Frauen führen anders – Eine gegenwartsbezogene Lektüre Buch Rut

Petra Bahr

Vortrag in der Führungsakademie Baden-Württemberg, 5. April 2006

„Welche Führungsqualität haben Frauen? Sie führen Männer an der Nase herum“. Ein typischer Stammtischkalauer in Männerrunden, der nicht nur in kleinbürgerlichen Vorortkneipen offensichtliche Ressentiments und versteckte Ängste zum Ausdruck bringt. Schenkelklopfend tauscht man sich auf ähnlichem Humorniveau auch in Vorständen von Banken, Universitäten, Klinken und Behörden, ja, horribile dictu, auch in Kirchenleitungen aus. Frauen in Führungspositionen sind – vor allem in Deutschland – immer noch keine Selbstverständlichkeit. Sie sorgen für Aufsehen und offenbar bei Männern –aber auch bei Frauen – für nachhaltige Verstörung. Hat es dann eine doch mal an die Spitze geschafft, kommt als erste Frage sofort: Führen Frauen anders? Schon die Frage ist, sieht man genauer hin, ebenso verständlich wie abgründig, suggeriert sie doch, dass Frauen es auf dem üblichen Weg männlicher Erfolgsgeschichten gar nicht geschafft haben können. Oder aber es werden Heilserwartungen an einen sogenannten „weiblichen Führungsstil“ geknüpft, die meist ziemlich vage bleiben. Die diffusen Erwartungen an einen weiblichen Führungsstil münden am Schluss vor allem darin, dass alles möglichst anders werde, weicher, wärmer. Regressionssehnsüchte nach der idealen Mutter, der besten Freundin der Träume brechen sich Bahn, die sich verbinden mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungsmustern, die ihrem Ursprung nach auf biologische Tatsachen zurückgeführt werden: Mütterlich, sozial, am Wohl der Anderen orientiert, bis zur Verausgabung verständnisvoll, geduldig, kommunikativ. Aussagekräftig ist hier sind hier weniger die Zuschreibungen zum weiblichen Führungsstil an sich als die schlechten Erfahrungen mit männlichem Führungsfiguren, die sich in dieser Sehnsucht nach einem „anderen“ Führungsstil ausdrücken, den man sich in Wahrheit von Führungspersönlichkeiten beiderlei Geschlechts wünscht. Und schon sind wir mitten in einer Debatte von philosophischem Ausmaß: Welche Rolle spielt die Geschlechterdifferenz in Führungsfragen? Lässt sich tatsächlich ein Unterschied ausmachen, der über Prägung, Lebensgeschichte, Bildungsbiographie und Persönlichkeit hinausgeht?
Man braucht kein Studium in feministischer Theorie, um sich das Ausmaß der Verwirrung zu vergegenwärtigen, dass in solchen Debatten immer noch zum Ausdruck kommt – letztes Beispiel ist die medial ordentlich angefachte Diskussion über den Führungsstil der Kanzlerin, Angela Merkel. Vulgärphilosophisch erwog man in breitester Öffentlichkeit die allvertrauten Fragen: Hat sie es nur an die Spitze geschafft, weil sie in vollendeter Mimikri sämtliche Eigenschaften von ehrgeizigen Männern in ihrer Umgebung nachgeahmt hat, um so besser zu sein als diese selbst? Ist sie gar nur an die Spitze ihrer Partei geraten, weil sie so kalt und distanziert ist, wie keine Männerkumpanei das erlauben würde? Oder ist es gerade umgekehrt, wie andere Journalisten wissen wollten: Frau Merkel gab dem Helmut Kohl das artig-unterwürfige Mädchen und hat es gerade durch vorgetäuschte oder echte Unbedarftheit erst in den Kreis der Auserwählten geschafft? Hat Frau Merkel gar ein „Männergen“, wie es eine große deutsche Zeitung in entlarvendem Metaphernraub wissen wollte, mit der Begründung, Frau Merkel sei nicht nur Protestantin und kinderlos, nein, sie sei zu allem Überfluss auch noch Naturwissenschaftlerin. Wurden ihr im Pfarrhaus etwa die vollbusigen Babypuppen in rosaglitzerndem Abendkleid vorenthalten, so dass ihr nun nichts anderes übrig bleibt als mit Männern im Sandkasten der Politik zu spielen?

Freilich machen auch die einschlägigen Frauenzeitschriften nicht halt vor der öffentlichen Pflege von Vorurteilen und Ressentiments. Kann die Frau, wo sie uns doch endlich allen einmal ein Vorbild ist, sich nicht mal ein wenig femininer anziehen? Und warum will sie nichts davon wissen, die Speerspitze des deutschen Feminismus zu sein. Besonders kritische Magazine belehrten sie in einem reichlich unsolidarischen Ton darüber, dass die Kanzlerin schließlich Ihnen alles verdanke, weswegen man nun wenigstens erwarten könne, dass Frau Merkel von sich nicht mehr als „Physiker“ spreche – und überhaupt: die Nachlässigkeit im Umgang mit der inklusiven Sprache.

Wer danach fragt, ob Frauen anders führen, begibt sich auf gefährliches Terrain und rutscht schneller aus, als ihm oder ihr lieb ist, weil sie Verallgemeinerungen provoziert, die man sich hinterher vorwerfen lassen muss. Für jede weibliche Führungseigenschaft findet sich nämlich ein männliches Beispiel, und für jedes typisch männliche Verhalten ein Frauenname. Es ist außerdem im Moment noch sehr schwer zu beantworten, ob das spezifisch „weibliche“ am Führungsstil von Frauen daraus resultiert, dass Frauen hier in der deutlichen Minderheit sind und mit Erfahrungsmustern operieren, die aus anderen Lebensbereichen stammen, oder ob der Kontrast nur deshalb so signifikant ist, weil Frauen möglicherweise einen neuen Führungsstil repräsentieren, während Männer der Tendenz nach eher überkommenen Führungsidealen entsprechen wollen. Ersteres spräche dafür, dass es weniger das Geschlecht, als die andere Sozialisation und damit andere Erfahrungen und andere Verarbeitungsstrategien einen wie auch immer zu bestimmenden Führungsstil prägen. Außerdem sollte man sich dafür hüten, mit dem Unterstellten Anderen des weiblichen Führungsstils automatisch auf das „Bessere“ zu schließen. Es gilt vermutlich eher, Schwäche und Stärke von Frauen in Führungspositionen genau zu bestimmen und abzuwägen. Sonst besteht die Gefahr, das real existierende Männer mit idealen Frauen verglichen werden. Das erzeugt ein Gefälle, das häufig Ressentiments eher verstärkt als vermindert.

Allerdings hat die Frage zuerst einmal eine ziemlich erfreuliche Tendenz. Sie geht nämlich wie selbstverständlich davon aus, dass Frauen führen können, wollen und sollen. Denn nur so macht die Frage Sinn. Damit widerspricht die Frage einem traurigen Trend, der auch in den letzen Jahrzehnten nicht wirklich umgekehrt werden konnte: In Deutschland sind Frauen in Führungspositionen eine Ausnahme – im europäischen Vergleich ein bedenklicher Sonderweg, der besonders nachdenklich macht, weil Frauen in England, Frankreich und Skandinavien nicht nur sehr viel öfter in Führungsverantwortung stehen, sondern auch noch mehr Kinder bekommen. Man braucht gar nicht erst auf die schnöden Zahlen verweisen. Nennen sie auch dem Kopf eine Vorstandschefin, eine Professorin, die Präsidentin einer großen Stiftung. Nun haben wir ja eine Bundeskanzlerin, werden Sie einwenden. Ja, und die Evangelische Kirche hat immerhin mittlerweile drei Bischöfinnen vorzuweisen. Und dennoch: vielleicht weist die Diskussion um Angela Merkel vor allem auf den Umstand, dass sie eine Ausnahmegestalt ist. So wurde sie Projektionsfläche von ganz unterschiedlichen Ängsten und Sehnsüchten. Führen Frauen anders? Ich will versuchen, vor dem Hintergrund eines sehr alten biblischen Textes eine vorsichtige Antwort auf die Frage geben. Das wunderbare Buch Rut wurde in meiner Lektüre natürlich auch zum Spiegel eigener Berufserfahrungen, in einer Unternehmensberatung, an der Universität, im Medienbetrieb und in der Kirche.

Die Geschichte ist schnell erzählt und beginnt mit einer Frau namens Naomi. Die Israelitin aus dem Land Judea lebte einst mit Ihrem Mann und den zwei Söhnen im Land der Moabiter. Die Söhne heirateten zwei moabitische Frauen – für Israeliten eigentlich eine problematische Angelegenheit, legte das Religionsgesetz doch nahe, um der kulturellen Identität willen keine Familien mit Frauen mit anderen Volks- oder Stammesangehörigen einzugehen. Dennoch eine übliche Praxis, solange die Familie im Gastland bleibt. Dann sterben nacheinander Naomis Mann und ihre zwei Sohne. Drei Frauen, auf sich selbst gestellt, im alten Orient eine Katastrophe. In tiefer Verzweiflung will Naomi zurück in die Heimat, nach Judäa. Die Schwiegertochter aber sind nicht mehr sozial abgesichert und in Judäa, am alten Familienstammsitz des verstorbenen Ehegatten, sicher nicht willkommen. Deshalb empfiehlt Naomi den Schwiegertöchtern, in Moab zu bleiben, zu den Eltern zurückzukehren und sich neu zu verheiraten – die einzige Möglichkeit einer Frau, soziale Sicherheit und Anerkennung zu erhalten. Die eine Schwiegertochter bleibt also schweren Herzens im Land ihrer Familie. Rut aber, die andere Schwiegertochter, weigert sich. Sie will die Schwiegermutter nicht alleine lassen und fällt einen folgenschweren Entschluss: sie verlässt die Heimat und wagt den Sprung in eine ihr fremde und bedrohliche Welt: zu siedelt mit Naomi nach Judäa. Ihre Motive bleiben unklar. Folgt man dem Duktus des schmalen Buches, dann scheint es vor allem die Zuneigung zu Naomi und die Liebe zum verstorbenen Mann zu sein, die stärker ist als die Bindung an die eigene Familie. Die Gemeinschaft des Sippenverbundes reagiert den kulturellen Vorgaben entsprechend brutal auf die Ankunft der beiden Frauen und empfängt die beiden Frauen mit Spott, die eine Witwe, die andere Ausländerin –rechtlos sind sie beide. Drohungen und Übergriffe bleiben nicht aus.

Das Recht auf das Land des Mannes hat Naomi nicht – eine Frau kann nicht erben. Wovon sollen sie leben? Die Regeln der Sippe sehen die Rolle eines „Lösers“ vor, der nächste männliche Verwandte von Naomis verstorbenen Ehemann muß sie nun eigentlich heiraten. Diese Regel garantiert die Versorgungsansprüche der Frau. Allerdings wäre diese Lösung für Rut, die moabitische Frau, fatal.

Nun kommt Boas ins Spiel, ein reicher Grundbesitzer, der auch das Land der Familie mitbewirtschaftet. Naomi und Rut ziehen sich nicht in die Verzweiflung zurück. Die beiden Frauen entwickeln stattdessen einen Plan, den sie mit einer Hartnäckigkeit verfolgen, die an Kaltschneuzigkeit grenzt, um einen Weg zurück in die soziale Gemeinschaft zu finden: Rut schleicht sich auf die Äcker des Boas und stiehlt sich unter die arbeitenden Mägde. Die Fremde fällt dem Grundbesitzer auf, weniger allerdings ihrer exotischen Schönheit, die eher ein Stigma als ein Vorteil ist, weil sie mehr jedoch wegen ihres Arbeitseifers. Die erste Bewährungsprobe ist bestanden. Nun schickt Naomi ihre Schwiegertochter allerdings in eine Situation, die vorderhand für den Wahnsinn einer trauernden Witwe aussieht: sie ermutigt Rut, sich in der Nacht zu Boas zu begeben, ihn mit Essen und Trinken in fröhliche Stimmung zu versetzen, um sich dann zu ihm zu legen.  Ruts Gedanken, als sie von den Ideen der Schwiegermutter hört, sind leider nicht überliefert. Der Plan geht auf: Boas findet, wohlgenährt und nach einem tiefen Schlaf unter sattem Sternenhimmel, die schöne Moabiterin zu seinen Fußen liegen. Bei den Füßen blieb sie nicht. Boas will Rut unbedingt zur Frau und macht mit dem „Löser“ einen Handel ab. Der will zwar das Land, aber keineswegs die Moabiterin, die durch Naomis Willen daran gebunden ist. So heiratet Boas Rut – eine Ehe außerhalb der traditionellen Heiratsregeln, ja, genauso genommen eine Ehe, die alle Traditionen auf den Kopf stellt: Es waren die zwei Frauen, die sich den Boas auserwählt haben.  Aus der Ehe zwischen dem reichen Israeliten und der fremden Moabiterin geht ein Sohn hervor  - der Großvater des späteren König Davids.

Eine ziemlich verrückte Geschichte, die auf den ersten Blick vor allem den Stammtisch-Kalauer zu bestätigen scheint. „Die Führungsqualität von Frauen – Männer an der Nase herumführen.“ Im Falle von Rut und Naomi könnte man mit dem Vorbehalten sogar noch weitergehen: Sie führen die Männer im Dort nicht nur an der Nase herum, sie arbeiten auch mit allem Mitteln weiblicher Verführungskunst. Dennoch schließt dieses Buch die Führungsqualitäten von Frauen auf wie kein anderes biblisches Buch. Übrigens: Im Buch Rut ist, vermutlich zum erstenMal in der Geschichte der Literatur, von „starken Frauen“ die Rede. Eine ganze Reihe von ihnen wird genannt, eine erstaunliche Ahnengalerie mutiger, eigensinniger Frauen, die als Führerinnen des Volkes Israel hervorgehoben werden. Ein auffälliger Sachverhalt, der um so bemerkenswerter ist, wenn man überlegt, wie wenig Folgen diese matrilineare Linie biblischer Glaubensvorbilder für die Gestaltung der Kirche seit ihrer Gründung hatte. An diese Frauen mit Paulus- oder Petrus-Qualitäten wurde und wird nur selten erinnert. Was aber zeichnet die beiden Frauen Naomi und Rut als „starke Führungspersönlichkeiten“ aus?

Führungsverantwortung wider Willen

Zuallererst sei eine Eigenschaft, die jahrhundertelang bestimmend war, wenn Frauen Führungsaufgaben übernommen haben und die eigentlich keine Eigenschaft, sondern ein Umstand ist: Frauen suchen sich verantwortliche Position selten aus, eher schon geraten sie irgendwie da herein. Während Männer ihre Biographien oft genauestens planen und systematisch verfolgen, oft auf Kosten ihrer Partnerin, gehen Frauen ihre Berufstätigkeit oft mit anderen Schwerpunkten an: inhaltliche Erfüllung, was gestalten wollen – das sind die Ziele, die Frauen angeben. Dabei sind sie nicht weniger ehrgeizig, legen aber andere Kriterrien an. Eigentlich ideale Voraussetzungen für Führungsverantwortung. Dennoch sind Frauen zumindest historisch eher beiläufig oder wider Willen in Führungsrollen geraten.

Denken sie an die starken Frauen, die im ruinierten Deutschland nach 45 Hauser und Städte aufbauten, Kriegswitwen, Ehefrauen von Vermissten, all die Ewig-Verlobten und die, die man respektlos die „Übrigebliebenen“ genannt hat, die Flucht und Vertreibung trotzten und ihre Männer in den Pfarreien, Ärztepraxen, Kanzleien und Schulen vertraten. Während sie nebenher Kinder erzogen und erste zivilgesellschaftliche Netzwerke aufbauten.

Eigentlich hatten sie sich ihr Leben anders vorgestellt. Oder das bürgerliche Umfeld hatte ihnen andere Vorstellungen als Flausen vertrieben. Selbst akademisch ausgebildete Frauen hatten in erster Linie Ehemann und Familie zu dienen. Doch als die Männer massenhaft ausfielen, sind die Frauen in die Lücke gesprungen. Sie haben Verantwortung übernommen, ohne zu zögern, für ihre Kinder und ihr Land. In den Köpfen meiner Generation sind die Bilder der staubigen, alterslosen Frauengesichter geblieben, das Haar hinter Kopftüchern verborgen, die mit bloßen Händen Steine schleppen: Trümmerfrauen. Von den Frauen, die die Berufe ihrer Männer in einer Art ungeregelter Vakanzvertretung übernommen haben, gibt es keine Bilder: keine Frauen im viel zu großen Arztkittel oder im Talar ihres Mannes. Die Geschichten dazu werden wie ein Familiengeheimnis gehütet.

So bleibt in unseren Köpfen das Bild zäher, ja harter Frauen, die in vollständiger Selbstverneinung wiederum: dienen. Eine verzerrte Wahrnehmung, die bis heute dazu führt, dass das persönliche Leid, dass aus dieser Führungsverantwortung wider willen erwuchs, immer noch ein Tabuthema ist: Irgendwann kamen nämlich Männer zurück: die eigenen oder die Verwandten, und verbannten die Frauen ohne viel Federlesens zurück an Herd und Kinderbett. Hinter der Hand erzählt man sich von den glänzenden Leitungsqualitäten der Pfarrerinnen, Ärztinnen und Rechtsanwältinnen. Das Frauenbild der 50er und 60er Jahre jedoch war dagegen von einer rückwärtsgewandten Sehnsucht nach dem 19. Jahrhundert, die man sich nur als spezifische deutsche Traumabewältigung via Sozialromantik vorstellen kann. Immer noch wollen laut Umfrage die Patriarchen deutscher Familienunternehmen ihren Chefsessel nur für einen männlichen Nachkommen räumen. Und wenn der ausbleibt, wird die Firma eher verkauft, als dass man der Tochter diese Aufgabe überträgt. Dabei zeigen die Erbengeschichten der letzten zehn Jahre, dass Töchter die Erwartungen ihrer Väter als Firmencheffinnen oft weit übertreffen, gerade weil sie den Führungsstil deutlich verändern. Wie selten Väter diese Erfahrungen zu machen gewillt sind, zeigt die Tatsache, dass die Übernahme an der Spitze eines Familienunternehmens, etwa der Firma Würth, durch eine Tochter – in diesem Falle Bettina Würth -  immer noch für großes mediales Interesse sorgt.

Aus der historischen Führungskompetenz wider Willen kann man schon einmal eines ableiten: Wenn Frauen führen müssen, tun sie es. Frauen übernehmen Verantwortung, wenn sie die Möglichkeit haben und wenn man sie lässt. Nur selten schieben Frauen Verantwortung ab, es sei denn, die Umwelt redet auf sie ein und vermittelt ihr in hinterhältigem oder wohlmeinendem Flüsterton: „Das schaffst Du nicht. Aber bitte, es ist Deine Entscheidung.“

Wie Naomi und Rut sind es oft Frauen in schwierigen Lebenssituationen, die über sich hinauswachsen. Denken Sie an die Frauen, die nach dem Tod ihrer Männer ein mittelständisches Unternehmen übernommen haben. Fünfzig Jahre später kommt es seltener vor, dass Frauen aus Not in Führungsverantwortung geraten. Zumindest prima facie. Der Moment, wo plötzlich eine Frau gegen die eigenen Hoffnungen und Pläne in Führungsverantwortung gerät, hat heute andere Gründe. Immer noch wird nämlich bei der Besetzung von Führungspositionen tendenziell nach einem Mann gesucht. In der Regel kommt man vor allem in großen Unternehmen, aber auch bei der Benennung von Schuldirektorenstellen oder Professuren, erst dann auf eine Frau, wenn die Männer plötzlich ausfallen, ablehnen oder drastisch schlechter qualifiziert sind. Dann sind es Frauen, die einspringen und in die neue Aufgabe hineinwachsen.
Wenn man sie dann fragt, wie sie an diese Stelle gekommen sind, werden sie meist antworten: „es hat sich so ergeben. Eine glückliche Koinzidenz, zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort.“ Fragen Sie einen Mann, so wird er sagen, mehr oder weniger vorsichtig: „Das war eine zwingende Entwicklung, schließlich bin ich der Beste!“.

Frauen führen kommunikativ

Ein Zweites lässt sich im Buch Rut lernen. Frauen führen kommunikativ. Selbstredend gibt es auch Gesprächsmüffel oder Alleinrednerinnen, in der Regel jedoch wissen Frauen um die Notwendigkeit, mit anderen dauerhaft im Gespräch zu sein, weil eine nie alles kann oder sieht. Naomi ist ein gutes Beispiel für diese „Gesprächsführung“. Sie versucht Rut mit guten Argumenten zu überreden, in ihr Elternhaus zurückzukehren, lässt sich dann aber von der Überzeugungskraft ihrer Schwiegertochter eines Besseren belehren, obwohl sie die Risiken ihrer Entscheidungen kennt. Stattdessen verändert sie den Richtungssinn ihrer Pläne und bezieht Rut in ihr Projekt des sozialen Überlebens mit ein, ohne die Augen vor dem Risiko zu verschießen, das Rut eingeht. Aber Naomi traut ihrer Schwiegertochter eine eigene Entscheidung zu. Es ist diese Flexibilität, die die Kommunikation von Frauen tendenziell auszeichnet, weil sie Ihr Gegenüber, auch das untergebene, ernst nehmen und in klarer Abwägung der Argumente in der Lage sind, eigene Positionen zu revidieren – um eines größeren Ganzen willen. Außerdem sind Frauen eher bereit, Verantwortung zu teilen. Männer sind oft verblüfft über diese Art der Kommunikation und halten diese Elastizität für Schwäche. Eine gefährliche Dummheit, die allerdings oft dazu führt, dass männliches Gesprächsgebaren die Oberhand gewinnt: gewonnen hat der, der sich am Schluss durchgesetzt hat. Naomi und Rut jedoch gewinnen, weil sie zusammenhalten und ihre Pläne voreinander offen legen. Diese Offenheit ist nicht mit Gefühlsduseligkeit zu verwechseln. Es ist im Gegenteil das beste Mittel gegen Misstrauen und Missverständnisse, Pläne offenzulegen und die Perspektive des Gegenübers anzuerkennen.

Frauen sind risikobereit und scheuen keine neuen Situationen

Wie Naomi und Rut sind Frauen bereit, Risiken einzugehen und Kopf und Kragen zu riskieren, wenn sie den Eindruck haben, dass so ein Risiko sich lohnt. Das Vorurteil lautet anders: Frauen seien immer auf Sicherheit bedacht. Das stimmt meiner Erfahrung nach nicht und ist auch durch Untersuchungen anders gedeckt. Allerdings begreifen sie Risiken weniger als individuelle Mutprobe oder als Möglichkeit, sich heroisch zu zeigen. Draufgängertum um der eigenen Profilierung willen ist nicht ihre Sache. Das zeigt sich da, wo Frauen an der Börse spekulieren. Bedachter und gleichzeitig risikobereiter, scheinen sie weniger Ihren ersten Spielerinneninstinkten als Ihrer analytischen Urteilskraft zu folgen. Außerdem lassen sie sich weniger von der eigenen Linie abbringen als Männer, die sich durch Erfolge anderer in Konkurrenzsituationen treiben und sich schneller zu überflüssigen Risiken verleiten. Frauen gehen also letztlich wesentlich kalkulierter mit Risiken um und können diese besser von Gefahren unterscheiden. Ihre Abwägungsstrategien verlaufen häufig anders, vielleicht, weil sie auch in Führungspositionen oft nichts zu verlieren haben. Frauen gehen dagegen Wagnisse um einer Sache willen ein und sind eher bereit, die persönliche Verantwortung zu übernehmen, wenn die Sache schief geht.

Frauen gehen zielgenau über Umwege

Untersucht man den Plan, den Naomi und Rut fassen, um wider Sinn und Verstand doch noch zum Erbe und zu einer gesicherten Position zu kommen, so stellt man fest, dass sie ihren Plan in zwei Schritten umsetzen. Naomi ist so klug, nicht sofort so Boas zu eilen, um ihr Rut und den Acker anzubieten. Das hätte er empört abgelehnt. Er ist nicht der „Löser“ – und was soll er mit einer fremden Frau? Naomi wählt deshalb einen indirekten Weg, der dazu führt, dass Boas am Ende denkt, alles sei seine eigene Idee gewesen. So machen das Ehefrauen übrigens seit Anbeginn aller Zeiten: dem Mann das Gefühl geben , dass er selbst auf eine Idee gekommen ist, ist die aussichtsreichste Methode, seinen Willen zu bekommen. Deshalb soll Boas Rut rein zufällig kennenlernen und selbst um sie werben – als hätte er sie sich selbst  vor die Füße gelehnt. Ich habe von vielen Frauen gehört, dass sie genau so ihre Vorstellungen durchsetzen. Machten sie in einer Gesprächsrunde unter Kollegen oder gar Untergebenen selbst den Vorschlag, der wie ein Befehl klingt, so verweigern sich die Kollegen. Wenn sie den Gesprächsprozess allerdings so führt, dass die Kollegen den Eindruck haben, selbst an der Entwicklung eines Konzeptes, einer Idee, einer Entscheidung beteiligt zu sein, ist der Erfolg auf Durchsetzung wesentlich größer. Das ist weibliche Zielgenauigkeit, die auch mal in Kauf nimmt, nicht als Autorin einer Idee dazustehen, weil sie ja weiß, dass sie sich durchgesetzt hat. Frauen können um die Ecke denken, haben oft den längeren Atem und eine andere Art,  Entscheidungen vorzubereiten. Der Nachteil liegt auf der Hand: oft empfehlen sich auf diese Weise gerade Männer, die an ihrer Weitsicht partizipieren.

Frauen sind klug und neigen zu komplexem Denken

Eigentlich unnötig zu erwähnen. Wer sich die Geschichte von Naomi und Rut genau überlegt, ist verblüfft über die Mischung aus Klugheit und Frechheit. Die beiden Frauen hebeln ein Traditionsgesetz aus, ohne dass sie eine Revolution anzetteln. Sie tricksen die Männer einfach aus, ohne sich gegen sie zu wenden. Im Kern bleibt die Geschichte von Rut ja eine anrührende Liebesgeschichte, die nie hätte sein können, und die doch zu Großartigem führt. Gott kommt, so merkwürdig das ist, im ganzen Buch Rut gar nicht vor. Der biblische Text liest sich wie ein uneingeschränktes Lob auf weiblichen Mut, der sich mit taktischem Geschick und anmutigem Charme paart  - ein ziemlich weltliches Buch, das eher in die Tradition der Weisheit passt. Auffällig schon: die Rolle der Männer. Entweder sterben sie – das ist die traurige Variante. Oder sie spotten. Das ist die ärgerliche Variante. Selbst Boas, der in anderen Kontexten als reicher Grundbesitzer einen bevorzugten Platz für Mädchenträume hätte, kommt nicht nur gut weg. Zu einsinnig ist die Art seines Denkens, zu leicht durchschaubar seine Intentionen.

Die Entschlusskraft der beiden Frauen, ihr Wille, das Leben stellvertretend füreinander in die Hand zu nehmen und ihre Schlitzohrigkeit stellt uns zwei biblische Glaubensfiguren vor, die so ganz anders sind als die mütterlichen Frauenfiguren, die sich in Maria spiegeln. Rut und Naomi dienen am besten, in dem sie Führungsverantwortung übernehmen. Ihr Führungsstil hat den Charakter einer sanften, aber um so folgereicheren Reformation. Rut und Naomi stehen für erstaunliche Frauen, die wie aus der Zeit gefallen sind – und wohl noch eine Weile so auf uns wirken werden. Ein biblisches Frauenbild, das Frauen von heute längst noch nicht einlösen. Insofern ist das Buch Rut auch ein utopischer Text. Zu leicht lassen sie sich von Männern und anderen Widrigkeiten einschüchtern und ins Boxhorn jagen.
Ja, im Buch Rut führen Frauen anders. Nehmen wir uns, Männer wie Frauen, ein Beispiel daran.

Schluß: Führen Frauen anders?

Mit den Führungsqualitäten von Rut und Naomi scheint auch Angela Merkel bislang ganz gut zu fahren: Sie hat sich von der Übermacht der Männerriege ebenso wenig anschrecken lassen wie von allerhand Intrigen, sie hat vielmehr gewartet, bis ihre Gegner übereinander hergefallen sind. Sie hat nie verheimlicht, dass sie die Macht wolle, hat aber auch nicht mit ihr kokettiert, sondern ernstgemacht mit den Avancen. Sie hat in harten Zeiten Stehvermögen bewiesen.
Und sie hat vermutlich streckenweise einen enorm hohen Preis gezahlt: den der Einsamkeit. Aber vielleicht kann man die besser aushalten, wenn man privat mit einem Mann verheiratet ist, der ein eigenes Leben hat und andere Geschichten, andere Menschen, andere Erfahrungen in den gemeinsamen Alltag trägt, anstatt sich ganz über den Erfolg des Ehepartners zu definieren. Und  Angela Merkel hat sich ihre eigenen kommunikativen Netze geschaffen. Was ihr die Parteikollegen oft verweigerten, baute sie sich selber auf. Ihre Troika aus Pressesprecherin und Büroleiterin ist in Berlin sprichwörtlich: das uneinnehmbare Girlscamp, ein Ort steter Gespräche, Vertraulichkeit, Ehrlichkeit und absoluter Loyalität.