Solidarität und Eigenverantwortung - Perspektiven für ein gerechtes Gesundheitssystem, Vortrag beim Deutschen Kassenärztetag in Berlin

Wolfgang Huber

I  Aus gegebenem Anlass:  Solidarität und Eigenverantwortung

Dass wir auf der Fahrbahn Platz machen, wenn hinter uns das Blaulicht eines Krankenwagens zu sehen ist, gilt als selbstverständlich.  Der Werbespot einer Organisation, die der Regierung Obama nahe steht, zeigte kürzlich, was geschieht, wenn diese selbstverständliche Solidarität in Frage steht: Der Notarztwagen wird aufgehalten, weil andere schneller zum Ziel wollen und auf die, die Hilfe und Unterstützung brauchen, keine Rücksicht nehmen.

Im Blick auf die Hilfe im Notfall mag dieses Bild überzogen sein, für die USA ebenso wie für Deutschland. Aber mit der starken Betonung der Eigenverantwortung und der Vorsorge für sich selbst, die unsere gesellschaftlichen Vorstellungen in den letzten Jahren weithin geprägt hat, ist die Vorfahrt für die Solidarität, die mit dem Blaulicht des Notarztwagens symbolisiert wird, auch bei uns zweifelhaft geworden. Dem entspricht die Sorge, dass in einem reichen Land wie dem unsern Gesundheitsvorsorge nicht mehr verlässlich auf der Grundlage der Solidarität gestaltet wird, sondern auch der Zugang zu medizinisch notwendigen oder jedenfalls wichtigen Leistungen vom Einkommen abhängig gemacht werden könnte.

Ein Bild aus der amerikanischen Diskussion in die deutsche Debatte einzuführen, ist freilich mehr als problematisch. Für die meisten Menschen in Deutschland ist es schwer vorstellbar, dass 47 Millionen Menschen ohne Versicherung keinen Aufschrei auslösen und die Politik nicht  zum Handeln drängen würden. Wir können nur schwer begreifen, dass der Versuch, ein solidarisches Gesundheitssystem aufzubauen, Zorn und Ängste weckt und immer wieder vom Scheitern bedroht ist.

Lernen kann man von dem Vergleich mit den USA dennoch. Er macht auf Befürchtungen aufmerksam, die auch uns nicht unvertraut sind. Wer eine gute Versorgung hat, fürchtet, bei einer Reform zu den Verlierern zu gehören. Wer gewohnt ist, selbständig und eigenverantwortlich über sein Leben zu entscheiden, fürchtet, zum Objekt der Entscheidungen von Ärzten oder Ethikkomitees zu werden. Und wer in ärztlichen oder pflegerischen Berufen mit den permanenten Kostendiskussionen im Gesundheitswesen zu tun hat, erwartet von Reformdebatten in der Regel nichts Gutes.

Doch ein Vergleich mit vielen anderen Ländern, keineswegs nur mit den USA, gibt zuallererst Anlass dazu, dankbar auf die Grundlagen unserer Gesundheitsvorsorge zu schauen. Denn es folgt dem Grundsatz, dass der zuverlässige Zugang zu notwendigen, dem Stand der Medizin entsprechenden Gesundheitsleistungen nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Einzelnen abhängig ist, sondern allen offen steht. Umso wichtiger ist es freilich, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass dieser Grundsatz auch in Zukunft bewahrt werden können.

Dafür bilden der demographische Wandel und die Frage nach Rationalisierungsreserven zwei Schlüsselthemen. Unsere Versicherungssysteme hängen im Kern von den Beiträgen aus Erwerbsarbeit ab. Die demographisch bedingten Verschiebungen zwischen Erwerbsbevölkerung und Versorgungsempfängern wirken sich massiv auf das Gesundheitssystem aus. Mit ihnen verbindet sich die Frage, ob im Gesundheitssystem Ausgaben enthalten sind, die ohne einschneidende Qualitätsverluste eingespart werden können, ob es also sogenannte Rationalisierungsreserven gibt.

Doch die aktuellen Diskussionen reichen weiter. Es geht um das Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität im Gesundheitssystem, um die Spannung zwischen Patientenautonomie und staatlicher  Fürsorge, um die Entwicklung der Arbeitsgesellschaft im demographischen Wandel. Es geht in all dem um die Frage, welche Leistungen auf Dauer von der Solidargemeinschaft übernommen werden können und in welchem Maße das Beitragssystem durch Steuerfinanzierung gestützt, ergänzt oder auch ersetzt werden muss.

Unterschiede in der Versorgung werden gern auf den Begriff einer Zwei-Klassen-Medizin gebracht, in der die wachsende soziale Ungleichheit auch auf das Gesundheitswesen durchschlage. Ob die faktisch vorhandenen Unterschiede mit dem „Klassen-„Begriff gut beschrieben sind, kann man bezweifeln. Aber mit Ungleichheiten haben es Patienten ebenso zu tun wie die im Gesundheitswesen Tätigen, besonders die Ärzte. Unterschiedliche Bedingungen für niedergelassene Ärzte und Klinikärzte, unterschiedliche Bedingungen zwischen Ost und West, aber auch zwischen den verschiedenen Fachrichtungen sind mit Händen zu greifen.

Andere Fragen stehen eher im Schatten. Der mangelnde Zugang von Familien in Armut zur Gesundheitsvorsorge oder die Situation von Kinderarztpraxen in Brennpunktstadtteilen, die verzweifelte Lage von Illegalen oder die Unterversorgung von älteren Frauen, die Betreuung chronisch Kranker oder die beunruhigenden Dimensionen von Demenzerkrankungen: solche Herausforderungen betreffen nicht nur die Strukturen unseres Gesundheitssystems oder die Systematik von Leistungsentgelten. Hier geht es vielmehr um die tragenden Grundsätze von Gesundheitspolitik, also um elementare ethische Fragen. An solchen Themen wird deutlich, dass die Gesundheitsversorgung es auch mit kulturellen Einstellungen, ethischen Haltungen und religiösen Überzeugungen zu tun hat. Es geht ganz unmittelbar um grundlegende 
Werte unserer Gesellschaft.


II Biblische Erinnerungen

In unserem Ethos sind zwei Grundlinien miteinander verbunden, die sich auf das griechische und auf das biblische Bild vom Menschen zurückführen lassen. Das griechische Bild eines Menschen, der durch arete, durch gelingendes Leben ausgezeichnet ist, orientiert sich an der gesunden, ja makellosen Person,  wie sie in den Statuen von Phidias oder Praxiteles in einer uns heute noch unmittelbar anrührenden Weise dargestellt ist. Die Vorstellung von menschlicher Würde orientiert sich an der Person, in der sich Qualität der Leistung und Anmut des Körpers miteinander verbinden, also in der unmittelbaren Verbindung des Guten und des Schönen.

Die biblische Tradition dagegen verbindet die Überzeugung, dass Gott den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen habe, dass der Mensch also nur „wenig niedriger“ sei als Gott, mit einer ausdrücklichen Hinwendung zum Leidenden, Kranken, der Hilfe Bedürftigen. Dass der Mensch ein empfindsames, verletzliches, auf die Hilfe anderer angewiesenes Wesen ist, tritt in der biblischen Tradition markant hervor. Die große Hiobserzählung, die Klagepsalmen, die Lieder vom Gottesknecht und schließlich Jesus als Schmerzensmann: in einer großen Linie tritt uns die Würdigung des Leidenden vor Augen. Unserer Kultur ist von hier aus eine Haltung eingestiftet, die dem Leidenden und Kranken dieselbe Würde zuerkennt wie dem Gesunden und Erfolgreichen.

Dass damit nicht eine Verherrlichung oder auch nur eine Verharmlosung des Leidens gemeint ist, zeigt sich in den ursprünglichen Urkunden unserer christlichen Tradition am deutlichsten darin, dass dieses Leiden nicht akzeptiert, sondern, wo immer möglich, überwunden wird. Das Wirken Jesu wird in den Evangelien ganz besonders durch die Heilung Kranker und die Integration Behinderter beschrieben. Der alte Begriff des „Heilands“, den wir nur noch selten verwenden, erinnert daran, dass Heil und Heilung nicht voneinander zu trennen sind.

Das biblische Urbild von Solidarität ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die Solidargemeinschaft nach christlichem Verständnis hält die Gleichheit der Kinder Gottes fest. Auch der verletzte Fremde am Wegesrand soll nach Gottes Willen gerettet und gesund gepflegt werden, wie es diese Geschichte als das Paradebeispiel für Nächstenliebe illustriert. Dass Krankheiten und Behinderungen nicht zu Ausschluss und Verarmung führen, dass Menschen nicht resignieren, sondern sich aufrichten und nach ihren Möglichkeiten weiter beteiligen können, ist für alle wichtig – auch für die Gesunden. Wer bereit ist, das eigene Tun zu unterbrechen und sich von einem Hilfesuchenden aufhalten zu lassen, kann dabei auch den eigenen Ängsten ins Auge zu sehen, sich der eigenen Verletzlichkeit stellen und sein Leben verändern. In der Begegnung von Starken und Schwachen liegen Kräfte, von denen die nichts ahnen, die bis dahin gesund und fit durchs Leben gegangen sind.

Die Bibel geht sogar noch einen Schritt weiter: In den Kranken und Sterbenden, den Dürstenden und Ausgeschlossenen, sagt das Gleichnis vom Großen Weltgericht, können wir dem Heiland selbst begegnen. Wer sich der Hilfeleistung verweigert, wird also nicht nur schuldig an dem, der in Not ist, sondern auch am eigenen Leben. Wer aber diese Hilfe leistet, trägt dazu bei, dass die Barmherzigkeit in unserer Welt einen Ort behält.

Die Spannung zwischen den beiden geschilderten Menschenbildern ist tief in unserem kulturellen Bewusstsein verankert. Das olympische, leistungsorientierte Ideal ist ein kräftiger Anstoß für die Bereitschaft, sein Bestes zu geben und seine Gaben zu entfalten. Das jesuanische Ideal, das den leidenden Menschen würdigt, gibt unserem Menschenbild und unserem Wertesystem eine tiefe und echte Humanität. Es ist an der Zeit, dass wir die Spannung wie die Zusammengehörigkeit dieser Haltungen wieder entdecken und in unser Miteinander einbringen, das Gesundheitswesen eingeschlossen.

In einer solchen Erinnerung an die uns prägenden religiösen und kulturellen Wurzeln liegen wichtige Hinweise für die Grundorientierung, die sich aus unserem Menschenbild für die Gestaltung des Gesundheitswesens ergeben. Ich nenne einige dieser Wertentscheidungen.

  • Der Zugang zum Gesundheitssystem darf nicht von  Einkommenssituation oder Herkunft, Alter oder Geschlecht abhängig sein. Die gesamte Bevölkerung muss Zugang zur notwendigen gesundheitlichen Versorgung haben.
  • Gesundheitliche Versorgung muss ganzheitlich ausgerichtet sein; sie muss über die einzelne Diagnose hinaus die gesamte Lebenssituation des Patienten im Blick haben.
    • Die Betreuung bei chronischen Krankheiten und die palliative Pflege brauchen nicht nur unmittelbar finanzielle, sondern auch zeitliche Ressourcen von Professionellen, Familien und Nachbarschaften.
  • „Curing“ und „Caring“ müssen ins Gleichgewicht kommen. Wo möglich, geht es darum, Krankheiten zu heilen; in anderen Fällen geht es darum, Menschen zu helfen, mit ihrer Krankheit möglichst gut am Leben teilzuhaben. Damit das gelingt, braucht insbesondere die Pflege eine neue Wertschätzung.
  • Selbstbestimmung und Fürsorge gehören zusammen. Das zeigt sich gerade im Blick auf das Sterben der Menschen. Menschen im Sterben zu begleiten, ist etwas anderes, als das Leben um jeden Preis zu verlängern.
  • Partnerschaftliche Beziehungen zwischen Patienten, Ärzten und Pflegenden sind notwendig, um Eigenverantwortung und Sorge für sich selbst zu stärken.


III Gesunde Verhältnisse

Die Solidarsysteme der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung sind nach dem biblischen Prinzip „Einer trage des anderen Last“ gestaltet. Sie beruhen also nicht nur auf einer wechselseitigen Absicherung Gleicher, sondern ebenso auf der Solidarität der Gesunden mit den Kranken, der Starken mit den Schwachen. Es geht darum, die großen finanziellen Risiken im Fall von Krankheit und Pflegebedürftigkeit verlässlich aufzufangen.

Dabei ist vorausgesetzt, dass jeder nach Möglichkeit für sich selbst sorgt und dass Familien und Freunde füreinander da sind. Ein totales Versorgungssystem, das Selbst- und Nachbarschaftshilfe erübrigen würde, war nie intendiert und ist nicht zu finanzieren – gleichwohl sollen alle unterschiedslos die medizinisch notwendigen Leistungen erhalten. Eigenverantwortung und Solidarität schließen einander nicht aus, sondern gehören zusammen. Die allgemeine Einsicht, dass eine Gesellschaft auf Dauer nur dann die Kraft zur Solidarität aufbringt, wenn die Einzelnen das ihnen Mögliche selber tun, gilt gerade für das Gesundheitswesen.

Der Grundsatz „Einer trage des andern Last“ hat sich in der christlichen Diakonie vielfach Ausdruck verschafft und von dort aus Eingang in die Strukturen des Sozialstaats gefunden. Diese Tradition droht allerdings zu verblassen, wenn wir im Wesentlichen medizinisch-technisch und ökonomisch über Gesundheit sprechen. Dann freilich ist die Folgerung nahezu unausweichlich, dass Gesundheitsleistungen nach der individuellen Finanzkraft zugeteilt werden. Wer das nicht will, ist gut beraten, sich an die tragenden Werte unseres Gesundheitssystems zu erinnern.

Auch ein Solidarsystem kann nicht beliebig große Lasten tragen. Wo die Grenzen der Aufwendungen für Krankheit und Gesundheit liegen, wird damit zu einem Schlüsselthema. Die Frage heißt deshalb: Was ist das medizinisch Notwendige und in welchen Kontexten muss es definiert werden? Wir haben uns als evangelische Kirche immer wieder deutlich gegen Rationierungen im Gesundheitswesen ausgesprochen. Wir lehnen starre Altersgrenzen für bestimmte medizinische Leistungen ab, obwohl diese in anderen Ländern bereits üblich sind. Aber die Frage, worin die angemessene therapeutische Versorgung eines Kranken besteht, stellt sich angesichts der wachsenden Schere zwischen den Möglichkeiten der Hochleistungsmedizin und einer älter werdenden Bevölkerung unausweichlich. Es handelt sich um eine ökonomische Frage, insofern das Budget für solidarische Gesundheitsleistungen mit den Möglichkeiten eines wachsenden Gesundheitsmarkts nicht Schritt halten kann. Aber es handelt sich auch um eine politische und mentale Frage, insofern es darum geht, was die Mehrheit bereit ist, für die Versorgung Hilfe- und Pflegebedürftiger aufzubringen. Wenn wir die Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems und die Versorgung auf einem hohen medizinischen und pflegerischen Niveau nicht preisgeben wollen, muss die Verantwortungsbereitschaft aller gestärkt werden. Auch hier gilt, dass diejenigen, die von ihrer Einkommens- und Vermögenssituation kräftige Schultern haben, ihren Beitrag zur Solidargemeinschaft leisten müssen, sei es über Beiträge oder über Steuern.

Eine wichtige Aufgabe besteht darin, ökonomische Reserven im System zu nutzen, um trotz gewachsener Möglichkeiten und Ansprüche Kostensteigerungen begrenzen zu können. Untersuchungen sprachen davon, dass ohne Qualitätseinbußen zwanzig Prozent der Aufwendungen in unserem Gesundheitswesen eingespart werden könnten. Dabei geht es um den Preis von Medikamenten und Generika, die Gewinnspannen der Pharmaindustrie und Deutschland als Forschungsstandort. Um vermeidbare Doppeluntersuchungen geht es und um Therapien, die vorsorglich eingesetzt werden, obwohl ihre Wirkung ungewiss ist. Um die Rolle von Hausarztpraxen als  Schleusen und Drehscheibe für Fachärzte geht es und schließlich auch um die Entwicklung von Kompetenzzentren zur Schwerpunktversorgung in Kliniken.

Die Management-Logik, die insbesondere mit der Einführung von DRGs in den Krankenhäusern Einzug gehalten hat, war gewiss im Stande, manche solcher Rationalisierungsreserven zu heben; aber sie auch ihre Grenzen. Wenn Genesende aus betriebswirtschaftlichen Gründen zu früh nach Hause entlassen werden, aber die notwendige Anschlussversorgung aus Kostengründen nicht erhalten, ist offenbar eine Grenze überschritten. Neue Modelle integrierter Versorgung(1) zeigen, wie überfällig eine möglichst nahtlose Abstimmung zwischen stationärer und ambulanter Pflege und eine entsprechende Abstimmung zwischen Kranken- und Pflegeversicherung sind.

Hoch problematisch wird das Diktat der Ökonomie auch da, wo nur noch technisch planbare Leistungen in die Kalkulation eingehen. Denn menschliche Zuwendung wird damit stillschweigend vorausgesetzt und muss von Ärzten und Pflegekräften aus eigenem Antrieb erbracht werden; die Gefahr, dass sie unter wachsendem Zeitdruck zerrieben wird, ist groß. Wenn die Zuwendung zu Kindern auf der Kinderstation oder das Gespräch mit Krebspatienten oder Sterbenden nicht mehr in die Fallkalkulation aufgenommen werden, muss man sogar von schwerwiegenden Qualitätsmängeln sprechen. Pflegende, die ihren Beruf als Fürsorge- und Beziehungsarbeit verstehen, werden dadurch zutiefst demotiviert. Nicht anders ist es beispielsweise, wenn junge Ärztinnen und Ärzte durch überlange Nachtdienste bei mäßiger Bezahlung so überbeansprucht werden, dass sie gar nicht mehr die Leistung erbringen können, die man von ihnen erwartet.

Wenn nur noch der ökonomische Blick das Handeln bestimmt, nimmt das Gesundheitssystem schweren Schaden. Wenn im Kampf um bessere Bedingungen die eine Gruppe im Krankenhaus gegen die andere ausgespielt wird, hat das für das Klima der Krankenbetreuung entsprechend gravierende Folgen. Im ärztlichen Interesse liegen eben nicht nur die eigenen Arbeitsbedingungen und Vergütungen, sondern ebenso die Situation der Pflegenden. Hat man nicht das Ganze im Blick, dann zerbricht, was so dringend nötig ist: kooperative Arbeit, das Miteinander von Teams, in deren Mittelpunkt der Patient steht.

Auch Bürokratie und Berichtswesen, die einen großen Teil der Arbeitszeit in Anspruch nehmen, dienen zumeist nicht dem so genannten Kunden, sondern eher der haftungsrechtlichen Absicherung. Die gängige Standardisierung wird oft genug dem Einzelfall nicht gerecht, weil sie die Lebensumstände und das Beziehungsgeflecht des Patienten nicht berücksichtigt. Und da, wo gerade in der Pflege unter hohem Zeitdruck dokumentiert wird, besteht die Gefahr, dass Personen eher stigmatisiert als in ihrer Persönlichkeit wirklich verstanden werden.(2)

Medizinische Maßnahmen sind nicht nur daran zu messen, ob sie ihr diagnostisch-therapeutisches Teilziel erreichen, sondern auch daran, wie sie dazu beitragen, den Patienten ein möglichst eigenständiges Leben in gesellschaftlichen Bezügen zu ermöglichen. Nötig ist also ein sozial gesteuertes, solidarisches Gesundheitswesen, das die eigenen Ressourcen der Patienten und ihrer Angehörigen stärkt und neben Behandlung und Versorgung die Befähigung der Patienten mehr in den Mittelpunkt rückt. Die oft geforderte Eigenverantwortung erwächst nämlich nicht aus moralischen Appellen oder pädagogischem Druck: dazu braucht es Information und gute Beratung. Gesundheit lässt sich ja nicht kaufen oder konsumieren; sie bleibt ein Geschenk, mit dem wir lernen müssen, verantwortlich umzugehen.

Von solchen Zusammenhängen ist in den letzten Jahren zu wenig die Rede – trotz aller Untersuchungen über Compliance auch im Gesundheitswesen. Deshalb sagen wir, dass das Gesundheitswesen eingebettet sein muss in „gesunde Verhältnisse“. Dazu gehören ein gesundheitsbewusstes Verhalten, ein besonnener Umgang mit den Angeboten des Gesundheitswesens, eine einfühlsame Begleitung pflegender Familien, die Investitionen in Fortbildung und Supervision von Ärzten und Pflegekräften, tragfähige persönliche Netze und die Bereitschaft, das eigene Leben in all seiner Verletzlichkeit verantwortlich zu führen. Das alles gehört zum Umfeld eines Gesundheitswesen, dass die Chance hat, nachhaltig Bestand zu behalten.

Gerade Menschen, die über geringe persönliche Ressourcen verfügen, die von Armut betroffen oder einsam sind und kaum eine Lebensperspektive haben, sind darauf angewiesen, neben den hochtechnisierten und professionellen Kompetenzzentren eine niedrigschwellige Gesundheitsversorgung im Quartier vorzufinden, in der Hausarztpraxen nicht nur mit Fachärzten, sondern auch mit Beratungsstellen, Pflege- und Sozialdiensten kooperieren. Gesunde Verhältnisse – so heißt übrigens der Untertitel der Woche für das Leben im nächsten Jahr – sind letztlich nicht nur eine Kostenfrage, sondern auch und zuerst eine Frage besserer Vernetzung und wechselseitiger Verantwortung.

Auf der Ebene der Finanzierung bedeutet eine solche integrierte Versorgung keinesfalls den Verzicht auf Wettbewerb. Wettbewerb und Wahlfreiheit sind  auch um der Patienten willen ein wichtige Möglichkeit, die Leistung zu stärken. Allerdings gehören zum Wettbewerb im solidarischen System transparente Leistungsangebote mit Wahlmöglichkeiten genauso wie der Risikoausgleich zwischen den Versicherungen, um die Abwanderung günstiger Risiken zu kompensieren.(3)


IV Prioritäten und Priorisierungen

Vor dem Hintergrund der demographischen und gesellschaftlichen Entwicklung werden in Zukunft Pflege und Palliativversorgung noch mehr Bedeutung gewinnen. Dazu gehört auch eine angemessene Bezahlung der Fachkräfte. Wenn die Beiträge der Versicherten bzw. die Kosten für den Steuerzahler gleichwohl nicht erheblich steigen sollen, wird es darauf ankommen, das medizinisch Notwendige vom Möglichen zu unterscheiden und die entsprechenden Prioritäten zu setzen. Die öffentlichen Reaktionen auf die Äußerungen des Vorsitzenden der Bundesärztekammer, Dr. Hoppe, zu diesem Thema, haben vor kurzem noch gezeigt, welche Emotionen auch in Deutschland mobilisiert werden können, wenn es um dieses Thema geht.

Dabei hat die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer bereits im Jahr 2000 Überlegungen zu „Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung“ vorgelegt. Die Kommission fordert insbesondere eine frühzeitige Klärung der ethischen, sozialrechtlichen und sozialpolitischen Grundpositionen zur Prioritätensetzung im Gesundheitswesen. Des Weiteren hält sie für eine Prioritätensetzung genaue medizinische und ökonomische Analysen für notwendig, die die qualitativen und quantitativen Merkmale der Krankheitslast herausarbeiten.

Übrigens gab das Diakonische Werk der EKD im gleichen Jahr eine Studie in Auftrag, die sich mit konkreten Beispielen verdeckter Rationierung beschäftigten sollte.(4) Schon damals konnte belegt werden, dass in bestimmten Fällen der gesetzliche Anspruch auf Krankenbehandlung nicht erfüllt, der Gleichheitsgrundsatz verletzt wurde und dass die Gefahr einer Unterversorgung bestimmter Patientengruppen bestand (z.B. bei chronisch Kranken). Daraus ergibt sich die Forderung, dass die Verteilung der Ressourcen transparent, verlässlich und für die Betroffenen nachvollziehbar stattfindet und dass der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen transparent diskutiert und dargestellt wird. In meinen Augen sollte man dabei folgenden Unterschied festhalten: Rationierung bedeutet eine auf Personengruppen bezogene unterschiedliche Zuweisung von Gesundheitsleistungen. Priorisierung bedeutet dagegen eine für alle Versicherten in gleicher weise geltende, auf Diagnosen und Therapien bezogene Klärung derjenigen medizinischen Leistungen, die durch die gesetzliche Krankenversicherung abgesichert werden können. Wenn man diesen Weg geht, bilden die Stärkung des Wettbewerbs und die Erhöhung der Transparenz für Anbieter, vor allem aber für Patienten den entscheidenden Weg.

Ebenso wichtig ist die Stärkung der Bereitschaft zu verantwortlichem Umgang mit der eigenen Gesundheit. Denn dieser Umgang ist in vielen Hinsichten und über alle Gesellschaftsschichten hinweg irrational. Dabei lässt sich gerade im Blick auf Alterserkrankungen nachweisen, dass Prävention und rechtzeitige Verhaltensänderung sich lohnen. Das Gesundheitswesen wird nur finanzierbar bleiben, wenn in der ganzen Gesellschaft die Bereitschaft steigt, präventiv auch dann etwas für die eigene Gesundheit zu tun, wenn es nicht von der Kasse finanziert wird. Solidarität ist keine staatliche Garantie für Gesundheitskonsum, sondern wechselseitige Verantwortung für gesunde Verhältnisse. Wo wir auf eine gute Balance achten – zwischen Curing und Caring, zwischen Angeboten des Gesundheitssystems und eigenem Lebensstil, zwischen Möglichem und Machbarem – können wir auch Kosten und Leistungen in Balance halten. Und haben auch die nötigen Kräfte für die übrig, die heute mit großer Liebe freiwillig versorgt werden: Illegale, Obdachlose, Menschen ohne jedes Netz, die heute wie zur Zeit Jesu darauf warten, dass einer ihnen die Hand reicht und sie aufrichtet.


V Eingeschrieben in unsere Kultur

Der in der vergangenen Woche verstorbene Edward Kennedy hat kurz vor seinem Tod in Newsweek einen Artikel mit dem Titel: „The cause of my life“ veröffentlicht und darin über den generationenlangen Kampf um die Gesundheitspolitik mit all seinen Rückschlägen berichtet.(5) Auch in Deutschland brauchen wir Menschen, die den Einsatz für ein nachhaltiges Gesundheitswesen zu ihrer Lebensaufgabe machen und sich dabei daran erinnern, dass dessen Maßstäbe tief in unsere Kultur eingeschrieben sind. Empathie mit den Leidenden, der Grundsatz, Leben zu fördern und zu erhalten, der Respekt vor der gleichen Würde jedes Menschen – unabhängig von Geschlecht, Alter, Kultur und Einkommen – , die innere Balance von Selbstbestimmung und Fürsorge und schließlich das Prinzip der Solidarität: all diese Grundwerte unserer Kultur zeigen sich im Gesundheitswesen wie in einem Brennspiegel. Es handelt sich nicht nur um einen großen Wirtschaftsfaktor. Es handelt sich vor allem um einen wichtigen Bewährungsort der Humanität. Deshalb hoffe ich darauf, dass Sie als Ärzte in die Zukunft hinein für ein nachhaltiges Gesundheitswesen einstehen werden. Dafür, dass Sie das tun, danke ich Ihnen sehr.


Fußnoten:

(1) Vgl. z.B. Günter Renz u.a.: Die medizinisch-pflegerische Versorgung älterer Menschen, Evangelische Akademie Bad Boll 2009.

(2) Vgl. dazu z.B. K. Kinzelmann, Dokumentation und Menschenbild, in: B. Städler-Mach, Ethik im Gesundheitswesen, Nürnberg 1999.

(3) Vgl. Mündigkeit und Solidarität, Sozialethische Kriterien für Umstrukturierungen im Gesundheitswesen. Eine Studie der Kammer für Soziale Ordnung 1995, herausgegeben vom Rat der Evangelische Kirche in Deutschland

(4) Zum guten Umgang mit Krankheiten und Behinderungen befähigen – Abschlussbericht des Ausschusses „Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen und Sozialbereich“ (2000 – 2002).

(5) The cause of my life, Inside the fight for universal health care, Newsweek, 27. Juli 2009.