‚intergenerationeller Verantwortung’ gesprochen und vom ‚Generationenvertrag’. Dabei handelt es sich nicht um einen Vertrag im juristischen Sinne, sondern um ein solidarisches Verhalten zwischen den Generationen. Es geht um die ethische Verantwortung von Generationen füreinander, und zwar einschließlich der Menschen, die erst in der Zukunft leben werden. Hans Jonas entwickelte das „Prinzip Verantwortung“ gerade im Blick auf die Handlungspflichten,  „welche Furcht und Ehrfurcht gebieten: dem Menschen … die Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens gegen die Übergriffe seiner Macht“ - und ich ergänze: gegen die Übermacht seiner Gleichgültigkeit – „zu bewahren“. Jonas entfaltet die neuen, bisher nicht gekannten Dimensionen der Verantwortung vor allem an den rasanten technischen Entwicklungen, welche früher nicht geahnte Risiken für die Biosphäre unseres Planeten und für den genetischen Bestand des Menschen selbst zur Folge haben. Wo es aber um die Existenz der Gattung in der Zukunft geht, ist die Verantwortung für die soziale Sicherung der kommenden Generationen eingeschlossen. Sie zu erkennen und anzuerkennen erfordert eine hohe geistige Leistung.

Die Diskussion um die Zukunft der Renten ist inzwischen nicht mehr ganz so hektisch. Sie war bisweilen peinlich angesichts der riesigen privaten Vermögen in unserem Lande. Aber sie hat auf das Thema der Generationenentwicklung aufmerksam gemacht, das eigentlich von Fachleuten schon seit Jahrzehnten als eins unserer Zukunftsprobleme bezeichnet worden ist, aber von der Politik lange unbeachtet blieb. Eine schrille Zankerei zwischen Jung und Alt um künftige Ressourcen ist unerträglich. Vom Krieg der Generationen zu reden, ist auf jeden Fall völlig unangebracht; noch immer gibt es ein gegenseitiges Geben und Nehmen zwischen den Generationen. Alter ist nicht automatisch mit Isolation, Heimexistenz und Abhängigkeit gleichzusetzen, und der Jugendwahn vieler Unternehmen in unserem Lande ist kein Heilmittel unserer schwächelnden Wirtschaft. Panik ist vor allem dann nicht angebracht, wenn die Finanzierung der Systeme rechtzeitig angepasst wird. Schon heute wird nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung gebraucht, um das „Sozialprodukt“ zu erwirtschaften. Wenn auch die Zahl der Rentner steigt, wird die Zahl der Arbeitlosen sinken; das Reservoir an nicht berufstätigen, aber arbeitsfähigen Menschen ist in unserem Lande noch recht hoch. Deshalb ist es wichtig, besonnene Schritte zu gehen, damit die kommende Generation ihre Alterssicherung aus solidarischer Versicherung und eigener Vorsorge erreichen kann.

Das Hauptproblem des Generationenverhältnisses in der Zukunft wird jedoch kein materielles sein. Die steigende Zahl alter Menschen, die unaufhaltsame Veränderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft wird künftig aus anderen Gründen viel Aufmerksamkeit brauchen.

Wie gelingt es angesichts der Veränderung der Familienstrukturen und der sich aufweichenden Formen des Zusammenlebens Lebensräume und Lebensformen für alte Menschen zu finden, die ihrer Würde entsprechen? Entlastung wird es nur geben, wenn Nachbarschaften und Gemeinden ihre solidarischen Kräfte weiter entfalten.

Wie gelingt es angesichts der steigenden Zahl von körperlich relativ stabilen, aber geistig verwirrten Menschen, die Pflege zu gewährleisten? Eine ausreichende Zahl von Pflegekräften ist kaum in Sicht.

Vor allem unter diesen Bedingungen muss die Generationenverantwortung deutlicher in den Blick kommen. Der Fortschritt der Medizin hat viel Segen gebracht. Viele Krankheiten, die früher unweigerlich zum Tode führten, haben ihre Bedrohung verloren. Viele an Krebs Erkrankte können heute mit Chemo- und Strahlentherapie geheilt werden oder bekommen wenigstens eine früher nicht mögliche Lebensverlängerung geschenkt. Die durchschnittliche Lebenserwartung wird immer höher. Aber zugleich verlängert sich damit auch die Phase, in der die Menschen zunehmend schwächer werden. Viele haben Angst, die sonst so segensreiche medizinische Technik könnte sie am Ende einer sinnlosen Lebens- und Sterbeverlängerung aussetzen. Sie haben Angst davor, dass sie selbst, ihre Angehörigen oder Freunde in eine Situation unerträglicher Leiden geraten, aus der kein Ausweg möglich scheint. In der Tat sterben vier von fünf Menschen nach einer langen Zeit abnehmender Kräfte und zunehmender Hilflosigkeit. In vielen Fällen ist der körperliche Zustand noch besser als die Kräfte ihrer Sinne. Und oft zieht sich das Sterben quälend lange hin.

Es ist hier nicht der Ort die Konsequenzen für die Diskussion um die Sterbehilfe aufzuzeigen. Die Alternativen zur Tötung sind Leidensminderung durch Schmerztherapie und umfassende Sterbebegleitung durch Angehörige und in Hospizen.

III. …wenn deine Kinder dich fragen

Blicken wir noch einmal auf das Elterngebot, um uns vor Augen zu stellen, welch bedeutende ethische Ressource es darstellt. Alle Welt spricht heute vom Ende der Familie und von der Ehe als einem Auslaufmodell. In der Tat sind die steigenden Scheidungszahlen erschreckend; die Bindungsbereitschaft hat stark abgenommen. Zugleich aber wächst gerade in dieser Zeit der Flüchtigkeit der Beziehungen eine neue Sehnsucht nach Stabilität. Das neuerliche Erstarken des Familienwunsches innerhalb der nachwachsenden Generation, den alle Jugendstudien registrieren, stellt eine erfreuliche Entwicklung dar. Junge Menschen bemühen sich, ihre Partnerschaft mündig zu gestalten, und die meisten lassen diese durch die Rechtsbindung der Ehe schützen. Die hat ihren Wert nicht in sich selbst. Auch die Ehe ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um der Ehe willen. Ihre lebensdienliche Aufgabe liegt vor allem in der Bereitstellung verlässlicher Beziehungen. Darauf haben Sie, Frau Ministerin, immer wieder hingewiesen. Kinder sind ihren Eltern anvertraut, damit diese sie im Aufwachsen begleiten und schützen. Dazu gehören die leibliche Fürsorge, die Förderung der geistigen und seelischen Entwicklung, die Erfahrung von Liebe und Verlässlichkeit.

Die  Sorge ist verbreitet, wie denn angesichts der Flüchtigkeit der Beziehungen Verlässlichkeit, Loyalität und Zielstrebigkeit wachsen können. Solche Tugenden werden in vielen Familien nicht mehr vermittelt, und die moderne Arbeitswelt scheint sie auch nicht mehr zu brauchen.

Vor diesem Hintergrund will ich die entscheidende Gabe des biblischen Elterngebotes betonen. Sie besteht darin, dass Väter und Mütter die Grundlagen für gelingendes Zusammenleben, nämlich den kulturellen Schatz von Werten und Lebenserfahrungen an die jeweils nächste Generation weitergeben und diese ihrerseits diese Grundlagen übernimmt, um sie auf ihre neue Situation hin zu entwickeln. Hier gilt es, die eigentliche, die wichtigste Generationenverantwortung wach zu halten, weil von der alles andere abhängt.

Unabhängig davon, ob Eltern ihr Kind haben taufen lassen oder nicht, - wenn sie  die geistige Entwicklung ihrer Kinder fördern wollen, müssen sie ihnen auch die kulturelle Überlieferung nahe bringen, die unser Land geprägt hat. Das ist für unseren Kulturkreis vor allem die jüdisch-christliche. So wie eine Gesellschaft dafür Sorge zu tragen hat, dass kommende Generationen saubere Erde und reines Wasser und den Artenreichtum von Fauna und Flora hinterlassen bekommen, so sind auch die geistigen und religiösen Traditionen zu bewahren.

„Wenn dich dein Sohn morgen fragen wird…“, so wird in der jüdischen Tradition das eingeleitet, was die Generationenverpflichtung ausmacht. An Kind und Kindeskinder soll es weitergegeben werden. „Höre, Israel! ER ist unser Gott, ER allein. Du sollst IHN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von all deiner Kraft.“

Das Glaubensbekenntnis Israels – faszinierend und eindrücklich. Von einer Generation zur anderen soll es getragen werden. - ‚Du sollst diese Worte zu Herzen nehmen, den Kindern einschärfen. Wo du stehst und gehst, zu Hause und in der Fremde. ‘

Das Bekenntnis Israels ist nicht vorrational unaufgeklärt. Es ist erlebte Geschichte, in der religiöse Erfahrung lebendig blieb, auch und gerade in den dunklen  Jahrhunderte langen Verfolgungen. Gerade wenn menschlich nichts mehr zu gehen scheint, gerade wenn rationale Konstrukte zu größenwahnsinnigen Staats- und Gesellschaftskonzepten gewuchert sind, gerade wenn terroristischer Irrsinn die Ratlosigkeit auf die Spitze treibt, erweist sich die Gotteserfahrung als Halt und als Gegengewicht. Wo diese Gotteserfahrungen in religiöse Beliebigkeit privatisiert oder ideologisch-propagandistisch verspottet werden, da brechen sie sich neu ihre Bahn. Menschen machen immer wieder die Erfahrung, dass die Wirklichkeit nicht aufgeht in dem, was einer zahlen und berechnen kann. Heute entdecken immer mehr Menschen: Wo Gott abgeschafft oder verdrängt wird, entsteht ein Vakuum, in das neue Mächte einströmen, keine klaren rationalen, sondern verführerische: Mammon nennt das Jesus in der Bibel. Die Jagd nach Geld und Macht zerstört das Zusammenleben, drückt Schwache an die Seite, geht über Leichen.

Kinder entdecken rasch, worauf die Eltern und auch die Großeltern in Glücks- und Krisenzeiten wirklich zurückgreifen, worauf sie "im Leben und im Sterben", im Erfolg und auch in den schweren Zeiten des Lebens unbedingt vertrauen. Sie erleben an ihren Eltern auch Lebenskrisen und Phasen des Zweifelns. Das ist recht so, denn Kinder brauchen keine perfekten Vorbilder, wohl aber Erwachsene, die ihren kritischen Fragen zu antworten suchen.

Sie sind, Frau Ministerin, was die Stabilität und die Verlässlichkeit und auch die künftige Generationenverantwortung betrifft, voller Hoffnung und Zukunftsvertrauen. Weil es in unserer pluralen Gesellschaft keinen anerkannten Wertekanon zu geben scheint, verstärkt sich das Bedürfnis nach Orientierung. Und gerade wenn es nur wenige Grundüberzeugungen gibt, die als nötig für gelingendes Zusammenleben gelten wie der Schutz des Lebens und der Würde, die Verlässlichkeit von Bindungen, das Vertrauen in Verträge, das Einhalten von gesetzlichen Regeln - gerade dann wirkt die Überschreitung solcher Normen umso schmerzlicher und wird die Einschärfung dieser Regeln von einer Generation zur nächsten um so dringlicher.

Die Welt ist schon gerettet, glauben wir Christen. Darum können sich Väter und Mütter, Lehrer und Lehrerinnen, Politiker und Politikerinnen, die unsere kulturelle Überlieferung weitertragen, getrost auf die Kunst des Möglichen konzentrieren. Das meiste, was wir an Werten und Orientierung zum Leben und zum Gelingen unseres Zusammenlebens brauchen, ist uns in der jüdisch-christlichen Überlieferung vorgegeben.

Von daher lassen sich verlässliche Maßstäbe gewinnen zur Bewertung unseres Lebensstils, unserer Bildung und unserer sozialen Verantwortung, …auf dass wir lange leben und es uns wohlgehe auf dieser Welt, die uns Gott geschenkt hat.

Verehrte Frau Ministerin Renate Schmidt, Ihr Lebenswerk legt Zeugnis ab für die Wurzeln, die Sie prägen, für ihre Fähigkeit zum Dialog und für das Ethos, dem Sie sich verpflichtet fühlen. Ich wünsche Ihrem weiteren Wirken gute Früchte.