"Gerechtigkeit erhöht ein Volk..." Öffentliche Theologie und Wirtschaftsleben – Vortrag in Wittenberg

Heinrich Bedford-Strohm

0. Einleitung

"Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben" - dieser Satz aus dem Buch der Sprüche Salomos (14,34) steht als Titel über diesem Vortrag. Wir wollen der Frage nachgehen, was das eigentlich ist, diese Gerechtigkeit. Das Wort "Gerechtigkeit" gehört wohl zu den am häufigsten gebrauchten Begriffen, wenn es darum geht, für eine Überzeugung zu werben oder gegen bestehende Missstände zu protestieren. Es gibt wahrscheinlich kaum einen Begriff, der in den aktuellen Diskussionen um die Bewältigung der globalen Wirtschafts- und Finanzmarktkrise häufiger gebraucht wird als der Begriff der Gerechtigkeit.

Alle Menschen ohne Ausnahme würden sagen, dass es gut ist, Gerechtigkeit zu fördern und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Sie ist also in jedem Falle etwas sehr Wichtiges, diese Gerechtigkeit. So wichtig, dass sie auch in der Bibel an vielen Stellen im Zentrum steht und geradezu zum Grundbegriff für das gute Leben wird. "Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben." Ich glaube hinter diesem gewichtigen Satz steckt eine tiefe Weisheit: Wo die Gerechtigkeit in einem Gemeinwesen systematisch und dauerhaft verletzt wird, da wird dieses Gemeinwesen krank, da gedeiht Unduldsamkeit, Hass und Gewalt. Und umgekehrt gilt dann: Wo ein Gemeinwesen in seinen Grundfesten auf Gerechtigkeit gebaut ist, wo immer neu nach der Gerechtigkeit gesucht und für sie gestritten wird, da blüht dieses Gemeinwesen. Da werden auch schwierige Probleme im Geiste der Achtung und der gegenseitigen Solidarität angegangen. Da sind die Chancen gut, dass Konflikte friedlich gelöst werden können. Also: Es lohnt sich, über die Gerechtigkeit nachzudenken und für sie zu streiten. Es lohnt sich, diesen Begriff der Gerechtigkeit nicht zur Seite zu legen, weil alle sich darauf berufen und jeder nur das darunter versteht, was er verstehen möchte. Es lohnt sich, diesen Begriff inhaltlich zu füllen, so daß er Orientierung zu geben vermag in den schwierigen Fragen unserer Zeit.

Solche Orientierung in Fragen zu geben, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, ist die zentrale Aufgabe „Öffentlicher Theologie“. Öffentliche Theologie will die nach wie vor kraftvollen Inhalte der christlichen Überlieferung so zur Geltung bringen, dass in heutigen pluralistischen Öffentlichkeiten verstanden werden können. Sie muss daher interdisziplinär ausgerichtet sein, und sie ist „zweisprachig“: Neben einem klaren theologischen Profil, das sie in biblisch-theologischer Sprache zum Ausdruck bringt, ist sie auch versiert in der Sprache der säkularen Welt. Sie vermag also auch in der Sprache der Vernunft deutlich zu machen, warum die christlichen Orientierungen für alle Menschen guten Willens Sinn machen.

Ich will versuchen, diese Interdisziplinarität und „Zweisprachigkeit“ öffentlicher Theologie in vier Schritten exemplarisch am Gerechtigkeitsbegriff deutlich zu machen. In einem ersten Schritt will ich anhand eines Beispiels zwei unterschiedliche Gerechtigkeitsverständnisse beschreiben, die bei den Diskussionen um Fragen der Wirtschaft immer wieder begegnen. In einem zweiten Schritt will ich untersuchen, welche Orientierung uns die biblische Überlieferung für die inhaltliche Füllung dieses Begriffes geben kann. In einem dritten Schritt will ich anhand philosophischer Gerechtigkeitsüberlegungen prüfen, ob das, was die Bibel sagt, für uns mit unserem gesunden Menschenverstand nachvollziehbar ist. In ei¬nem vierten Schritt schließlich will ich der Frage nachgehen, wie die Kirche als öffentliche Anwältin sozialer Gerechtigkeit auftreten kann.

1. Zwei unterschiedliche Interpretationen des Gerechtigkeitsbegriffs

Was als gerecht oder ungerecht gelten kann, ist  umstritten. An einem hypothetischen Beispiel sei das deutlich gemacht:

Nehmen wir einmal an, Phillip Lahm, der Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, hat seine Kicker bei der Weltmeisterschaft in Südafrika endlich wieder zum WM-Titel geführt. Im Endspiel gegen Holland hat er in der Verlängerung das entscheidende Tor zum 3:2 geschossen. Deutschland ist aus dem Häuschen. Alle wollen Phillip. Sein Verein, der FC Bayern München, beschließt, seine Popularität in bare Münze umzuwandeln. Vertraglich vereinbart er mit Lahm, in der kommenden Saison bei jedem Spiel, bei dem Lahm mitspielt, einen Aufschlag auf die Eintrittskarte zu verlangen, dessen Erlös zu gleichen Teilen dem Verein und Lahm zugute kommt. Die Leute kommen in Massen, um Lahm zu sehen. Er verdient in der gesamten Saison zusätzlich eine halbe Million Euro. Die Hälfte davon kassiert der Fiskus. Lahm darf also nur eine Viertelmillion behalten.

Soweit das Beispiel. Die Frage ist nun: ist es gerecht oder ist es ungerecht, dass Lahm 50 % Steuern vom zusätzlich verdienten Geld abgeben muss? Die einen sagen: das ist gerecht. Starke Schultern können auch mehr tragen. Wer, aufgrund welcher Umstände auch immer, mehr Vermögen und Einkommen hat als andere, der hat auch eine besondere Verpflichtung dem Gemeinwohl gegenüber, dem fällt es leichter, von seinem Überfluss etwas abzugeben, als dem, der gerade eben mit seinem Geld hinkommt. Also: Lahm zahlt völlig zu Recht - so sagt die eine Seite. Mehr noch: Schon vor diesem zusätzlichen Verdienst ist der Mann so reich, dass 50 % Steuersatz sogar noch zu niedrig gegriffen ist.

Die anderen sagen: Dass Lahm die Hälfte von seinem zusätzlich verdienten Geld wieder abgeben muss, ist ungerecht, und es verstößt letztlich gegen den Grundsatz der Freiheit. Alle Fußballfans, die den zusätzlichen Eintritt bezahlt haben, haben sich frei dafür entschieden. Sie hätten für das Geld ja auch ins Kino gehen können. Aber sie haben sich dafür entschieden, dieses Geld dem Verein bzw. Lahm zu geben, um guten Fußball zu sehen. Die Tatsache, dass Lahm jetzt eine halbe Million mehr hat, ist also überhaupt nichts Anrüchiges, sondern er spielt eben so gut Fußball, dass die Leute ihn auch gerne dafür bezahlen. Wer Besonderes leistet, hat auch besondere Entlohnung verdient. Natürlich wäre es zu begrüßen, wenn Lahm einen Teil des Geldes für karitative Zwecke spenden würde, das ist aber seine freie Entscheidung. Niemand, auch der Staat nicht, so sagen Vertreter dieser Position wie etwa der amerikanische Philosoph Robert Nozick , hat das Recht, einfach die Hälfte des rechtmäßig verdienten Geldes zu beschlagnahmen.

Was gerecht ist, wird also in den beiden Sichtweisen ganz unterschiedlich bewertet. Während bei der Argumentation gegen die Besteuerung die Leistung und die persönliche Freiheit im Umgang mit dem Eigentum die zentralen zugrundeliegenden Werte sind, ist die zuerst genannte Position, die für eine hohe Besteuerung eintritt, am Bedarf und der sozialen Verpflichtung orientiert (also an der Frage: wie viel braucht jemand zum Leben und brauchen andere das Geld vielleicht viel dringender?). Die Leistung spielt bei dieser Position für die Verteilung des Wohlstandes eine untergeordnete Rolle.

Es gibt also ganz unterschiedliche Möglichkeiten, den Begriff der Gerechtigkeit inhaltlich zu füllen. Welche Grundorientierungen lassen sich für den Umgang mit diesen Möglichkeiten aus den für den christlichen Glauben grundlegenden biblischen Überlieferungen gewinnen?

2. Biblische Orientierung

Gleich zu Beginn will ich Ihnen die These sagen, die sich für mich aus dem Blick in die Bibel er-gibt. Die These heißt: Das Verständnis von Gerechtigkeit in der Bibel ist in seinem Kern geprägt von der vorrangigen Option für die Schwachen. Vorrangige Option für die Schwachen, das heißt nicht, daß die anderen ausgegrenzt sind, sondern das heißt, dass den Schwachen solange besondere Aufmerksamkeit zukommen muss, bis sie am allgemeinen Wohlstand teilhaben.

Der Vorrang für die Schwachen durchzieht alle maßgeblichen Traditionen der Bibel. Das gilt sowohl für das Alte wie auch für das Neue Testament. Ich will das nur anhand einiger ausgewählter Beispiele deutlich machen.

Das grundlegende Merkmal der jüdisch-christlichen Tradition ist die Erfahrung von Gottes Wirken in der Geschichte, das seinen ersten großen Ausdruck in den biblischen Geschichten vom Auszug der Israeliten aus Ägypten findet. Die Bibelwissenschaftler haben herausgefunden, dass die Geschichten davon, wie Mose die Israeliten aus Ägypten herausführt, zum Ältesten gehören, was die Bibel überhaupt überliefert. Man kann davon ausgehen, dass ihr Kern über 3000 Jahre alt ist. Der Auszug aus Ägypten gehört also zur Urerfahrung biblischen Glaubens. Und so ist es kein Wunder, dass auch in den später formulierten Texten des Alten und Neuen Testaments immer wieder davon die Rede ist.

Zwei Aspekte sind daran nun besonders interessant: Zum einen kann man sicher sagen, dass es kein Zufall ist, dass die Menschen, die Gott durch das Wirken des Mose aus Ägypten befreit, Sklaven sind. Es sind Zwangsarbeiter, die der Willkür ihrer ägyptischen Herren schutzlos ausgeliefert sind. Das Volk, das Gott aus Ägypten befreit, ist ein Volk von kleinen Leuten, von Hoffnungslosen, von Machtlosen, von Sklaven. Die Bibel selbst macht deutlich, dass das kein Zufall ist, sondern, dass es geradezu zum Wesen Gottes gehört, Befreier der Machtlosen zu sein. Immer wieder stellt Gott sich selbst als solcher vor: "Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten, aus der Sklaverei herausgeführt hat." Diese Formulierung leitet auch den Wortlaut der Zehn Gebote ein: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten, aus der Sklaverei geführt hat. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Der Bezug auf Freiheit und Gerechtigkeit, das hat der Alttestamentler Frank Crüseann zu Recht festgestellt, ist „ein Kernelement des christlichen Gottesglaubens…. Und (kann) nicht als sekundäre Frage angesehen werden…“  Also: Dass Gott sich den Schwachen in besonderer Weise zuwendet, gehört zur Urerfahrung der christlich-jüdischen Tradition. Das ist der erste Aspekt.

Der zweite Aspekt, der im Hinblick auf die Herausführung aus Ägypten wichtig ist, wird deutlich, wenn wir die biblische Religion auf dem Hintergrund der anderen Kulturen des Alten Orients, allen voran Ägypten, betrachten. Das Interessante ist nämlich, dass auch die Götter der Nachbarkulturen als "Helfer der Armen" galten. Einen entscheidenden Unterschied zum Glauben Israels gab es aber: in den umliegenden Gesellschaften konnte diese Vorstellung, dass Gott, und im übrigen dann auch der König, ein Helfer der Armen sei, offensichtlich problemlos mit einer von Ungerechtigkeit geprägten sozialen Realität zusammen existieren, ohne dass sich an den sozialen Zuständen etwas änderte. Im Glauben Israels dagegen erschien Gott als einer, der nicht nur theoretisch ein Freund der Armen war, sondern der ihre schlimme Situation auch veränderte, der sein Volk aus dem Elend herausführte. Nicht zufällig wirkte sich das so aus, dass in Zeiten besonderer sozialer Missstände in Israel Propheten auftraten, die diese Missstände unter Berufung auf Gott selbst mit scharfen Worten anprangerten und dabei auch die Könige nicht schonten. Gottes Option für die Schwachen - das will ich als zweiten Aspekt festhalten, ist in biblischer Sicht nicht etwas, mit dem von irdischen Missständen abgelenkt werden könnte, sondern vielmehr geradezu die Triebkraft für deren Veränderung.

Dass Gott in den biblischen Texten als ein Anwalt der Schwachen dargestellt wird, das drückt sich auch aus in den Geboten, die er dem Volk Israel gibt. Weil Gott selber den Israeliten geholfen hat, als sie schwach und machtlos waren, deshalb stehen die Schwachen und Machtlosen nun auch unter dem besonderen Schutz der Gebote, die Gott seinem Volk gibt. Das Recht der Schwachen zu schützen, ist geradezu der Kern des biblischen Gerechtigkeitsverständnisses. Aus den vielen biblischen Texten, in denen das zum Ausdruck kommt, sei nur einer zitiert:

"Wenn dein Bruder neben dir verarmt und nicht mehr bestehen kann, so sollst du dich seiner annehmen wie eines Fremdlings oder Beisassen, dass er neben dir leben könne; und du sollst nicht Zinsen von ihm nehmen noch Aufschlag, sondern sollst dich vor deinem Gott fürchten, dass dein Bruder neben dir leben könne. Denn du sollst ihm dein Geld nicht auf Zinsen leihen noch Speise geben gegen Aufschlag. Ich bin der Herr euer Gott, der euch aus Ägyptenland geführt hat, um euch das Land Kanaan zu geben und euer Gott zu sein" (3. Mose 25,35-38).

Hier wird die Gerechtigkeit daran gemessen, wie mit den Schwächsten umgegangen wird. Gott sagt: Achte du in besonderer Weise auf das Recht der Schwachen, denn ich habe dir auch beigestanden als du schwach warst. (Vgl. auch die Gesetze zum Erlassjahr Lev 25, bes. 10 und 35-43). Zu Recht hat Franz Segbers festgestellt: „Ein Vergleich mit anderen Rechtsauffassungen der Antike zeigt, dass in der Tora jene Gesetze fehlen, die die Mächtigen und Starken in ihrem Besitzstand sichern. Nicht abstrakte oder formale Gerechtigkeitsprinzipien bestimmen das Denken, die Tora steht vielmehr einseitig und bewusst Auf der Seite der Schwachen der Gesellschaft. Der biblische Gerechtigkeitsbegriff fällt mit dem Recht der Schwachen und Bedürftigen zusammen.“

Der Gott, der das alles sagt, der in besonderer Weise Anwalt der Schwachen ist, ist auch der Gott, zu dem Jesus betet, der Gott, durch den Jesus sich gesandt weiß. Und so ist es nicht überraschend, dass wir die besondere Zuwendung zu den Armen und Ausgestoßenen, die die alttestamentlichen Texte Gott zugeschrieben haben, nun auch bei Jesus finden. Wir kennen die Geschichten von Jesus, wie er sich von den Außenseitern der Gesellschaft zum Essen einladen lässt, wie er die, die körperlich schwach und krank sind, wiederaufrichtet, wie er davor warnt, sein Herz an den Reichtum zu hängen, wie er den reichen Jüngling traurig weggehen lässt, weil der es einfach nicht fertigbringt, seinen Wohlstand mit den Armen zu teilen (Mt 19,16-26). Wir kennen Jesu Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, in dem die Arbeiter am Schluss alle das Gleiche bekommen, obwohl sie ganz unterschiedlich lange gearbeitet haben (Mt 20,1-16). Als Johannes der Täufer aus dem Gefängnis einen Boten zu Jesus schickt, um zu fragen, ob er der von Gott gesandte Retter Israels sei, da lässt Jesus ausrichten: "Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt." (Mt 11,5). Der Evangelist Lukas berichtet, wie Jesus das Aufrichten der Armen geradezu zum programmatischen Kern seiner Sendung erklärt. Als Jesus zu Beginn seiner Wirksamkeit in der Synagoge predigt, liest er einen Text aus Jesaja: Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn." Und dann legt er den Text aus und endet: "Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren" (Lk 4,18-21).

Ich breche an dieser Stelle meine Ausführungen zu den biblischen Texten ab. In alldem wird deutlich: Gerechtigkeit in biblischer Sicht orientiert sich an der Situation der Schwachen. Das, was v.a. die Theologen der Dritten Welt die "vorrangige Option für die Armen" genannt haben, ist nicht die Phantasie irgendwelcher weltfremden Sozialreformer. Es ist vielmehr ein grundlegendes Charakteristikum des Glaubens, der sich angestoßen und geprägt weiß von den Schriften des Alten und des Neuen Testaments.

Deswegen formuliere ich als Ergebnis meines kurzen Blicks in die biblische Überlieferung: Die grundlegende Stoßrichtung eines christlich-ethischen Gerechtigkeitsverständnisses ist die Verbesserung der Situation der schwächsten Glieder eines Gemeinwesens.

3. Gerechtigkeit aus der Sicht der Vernunft

Nun mag man die Frage stellen, ob eine solche Parteinahme für die Schwachen nicht doch eine zu einseitige Position ist, die den Menschen kaum zu vermitteln ist, die sich bei ihrem Verständ-nis von Gerechtigkeit nicht zuallererst von der Bibel, sondern zunächst einfach von ihrem gesunden Menschenverstand leiten lassen.

Umso erstaunlicher ist es, dass sich bei näherem Hinsehen genau das Gegenteil herausstellt. Dem gesunden Menschenverstand - so zeigt sich - leuchtet es bei gründlicher Überlegung nämlich sehr wohl ein, dass die Situation der Schwächsten grundlegendes Kriterium für die Gerechtigkeit einer Gesellschaftsordnung ist. Jedenfalls dann kommt man zu diesem Ergebnis, wenn Einigkeit darüber besteht, dass der blanke Egoismus der Einzelnen keine sinnvolle Grundlage für ein Gemeinwesen sein kann.

Ich will versuchen, den Grundgedanken der entsprechenden Überlegung – wie sie der amerikanische Philosoph John Rawls in seiner berühmten Gerechtigkeitstheorie angestellt hat  - kurz zu erläutern: Stellen wir uns vor, wir säßen hier jetzt zusammen und würden darüber beraten, wie wir in einem Staatswesen, das wir uns in der Zukunft vorstellen, Macht, Einkommen und Wohlstand unter uns verteilen wollten. Wir kennen uns gut aus mit den Dingen, wir wissen etwas über Wirtschaft, wir wissen etwas über die üblichen Gewohnheiten und Verhaltensweisen der Menschen. Eines aber wissen wir nicht: Wir wissen nicht, welche Rolle wir in diesem Staatswesen einmal genau haben werden. Wir stehen sozusagen unter einem "Schleier des Nichtwissens", der uns für die Zeit der Beratung das Wissen darüber verdunkelt hat, ob wir ein Fabrikbesitzer sind oder ob wir zu den Menschen gehören, die ohne Obdach sind oder keine Arbeit haben. Wir wissen also nicht, ob wir uns nach der Beratung, wenn der Schleier gelüftet wird, als einer der Wohlhabenden entpuppen oder als einer der Ärmsten. Welche Regeln für die Gesellschaft würden wir uns unter diesen Umständen ausdenken?

Die Antwort, die Rawls gibt, ist folgende: Die Menschen würden sich für ein Gerechtigkeitsprinzip entscheiden, das Unterschiede in Macht und Wohlstand zwischen den Menschen nur insoweit zulässt, wie die schwächsten Glieder Vorteile davon haben. Der Grund ist ein ganz einfacher: Jeder und jede von uns, die wir da zur Beratung zusammensitzen, weiß, daß wir uns möglicherweise als Obdachlose oder in anderer Form Arme entpuppen, wenn sich der Schleier des Nichtwissens lüftet. Da dies eine ziemlich unangenehme Vorstellung ist, werden wir versuchen, die Regeln so zu gestalten, daß wir für diesen schlimmsten Fall unsere Situation soweit wie möglich verbessern können, z.B. indem wir Arbeitsbeschaffungsprogramme für Arbeitslose ins Leben rufen, die aus der Besteuerung der Besserverdienenden bezahlt werden. Es könnte natürlich auch sein, dass wir uns als schwerreicher Industrieboss entpuppen und nun höhere Steuern hinnehmen müssen. Die Aussicht, als Reicher höhere Steuern hinnehmen zu müssen, ist aber ohne Zweifel weniger schlimm als umgekehrt die Aussicht, als Arbeitsloser seinem Schicksal überlassen zu werden. Unter Abwägung der verschiedenen Möglichkeiten ist es das Vernünftigste, die denkbar schlechteste Situation so weit wie möglich zu verbessern.

Wir würden uns also allein aufgrund unseres gesunden Menschenverstandes dafür entscheiden, unsere Gerechtigkeitsregeln in dem Staatswesen, das wir entwerfen, so zu gestalten, dass sie den Schwächsten die größtmöglichen Vorteile bringen. Auch wenn es im Alltag nicht immer leicht sein wird, zu entscheiden, wer in einem bestimmten Interessenkonflikt eigentlich die Schwächeren sind, ist damit eine Regel gegeben, die jedenfalls in vielen zentralen Fragen eine grundlegende Orientierung geben kann.

So lässt sich folgern: Wenn wir nicht wie der erwähnte Philosoph Robert Nozick eine von jeder sozialen Verpflichtung entbundene persönliche Freiheit zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die bei Rawls über den „Schleier des Nichtwissens“ als Voraussetzung eingebaute Mitsorge mit dem Anderen, die bloßen Egoismus ausschließt, dann zeigt sich angesichts der guten philosophischen Gründe, die Rawls anführen kann, daß der Vorrang für die Schwachen als Kern des Gerechtigkeitsverständnisses nicht nur aus sich der Sicht biblischer Ethik ergibt, sondern auch aus der Sicht des gesunden Menschenverstandes.

4. Die Kirche als öffentliche Anwältin der Gerechtigkeit

Von ihrem biblischen Auftrag her muss die Kirche heute in einer demokratischen Gesellschaft „öffentliche Kirche“ sein. In Deutschland ist das wichtigste Instrument dafür die Denkschriftenarbeit der EKD.
Das Selbstverständnis der Denkschriftenarbeit der EKD ist immer wieder mit dem Stichwort „stellvertretender Konsens“ beschrieben worden. Dieses Stichwort impliziert, dass von unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen und politischen Hintergründen her neue Wege für die Gesellschaft gebahnt werden, die sich aus den spezifischen Impulsen evangelischer Sozialethik speisen. Dafür, dass dabei mehr als Formelkompromisse herauskommen können, gibt es viele Beispiele. Die EKD-Armutsdenkschrift „Gerechte Teilhabe“ aus dem Jahr 2006 , aber auch die Unternehmerdenkschrift aus dem Jahr 2008  und vor allem das Wort des Rates der EKD zur Wirtschafts- und Finanzkrise „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ von 2009  sind solche Beispiele. Mit dem Begriff der „gerechten Teilhabe“ entwickelt die Armutsdenkschrift ein klares sozialethisches Profil und konkretisiert dieses sozialethische Profil, indem sie quer zu den auf den verschiedenen Seiten vorherrschenden Dogmen  Vorschläge zur Überwindung der Armut entwickelt.

Wie versteht die Denkschrift nun soziale Gerechtigkeit? Sie nimmt ausdrücklich die biblische „vorrangige Option für die Armen“ auf und erläutert sie näher. Von daher entwickelt sie ein Gerechtigkeitsverständnis, das von drei Begriffen geprägt ist: Befähigungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit und Beteiligungsgerechtigkeit.

„Armut ist also fehlende Teilhabe. Sie kann nicht auf ihre materielle Dimension reduziert werden, bekommt aber in dieser materiellen Dimension eine besondere Schärfe. An dem Gedanken der Beteiligungsgerechtigkeit lässt sich zeigen, dass Befähigungs- und Verteilungsgerechtigkeit nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern einander bedingen. Der in dem Gedanken der Verteilungsgerechtigkeit steckende Impuls zum sozialen Ausgleich ist eine wesentliche Voraussetzung für eine Gestaltung der gesellschaftlichen Startbedingungen, die auch die Schwächeren zur Nutzung ihrer Chancen befähigt. Wird Gerechtigkeit auf - eine eng verstandene - Verteilungsgerechtigkeit reduziert, entsteht die Gefahr des Wohlfahrtspaternalismus, der durch bloße Finanztransfers lediglich die Abhängigkeiten verstärkt, aber nicht zu eigenverantwortlichem Handeln ermächtigt. Wird Gerechtigkeit auf - eine eng verstandene - Befähigungsgerechtigkeit reduziert, bleibt die Frage ungelöst, wie formal vorhandene gesellschaftliche Startchancen genutzt werden sollen, wenn die Ausgangspositionen durch starke materiell geprägte soziale Gegensätze höchst unterschiedlich sind und die für die Verwirklichung einzelner Schritte notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen“ (Ziffer 61).

Hier wird eindeutig klar gestellt, dass Befähigungsgerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Unter Bezugnahme auf das ökumenische Sozialwort von 1997 wird auch ein Missbrauch des Subsidiaritätsprinzips zur Rechtfertigung von Sozialabbau kritisiert:

„Beteiligungsgerechtigkeit, wie sie die christliche Sozialethik ins Auge fasst, verbindet Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit miteinander. Diese Einsicht hat wichtige Konsequenzen für das Verständnis von Subsidiarität. ‚Subsidiarität und Solidarität, Subsidiarität und Sozialstaat gehören (…) zusammen. Subsidiarität heißt: zur Eigenverantwortung befähigen, Subsidiarität heißt nicht: den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen‘ (Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Absatz 27)“ (Ziffer 61).

Auch wenn die 2 Jahre später erschienene Unternehmerdenkschrift andere Schwerpunkte setzt, da sie sich explizit an Menschen richtet, die unternehmerische Verantwortung tragen, nimmt sie die Aussagen der Armutsdenkschrift auf. Diese wichtige inhaltliche Orientierung findet sich bereits im Vorwort des damaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber. Ausdrücklich nimmt er Bezug auf die vorrangige Option für die Armen und misst ihr für das sozialethische Nachdenken der evangelischen Kirche eine Schlüsselbedeutung zu. Er erinnert an die Armutsdenkschrift „Gerechte Teilhabe“ von 2006 und zeichnet die neue Unternehmerdenkschrift ausdrücklich in die gleiche Grundperspektive ein: „Die hier vorliegende Denkschrift zum unternehmerischen Handeln und die Denkschrift zur gerechten Teilhabe richten ihre Grundaussagen nicht an unterschiedlichen Gruppen von Adressaten aus. Vielmehr versuchen diese beiden Texte, das Ziel gerechter Teilhabe aller an den wirtschaftlichen und sozialen Prozessen im Blick auf unterschiedliche Verantwortungsbereiche zu reflektieren und Maßstäbe für verantwortliches Handeln in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kirche zu formulieren“ (S.10). Das ist eine wichtige Klärung. Die Gefahr ist groß, dass kirchliche Stellungnahmen klientelorientiert abgegeben werden. Die Andacht bei der Protestveranstaltung gegen die Schließung des Nokia-Werks hat dann nur noch wenig zu tun mit der Rede des kirchlichen Amtsträgers bei der Jahresversammlung des Unternehmerverbandes.

Die Denkschrift vermeidet solche Doppelstandards, indem sie den ethischen Wert unternehmerischen Handelns deutlich macht, ihn aber an klare theologisch-ethische Kriterien bindet. Gleich zu Beginn wird betont, dass aus der Sicht christlicher Ethik unternehmerisches Handeln grundsätzlich zu bejahen ist:

„Unternehmerisches Handeln ist von zentraler Bedeutung für Innovation, Wertschöpfung und gesamtgesellschaftlichen Wohlstand. Moderne Gesellschaften brauchen Menschen, die bereit sind, unternehmerische Verantwortung zu übernehmen“ (These 1).

Dass mit dieser Bejahung des Unternehmertums kein Freibrief verbunden ist, wird freilich ebenso deutlich gemacht. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive – so der Tenor - unterliegt keinen Eigengesetzlichkeiten, sondern braucht ethische Orientierung.

Unter den vielen Orientierungen, die gegeben werden, greife ich eine zentrale heraus: Der Mensch darf nicht als Mittel zum Zweck reduziert werden.
“ Beschäftigte sind … selbstverständlich auch Mittel zum Zweck. Arbeitsplätze werden geschaffen, um etwas zu produzieren – und dies so günstig, dass es sich am Markt behaupten kann. Die Unternehmen bedienen sich dazu der Beschäftigen im eigenen Betrieb, aber auch in Zuliefererbetrieben vor Ort und weltweit. Wenn die Mitarbeiter aber in ihren grundlegenden menschlichen Bedürfnissen missachtet und damit in ihrer Würde ignoriert werden, werden sie darauf reduziert, Mittel zum Zweck zu sein. Eine solche  Reduzierung von Beschäftigten auf das Mittel zum Zweck drückt sich aus, wenn Entlassungen nicht nur als allerletzte Möglichkeit eingesetzt, sondern allein zur Erhöhung von ohnehin hohen Gewinnen vorgenommen werden. Sie drückt sich aus, wenn Unternehmen Mitarbeitende in Schwellenländern zu Hungerlöhnen beschäftigen und sie unter Bedingungen arbeiten lassen, die Leben und Gesundheit gefährden, oder wenn Kinder ohne Schulabschluss arbeiten müssen. Sie drückt sich aus, wenn Beschäftigte sich hierzulande nicht mehr trauen, im Krankheitsfall zu Hause zu bleiben oder zum Arzt zu gehen, oder auch, wenn im Unternehmen ein Klima herrscht, in dem alle menschliche Kommunikation allein dem wirtschaftlichen Unternehmenszweck untergeordnet wird und das soziale Gefüge keine Rolle mehr spielt“ (Ziffer 33).
Die Denkschrift kritisiert auch überzogene Managergehälter und weist auf die Tradition der Sozialkritik hin, die schon bei Martin Luther eine zentrale Rolle gespielt hat:

„Schon 1524 hat Martin Luther an unverhältnismäßigem Einkommen Anstoß genommen. Mit Blick auf die in kürzester Zeit zu Reichtum gekommenen Unternehmer des Frühkapitalismus stellt er fest: „Wie sollt das immer mögen göttlich und recht zugehen, dass ein Mann in so kurzer Zeit so reich werde, dass er Könige und Kaiser aufkaufen möchte?“ (Ziffer 90).

Und die Denkschrift nennt ein Kriterium, an dem sich eine Kultur ethisch verantwortlicher Einkommensverteilung orientieren kann:

„Sozialethisch muss die Höhe der obersten Einkommen prinzipiell auch vor den Empfängern der geringsten Einkommen gerechtfertigt werden können“ (Ziffer 92).

Wir haben gesehen, dass sich etwa mit der Theorie von John Rawls ein solches Kriterium als für alle Menschen plausibel erweisen lässt.

In all diesen Formulierungen konkretisiert sich die vorrangige Option für die Armen, die wir als grundlegendes Kriterium für ein christlich-ethisches Gerechtigkeitsverständnis herausgearbeitet haben. Sie bedeutet noch keine klare politische Handlungsanleitung. Aber sie gibt dem politischen Handeln eine klare Ausrichtung. Das ist auch im Wort des Rates der EKD zur globalen Finanzmarkt Wirtschaftskrise „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ zum Ausdruck gekommen, wenn dort formuliert wird:

„National und international müssen die Kosten der Krise vor allem von den Stärkeren getragen werden. Sie dürfen nicht über den Abbau von Sozialleistungen aufgebracht und vorrangig den nachfolgenden Generationen aufgebürdet werden“ (S.20).

5. Ausblick

Es gehört zu den großen Kulturleistungen des christlichen Glaubens, in Zeiten der Krise Halt und Orientierung zu geben. Der Weg Gottes mit seinem Volk, von dem die Schriften des Alten und Neuen Testaments erzählen, ist geprägt von vielen Geschichten der Krise und der Errettung aus der Krise. Was dabei sichtbar und spürbar wird, ist Trost, aber nicht Vertröstung. Halt und Orientierung  ist nicht zu trennen von der Umkehr.

Die alten Überlieferungen der Bibel vermitteln auch in schwierigen Zeiten Vertrauen in die Zukunft. Dieses Vertrauen gründet in der Gewissheit der Führung und Leitung durch Gott und geht einher mit den Orientierungen, die er uns Menschen mit auf den Weg gegeben hat.  Zukunftsvertrauen und die Bereitschaft neue Wege zu gehen, gehen Hand in Hand. Diese alten Einsichten gewinnen heute – in der weltweit größten Wirtschaftskrise seit vielen Jahrzehnten – neue Aktualität.

Sie haben auch konkrete politische Konsequenzen, die in den gegenwärtigen  Diskussionen um das Sparpaket der Bundesregierung auch klar ausgesprochen werden müssen.

Die Bundesregierung muss ihren Kurs bei der Bewältigung der Finanzkrise grundlegend neu bestimmen.  Was wir brauchen, ist  eine grundlegende Überarbeitung des Sparpakets der Bundesregierung entlang der Kriterien der ökumenischen Soziallehre. Die öffentlichen Worte der evangelischen Kirche in Deutschland der letzten Jahre haben, übrigens  ebenso wie die Sozialenzyklika des Papstes, unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Bewältigung der Wirtschaftskrise nicht auf Kosten der Schwachen geschehen darf. Die Kirchen haben in seltener Einigkeit festgestellt, dass diejenigen, die  mit besonderem Wohlstand gesegnet sind, zuallererst in die Pflicht genommen werden müssten.  Man muss es als Zeichen einer erfreulichen Solidaritätskultur werten, wenn in Umfragen wie in öffentlichen Stellungnahmen zum Ausdruck kommt, dass viele Wohlhabende dazu auch bereit sind. Umso widersinniger ist es, dass die Bundesregierung aufgrund von vornherein falscher Wahlversprechen nun an einem Kurs festhält, der die Wohlhabenden schont. Im Interesse der Bundesregierung selbst, vor allem aber im Interesse Deutschlands brauchen wir jetzt einen Befreiungsschlag für soziale Gerechtigkeit.  Die Gefahren eines von den Menschen als zutiefst ungerecht empfundenen Sparpakets für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland wiegen viel schwerer als der von den Regierungsparteien bei einer Kurskorrektur befürchtete Gesichtsverlust. Trotz der Krise ist Deutschland ein reiches Land. Aus der Sicht der christlichen Sozialethik ist Reichtum aber nur dann gesegnet, wenn er dazu dient, füreinander einzustehen und insbesondere den Schwächsten eine gerechte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Kirchen haben jetzt die Aufgabe, in den politischen Entscheidungsprozessen unermüdlich den Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit einzuklagen. Auch maßgebliche Vertreter der Regierungsparteien haben die öffentlichen Stellungnahmen der Kirchen zur Wirtschaft begrüßt. Nun müssen die Kirchen darauf dringen, dass den Worten auch Taten folgen.

Ich komme zum Schluss: Was die jüdisch-christliche Tradition als die zentrale Orientierung für ein blühendes Gemeinwesen sieht, gewinnt heute weit über diese Tradition hinaus  neue Bedeutung. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk – aber die Sünde ist der Leute Verderben“ – diese Einsicht aus dem Buch der Sprüche erweist sich als kluge Zeitdiagnose, die heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Habsucht und Gier haben sich als zerstörerisch erwiesen. Heilung kommt, wenn ein Gemeinwesen allen Menschen ein Leben in Würde ermöglicht. Die Teilhabe aller an den Früchten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit trägt die Verheißung einer Zukunft in Wohlstand in sich. Vor 2500 Jahren hat der Prophet Jesaja diese Gewissheit in Worten zum Ausdruck gebracht, die der Welt heute Zuspruch und Orientierung sein können. Sie haben daher zu Recht Eingang in den Schluss des EKD-Ratswortes von 2009 gefunden:

„Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. 12 Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward“ (Jes 58,7-12).

Es ist Zeit, Habsucht, Gier und Egoismus hinter sich zu lassen. Es ist Zeit, die Ordnung des Gemeinwesens neu zu entwerfen. Es ist Zeit, diese Ordnung so zu entwerfen, dass Wohlstand nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander und zum Wohle aller, auch der schwächsten Glieder geschaffen wird.