Die Glaubwürdigkeit der Kirche – aus kirchlicher Perspektive

Thies Gundlach, auf der Konsultation: "Missionarisch Volkskirche gestalten – Möglichkeiten der mittleren Leitungsebene"

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,

herzlichen Dank für die Einladung und die damit gegebene Möglichkeit, etwas intensiver über die Frage der Glaubwürdigkeit unserer Kirche nachzudenken. Dabei will ich vorab gestehen, dass ich theologisch mit einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Begriff "Glaubwürdigkeit" groß geworden bin: Einmal, weil der Begriff viel emotionale Wucht mit sich schleppt, und andererseits, weil er gleichzeitig hinreichend unklar bleibt:

Wer soll da eigentlich glauben und wer hat Würde? Ist es der Glaube, der hinreichend würdig zu sein hat? Oder ist es eine besondere Würde zu glauben? Ist die Kombination von Glaube und Würdigkeit ein Garant dafür, dass die Botschaft des Evangeliums auch aufgenommen und zu Herzen genommen wird? Glauben wir dem Glauben oder der Würde? Und ist eine unglaubwürdige Kirche schon ein Einwand gegen ein glaubwürdiges Evangelium?

Um durch diesen Verwirrgarten zwischen Glaube und Würdigkeit hindurch zu finden, möchte ich Ihnen zuerst eine alte Geschichte erzählen und Sie dann mit 6 Thesen durch einen Gedankengang führen, der jedenfalls mir geholfen hat, das Thema Glaubwürdigkeit aus kirchlicher Perspektive besser zu verstehen. Und wenn dann am Ende ein Resümee zu ziehen ist, dann sollten auch Handlungsperspektiven für die mittlere Ebene sichtbar werden.

Die alte Geschichte geht so:

In der sog. decischen Verfolgung um 250 nach Christus wurde die junge Christenheit besonders in Nordafrika gezwungen, vor dem Standbild des vergöttlichten Kaisers ein Opfer zu bringen, - unmöglich für alle, die in Jesus Christus ihren wahren und einzigen Herrn und Heiland erkannt hatten. Dennoch, wie des Menschen Fleisch so ist, gab es viele `Umfaller`, sog. `lapsi`, die ihr Leben durch ein Opfer vor dem Standbild retteten; andere dagegen, die sog. "electi", die Erwählten, blieben standhaft und nahmen Gefängnis, Marter und z.T. Martyrium auf sich. Nachdem die Verfolgungen zum Glück bald wieder abgeklungen waren, meldeten sich die Umfaller wieder in der Kirche und wünschten Vergebung ihrer Sünde und Wiederaufnahme in den Schoß der Kirche. Die Frage nur: Wer aber darf den lapsi vergeben? Die einen bestanden darauf, dass dies nur diejenigen dürften, die selbst die Opfer vor dem Kaiserbild verweigert hatten, die standhaft waren und dem Bekenntnis zu Jesus Christus treu geblieben sind, die also ihren Glauben unter Lebensgefahr bewährt hatten. Andere traten dafür ein, dass allein die Gemeinschaft der Glaubenden, also die Kirche, vertreten durch die geweihten Bischöfe, die Vergebung der Sünden zusprechen dürfte, weil allein die Kirche von Christus ermächtigt wurde, Sünden zu vergeben. Wer hat Recht?

Das spontane Empfinden neigt vielleicht der ersten Lösung zu, denn die electi haben doch die moralische Berechtigung erworben zu vergeben. Aber theologisch durchgesetzt und wirksam geworden bis heute hat sich die zweite Lösung, die Lösung des Bischofs Cyprian, der theologisch zu Recht dafür kämpfte, dass die Vergebung der Sünden niemals von der moralischen Qualität der Menschen abhängen darf, die diese Vergebung aussprechen.

Dies ist eine wesentliche Entscheidung der Kirche geworden, aus ihr folgte historisch auch die Rede von dem "ex opere operato" in der Sakramentstheologie, die die Gültigkeit der Sakramente nicht an die Glaubwürdigkeit des Priesters, sondern an die Korrektheit des Vollzuges knüpfte, um damit deutlich zu machen: Es liegt nicht in der Macht des einzelnen Kirchendieners, die Glaubwürdigkeit der Sakramente zu tragen oder zu beschädigen. Es ist die Glaubwürdigkeit Christi, die Trost und Segen, Vergebung und Buße tragen kann. Natürlich, auch diesen Gedanken kann man missbrauchen und veräußerlichen, aber in der Substanz sollten wir auch als reformatorische Kirche nicht hinter diese, den christlichen Kirchen wesentliche und gemeinsame Einsicht zurückgehen. Was heißt dies für unsere Fragestellung?

These 1:

Glaubwürdig ist allein Gott selbst, der Gott, der durch den heiligen Geist sein Evangelium von Jesus Christus glaubwürdig macht.

Das ist die Ausgangsbasis aller Überlegungen. Wenn wir in den Bereich des Glaubens treten und dort über die Würdigkeit des zu Glaubenden reden, dann haben wir es mit der Gottesfrage zu tun. Denn es ist christliche Grundüberzeugung mit hoher Verbindlichkeit, dass nur Gott sich selbst die Glaubwürdigkeit zu verschaffen vermag, derer ein Mensch bedarf, um Gott das Vertrauen zu geben. Nicht der Mensch würdigt Gott mit seinem Glauben, sondern Gott würdigt den Menschen durch das Geschenk des Glaubens. Die Grundvorstellung lautet, dass Gott in Gestalt seines Heiligen Geistes den Menschen so berührt und durch alle menschlichen Worte hindurch so mit seinem einen Wort Jesus Christus anspricht, dass er sich selbst zum Zeugen seiner Wahrheit im Menschen macht. Im Johannes-Evangelium ist dies vielleicht am deutlichsten ausgesprochen: "Aber der Tröster ("paraklet"), der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe" (Joh 14, 26).

Daraus aber nun folgt umgekehrt: Alle Glaubwürdigkeit, die wir durch Erklärungen oder Einsichten, durch gute Gründen und intelligente Erläuterungen erringen, um die Rede von Gott zu plausibilisieren, ist menschliche, diesseitige, vorläufige Glaubwürdigkeit. Christliche Rede von Gott ist darum Rede in Bildern und Metaphern, ist uneigentliche Rede oder – wie Sören Kierkegaard gelehrt hat – "indirekte Rede". Denn niemand kann direkt von Gott zeugen, das kann Gott nur selbst. Niemand kann – wie es in dem jüngst von M. Beintker veröffentlichten Text der UEK heißt "Mit Gott reden – von Gott reden. Das Personsein des dreieinigen Gottes" - auf metaphorische Rede von Gott verzichten: "Eine Verkündigung Gottes, die auf Metaphern, vor allem auf personale Metaphern verzichtet, vermag kaum mitzuteilen, wer Gott ist und wie er das Leben von Menschen existenziell betrifft." (S. 86). Die positive Redeweise über Gott und die Glaubwürdigkeit des Evangeliums ist eine Rede in Analogien, die – so schon das Laterankonzil 1215 – in aller Ähnlichkeit die immer noch größere Unähnlichkeit bedenken muss. Menschliche Rede von Gott ist darum immer Anthropomorphismus, und auch die Glaubwürdigkeit, die wir Menschen erzeugen können, verlässt nicht die menschlichen Ambivalenzen und Fragwürdigkeiten. Unsere Glaubwürdigkeit ist etwas ganz anderes als die Gewissheit, die Gott uns im Glauben schenkt und die allein uns trösten kann im Leben und im Sterben. Kurzum: Die Glaubwürdigkeit der Kirche beginnt mit ihrer Bescheidenheit und ihrer Demut zu wissen, was sie sagen kann und was nicht kann.

These 2:

Der Bezeugung der Glaubwürdigkeit Gottes in der Welt und vor dem Menschen hat die Kirche zu dienen.

Der Isenheimer Altar hat mit dem berühmten Finger des Johannes des Täufers, der auf den gekreuzigten Christus zeigt, ein Grundbild des Selbstverständnisses jedenfalls der evangelischen Kirche gefunden. Die Kirche ist weder selbst unangefochtener Gegenstand der Glaubwürdigkeit (Wir glauben an die eine, heilige, apostolische Kirche als "ecclesia invisibilis"), noch ist sie Herstellerin der Glaubwürdigkeit, sondern ihre Aufgabe besteht darin, auf die Glaubwürdigkeit Gottes hinzuweisen und sie zu bezeugen. Die Kirche hat in ihrer Verkündigung und in ihrer Lehre von Anfang an über Dinge und Dimensionen gesprochen, die größer und heller und schöner und wahrer sind als sie selbst. Vom ersten Tag der Christenheit an ist das Evangelium selbst eindrücklicher und überzeugender und glaubwürdiger gewesen als die Menschen, die es weitererzählt haben. Anders wäre der breite Strom von Erinnerungen in den Evangelien nicht zu erklären, nach denen Jesus offensichtlich selbst immer wieder an der Unglaub-Würdigkeit seiner Jünger verzweifelte. Wie oft beklagt er ihren kleinen Glauben? Wie oft muss er Petrus aus den Fluten retten? Das Grundbild der Kirche heißt: Sie lebt von der Glaubwürdigkeit des Evangeliums, nicht umgekehrt.

Zugleich wird so auch deutlich, was Menschen in der Kirche bzw. was die Kirche selbst an Unglaubwürdigkeit entfalten können: Die Kirche kann sich aus dieser Rolle des Hinweisens und Bezeugens hinaus bewegen und sich gleichsam vor das glaubwürdige Evangelium stellen. Die Zeugen und Zeuginnen der Kirche können das Evangelium sozusagen unsichtbar machen, indem sie sich selbst zu breit machen. Denn klar ist: Eine missbrauchende, eine gierige, eine gleichgültige, eine nachlässige, eine banale, eine korrupte, eine bizarre usw. Kirche bzw. eben solche Vertreter/innen dieser Kirche können die Glaubwürdigkeit des Evangeliums unsichtbar machen. Menschen können durch unverantwortliches Handeln Gottes Evangelium so verstellen, dass es nicht mehr zu sehen ist. Unangemessenes "kirchliches Bodenpersonal" kann die Flughöhe der Glaubwürdigkeit des Evangeliums erheblich sinken lassen.

Aber auch das Umgekehrte gilt: Wenn eine Glaubwürdigkeitssteigerung des Evangeliums durch Menschen behauptet wird, dann spricht man oft von Heiligen. Heilige aber stellen sich gerade in ihrer positiven Gestalt mitunter so vor das Evangelium, dass man von Jesus Christus gar nichts mehr sieht. Deswegen hat die Reformation den Glauben an die Heiligen verworfen, wobei Heilige dann - so der schwedische Theologe Nathan Söderblom - nach reformatorischem Verständnis Menschen sind, die den Glauben an Gott erleichtern. Das entspricht exakt der verweisenden, dienenden Funktion der Kirche. Aber wie so oft findet Martin Luther für diesen Zusammenhang den klarsten Ausdruck: "Es ist nicht eine geringe Gnade, dass Gott sein Wort auch durch böse Buben und Gottlose gibt, ja es ist etlichermaßen gefährlicher, wenn er es durch heilige Leute gibt denn so er es durch unheilige gibt, darum das die Unverständigen darauf hereinfallen und hangen mehr an der Menschen Heiligkeit denn am Wort Gottes." (WA 26, 163 f.).

Als Regel kann man daher festhalten: Immer wenn sich die Kirche oder die Menschen in ihr zu sehr selbst zum Thema machen, sei es als ecclesia triumphans in ihrer Selbstgefälligkeit oder als ecclesia diabolica in ihrer Abgründigkeit, immer dann stellen sie sich vor das Evangelium und machen es unsichtbar.

These 3:

Eine behauptete Glaubwürdigkeit der Kirche führt leicht zur Trivialisierung des Evangeliums.

Die Kirche reduziert und banalisiert die Glaubwürdigkeit des Evangeliums, wenn sie versucht, sich selbst durch innerweltliche Plausibilitäten glaubwürdig zu machen. Bei allem Respekt vor der Akzeptanz der Diakonie in unserer Welt, bei aller Wertschätzung auch der gesellschaftspolitisch kritischen Stimme und der moralisch-ethischen Positionierung: Letztlich kann ein beständiges Bemühen um eine Glaubwürdigkeit der Kirche, die durch nützliche Diakonie oder gute Werte, durch plausible Gerechtigkeitsforderung oder moralische Haltungen erzeugt wird, auch zu einer Trivialisierung unseres eigentlichen, unseres geistlichen Glaubwürdigkeits-Themas beitragen. Wenn unsere Kirche sich überall als nützlich erweisen will, wenn sie eine Kirche der "vielen guten Gründe" sein will, wenn sie Werte liefert auf Bestellung und Bildung sichert für jedermann, dann wird sie vielleicht für ihren gut organisierten Beitrag für die Welt anerkannt und findet Zustimmung für ihr geschäftiges Tun, aber auf das Evangelium von Jesus Christus ist damit noch keineswegs hingewiesen. Niemand wird die Tätigkeiten der Diakonie oder das Bildungshandeln der Kirche vernachlässigen oder übersehen, aber es gilt, den Verweisungszusammenhng auf das Evangelium sichtbar zu halten. Sonst gerät unsere Kirche schnell eine Art "prä-reformatorische Situation":

Denn damals um 1500 gab es eine Art geistlich-theologisch überdrehte Kirche! Gottesdinge waren weithin "verwaltet", für jeden Schicksalsschlag gab es einen Heiligen, einen Seitenaltar oder eine Gebetsfolge. Angst, Zweifel, Sinnferne, Lebenskummer wurden oft nicht ge-, sondern vertröstet, die Frömmigkeit war stark ritualisiert. Die Welt machte Angst, und Gott machte auch Angst, denn alle Gotteserfahrung wurde durch die eine Kirche vermittelt, aber damit auch kontrolliert. Es gab ein tiefes Unbehagen am Wissenschaftsbetrieb und an der (scholastischen) Theologie. Und obwohl es um 1500 auch sehr ernsthafte und tiefgehende Frömmigkeit gab (Stichwort "observante Klöster"), zeigte doch die Konkurrenz der Wallfahrtsorte/Events mit ihrer inflationären Veräußerlichung von Mirakeln/Erlebnissen, die bizarren Großveranstaltungen, die Sammlung von aberwitzigen Reliquien ("Jesu Windeln") und die immer exaltiertere Form von Ablässen eine Banalisierung und Kommerzialisierung der Frömmigkeit. Es war eine in aller religiösen Geschäftigkeit angsterfüllte Zeit der Gottesverborgenheit, die einen gleichsam in den Winkeln der Kirche verloren gegangenen Gott durch Über-Engagement, durch eine Art "religiösen overkill" festzuhalten sich bemühte. Unsere Situation ist heute nach 500 Jahren natürlich unendlich anders; dennoch drängen sich manche Entsprechungen als kritische Fragen geradezu auf: Gibt es bei uns auch eine Art religiös aufgeregte Geschäftigkeit? Werden Kernelemente des Glaubens oftmals gar nicht mehr verstanden und gilt die zentrale reformatorische Theologie der Rechtfertigungsbotschaft nicht weithin als abständig? Sind unsere Kirchen frei von jenen Plausibilisierungen, die zur Trivialisierung oder Banalisierung des Gottesthemas führen? Und bieten unsere Kirchen nicht Gott oftmals an als Gott der braven, guten Worte, als Quelle der nützlichen Werte, als Träger heilender Rituale, als Wächter vor Selbstüberforderung und Warner vor Härten aller Art?

Manchmal gewinne ich den Eindruck, dass unsere Kirchen nicht zuletzt aufgrund all der Enttäuschungen und Rückgänge, der Kränkungen und Mitgliederverluste so bestätigungs- und anerkennungsbedürftig geworden ist, dass sie in einem unguten Sinne möglichst allen alles zu werden versuchen. Entschwindet Gott nicht hinter unseren in allerbester Absicht entwickelten Glaubwürdigkeitsbemühungen? Wird die Frage nach Gott nicht viel zu oft beantwortet mit dem Hinweis, die Kirchen täten doch Sinnvolles und Gutes? Als "Bundesagentur für Werte" helfen sie gegen die Gier der Wirtschaft, als "Bildungsanstalt für Arme" helfen sie den Kindern mit Migrationshintergrund, als "prophetische Stimme" lehren sie die Öffentlichkeit richtige Wege, - aber wird Gott so nicht schrecklich nützlich, brauchbar und banal? Ist das Verwunderliche, Geheimnisvolle, Unerschließbare der Gottesgegenwart noch Zentrum unseres Tuns? Ist die Trivialisierung Gottes aus dem Geist des "Nützlich-Seins" und des "Liebgehabt-Werden-Wollens" die babylonische Gefangenschaft der gegenwärtigen Kirchen?

Niemand wird hier das eine gegen das anderen ausspielen wollen, aber zu erinnern ist in jedem Fall die reformatorische Grundeinsicht: Alle guten Taten, alle klugen Gründe, alle überzeugenden Handlungen sind Folgen einer geistlichen Grundhaltung, nicht der Grund dafür. Sobald aber diese grundevangelische Kernthese - erst der gute Baum, dann die guten Früchte - nicht mehr sichtbar ist, sondern nur noch die guten Früchte als Plausibilität für den Glauben und als Glaubwürdigkeit des Evangeliums dargestellt werden, wird die Glaubwürdigkeit innerweltlich trivialisiert. Aus Glaubwürdigkeit des Evangeliums wird Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Taten; das aber geht schief, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Christen als Sünder, als "simul justus et peccator" offenbar werden. Und es ist ebenfalls nur eine Frage der Zeit, bis es andere Institutionen und Einrichtungen gibt, die jene weltliche Plausibilität auf ihre Weise herstellen und also die Kirche erübrigen. Deswegen gilt: Die Glaubwürdigkeit der Kirche hängt an ihrem zentralen Thema Gott und der Sehnsucht nach Gott, nicht an ihren guten, plausiblen, nützlichen Taten.

These 4:

Glaubwürdig ist eine Verkündigung der Kirche, die ebenso offen wie ernsthaft in dieser Welt nach Gott sucht.

Die Grundaufgabe der Kirche ist, von Gott zu reden, ihn in jeder Generation neu zu suchen und ihn anzurufen, nach ihm Ausschau zu halten wie die Wächter auf den Zinnen: "O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden." (Jes 62, 6f.). Dieses Kerngeschäft des Ausschauhaltens nach Gott gilt es sichtbar zu halten und also Sprache zu finden für die Gottessehnsucht in unserer Welt. Unsere Kirche muss schon bei ihrer Kernaufgabe/ihrem Kerngeschäft bleiben, wenn sie ernst genommen werden will. Von alters her ist der Glaube verstanden als "pharmakon athanasias", Medizin zur Unsterblichkeit, ursprünglich als Definition für die Sakramente formuliert, zweifellos aber entgrenzbar auf das ganze Evangelium. Dieses Kernthema des Glaubens ist die Sorge um das ewige Leben des Menschen im Diesseits und im Jenseits, wobei mit ewigem Leben auch das mittige und freie, heile und helle, liebesfähige und liebeswürdige Leben hier und heute dargestellt wird. Glaubwürdig ist eine Verkündigung, die die tiefen existenziellen Dimensionen des Lebens anspricht und sich nicht verliert in Äußerlichkeiten der moralischen Verbesserung oder der trivialen Nützlichkeiten. Ich habe immer ein sehr ungutes Gefühl, wenn mir jemand die Tauglichkeit der Bibel für den Alltag darzulegen versucht; die Bibel ist keine Ratgeberliteratur. Jede Generation muss neu nach Gott fragen, jede historische Situation hat ihre eigenen geistlichen Herausforderungen, ihre je spezifische Frage nach Gottes Geheimnis in der Gegenwart, und sie hat ihre eigenen Antwortversuche. `Gott ist gegenwärtig‘ heißt der Beginn eines Liedes des Mystikers Gerhard Tersteegen, und diese Gegenwärtigkeit Gottes ist der Sehnsuchtspunkt einer jeden Generation, weil mit der Gegenwart Gottes die Wahrheit und die Liebe, der Sinn und die Schönheit zugleich in der Seele aufgehen.

Christen allerdings zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Suche nach dem gegenwärtigen Gott nicht freischwebend, hemdsärmelig und unbedarft beginnen, sondern dass sie sich in die Verweisungstradition der Väter und Mütter stellen. Denn alle Wissensbestände des christlichen Glaubens sind "geronnene Erfahrung" und "bewährte Wege", die wie ein Geländer am Berg oder wie Leuchtfeuer auf hoher See zur Orientierung dienen. So lesen Christen die Bibel: sie ist wie eine Brille, die man aufsetzen muss, um durch sie klarer, besser, schärfer erkennen zu können, wo Gott wohnt. Auf die Bibel drauf zu schauen und "an die Bibel zu glauben", kann auch Missbrauch der Bibel werden, wenn man sie vor den von ihr bezeugten Christus stellt und ihren Wortlaut überstrapaziert. Mit der Bibel und durch die Bibel zum Evangelium zu finden, das macht die Aufgabe aus. Die Bibel will uns an die Ränder der Gottesgegenwart führen, aber sie ist kein Selbstzweck, sondern Hilfsmittel.

Deswegen gilt: Die Geschichten von Abraham, Isaak und Jakob, die Prophetengeschichten von Elija und Elisa, die Geschichtsbücher, die Psalmen usw., vor allem aber die einzigartige Geschichte vom Kommen und Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi sollen immer wieder erinnert, weitererzählt und weitergegeben werden. Aber sie sollen verstanden werden als menschlich-metaphorische Geschichten von Gott, der selbst unendlich viel größer und fremder ist als die Summe aller einzelnen Geschichten. Denn erst dieses Verständnis der Bibel als menschliche Rede von Gott eröffnet die Vielfalt der Auslegungswege: Von der hochmittelalterlichen Kunst des vierfachen Schriftsinns über die historisch-kritische Analyse der Texte bis hin zu Bibliodrama und anderen modernen Formen der Bibelauslegung zeigt sich der Reichtum der Zugänge und die Unabschließbarkeit der Auslegung gerade dann, wenn wir die Bibel als menschliches Zeugnis für Gott verstehen.

These 5:

Glaubwürdig ist eine Theologie, die "Sprachkraft zum Leben" findet

Aber nicht nur einfaches Kennen und Nacherzählen der biblischen Geschichten ist die Aufgabe, obwohl es in unserer gegenwärtigen Situation des Traditionsabbruches vermutlich eine der wichtigsten Aufgaben darstellt, sondern das Präsenthalten der biblischen Geschichten wird außerhalb des Kinderumfeldes nur gelingen, wenn es eine Interpretation als existenzerschließende Sprachkraft gibt. Die Bibel allein ist ein Buch neben vielen anderen, das ebenso vieldeutig ist und vieldeutig bleibt wie Harry Potter oder Herr der Ringe. Erst eine "Lesehilfe" macht die besondere Bedeutung der Bibel als Leuchtfeuer zum Leben sichtbar. Ohne Theologie als reflektierte Rede von Gott ist die Bibel ein Geschichtenbuch. Ohne Theologie, also ohne Weisheit von Gott, ist das Erzählen der biblischen Geschichten wie ein IKEA-Bett ohne Bauanleitung, das kann gut gehen, ist oft aber Glücksache. Die Erschließungskraft der Bibel für die Suche nach der Gegenwart Gottes bleibt ohne reflektierte Theologie stumpf. Seit den ersten Tagen der Christen hat es immer ein Bedürfnis und die Notwendigkeit gegeben, die Geschichten von dem Rabbi aus Israel zu verstehen und zu deuten im größeren Kontext der jeweiligen Geisteshaltungen. Ohne christliche Theo-Logie sind die biblischen Geschichten zu harmlos. Insofern geht es nicht nur darum, dass die "Kommunikation des Evangeliums" in einem ganz vordergründigen Sinne aufrecht erhalten wird, sondern es geht um "eine Sprachkraft zum Leben", die das gegenwärtigen Leben (seine Art und Weise zu reden, in Bildern zu denken, in Liedern zu singen) so aufnimmt, dass Gott mitreden kann in dieser Welt.

Es gehört aber zu einem bestimmenden Eindruck unserer Generation, dass die Rede von Gott wirkt wie die Rede, die von einer Gefangenschaft zu erlösen behauptet, die keiner mehr hat. Glaube wirkt wie ein Heilmittel für eine Störung, die keiner mehr empfindet, wie die Medizin für eine Krankheit, an der keiner mehr leidet. Oder theologisch gesagt: Weil wir eine außerordentlich schwache Hamartologie (Sündenlehre) haben, braucht auch niemand mehr eine Erlösungslehre. Das allerdings ist eine zentrale Grundform aller christlichen Reflexionen von den ersten Tagen der Theologie an: Jesus Christus ist das Heil der ganzen Welt, weil die Welt insgesamt im Unheil ist. Jesus Christus ist für unsere Sünde gestorben, weil wir alle Sünder sind. Solange es in den Menschen noch ein ungefähres Bewusstsein dafür gibt, inwiefern man sündig ist und wie sehr man in Heillosigkeiten lebt, solange hat die Verkündigung des Glaubens als Heilung und Medizin immer auch einen Anknüpfungspunkt. Fehlt aber das Wissen davon, dass wir in heillosen Verhältnissen leben, wird auch die Zusage der Befreiung kraftlos und leer.

Für unsere kirchliche Situation dürfte es zu den größten Verblüffungen gehören, dass wir alle zwar offensichtlich in einer zutiefst heillosen Welt leben und dass es wohl kaum jemand gibt, der nicht gute Hinweise und nachvollziehbare Gründe dafür hat zu sagen, dass wir in einer Welt der Unordnung und der Verlorenheit und der Zerstörungswut leben, aber dass immer weniger Menschen auf die Idee kämen, sich bei der Analyse dieser Situation dem Glauben zuzuwenden. Die Gegenwart hat in gewisser Weise ein tiefes Bewusstsein von ihrer Verlorenheit, von ihrem Leben auf Pump, ihrer Nachhaltigkeitsverweigerung, von ihrem Leichtsinn und Größenwahn, kurz: von ihrer erlösungsbedürftigen Grundhaltung, sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben. Aber die Sprache der Theologie findet nicht die Kraft, diese kummervollen Dimensionen des Lebens so auszusprechen, dass sie in Gott eine Heilung finden können. Was wir brauchen, ist darum eine ehrliche Theologie, die sich in die Ausweglosigkeiten der Gegenwart hineinbegibt, die den Kummer teilt und die Verzweiflung kennt. Ehrliche Theologie hat nicht gleich Ratschläge parat, ehrliche Theologie versucht, den Abgrund und den Kummer der Gegenwart in Sprache zu fassen und so vor Gott zu stellen, dass diese Wahrheit in Gottes Händen zur Heilung werden kann.

These 6:

Hilfreich für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums ist eine Kirche, die ihre Hausaufgaben macht.

Gesellschaftspolitisch sind die kritischen Anfragen gegenüber unserer Wachstumsphilosophie, der ungebremsten Finanzmarktsituation, der fehlenden Nachhaltigkeit, der hemmungslosen Schuldenmacherei und der Wahrnehmung, dass zentrale Probleme verschoben, aber nicht gelöst werden, keineswegs unberechtigt und en vogue; und wir als Kirche stimmen diese Tonlage ja auch oft mit an. Aber alle diese kritischen Wahrnehmungen sind nur überzeugend, wenn auch die Kirche sich selbst kritisch ansieht:

Zum Glück sind wir lange nicht so verschuldet wie andere öffentliche Träger, aber eine Überangestrengtheit, ein Leben auf Pump im übertragenen Sinne kennen wir auch. Bei uns gibt es auch den hamsterrad-ähnlichen Aktivismus, der ein Programm aufrecht zu erhalten versucht, das mit sehr viel mehr Leuten für sehr viel mehr Interessierte entworfen worden ist. Es gibt eine weitläufige Ausdünnung des parochialen Netzes, die dennoch aufrecht erhalten bleiben soll und die nur aufrecht zu erhalten ist auf Kosten der Menschen, die in diesen Strukturen arbeiten. Die Atemlosigkeit und Erschöpftheit des geistlichen Tuns und Redens und die mangelnde Relevanz gerade im spirituellen Bereich sind Signale einer inneren Erschöpfung, die man als Auftrag erkennen und formulieren muss: Unsere Kirche steht vor der Aufgabe, eine rechte Dimensionierung ihrer Arbeit zu finden, die deutlich besser das schaffbare Maß findet. Unsere Generation muss das "Wachsen gegen den Trend" auch verstehen lernen als Wachsen gegen den Trend des Festhaltens, des Klammerns und des Immer-so-weiter-Machens. Eine Konzentration auf das Wesentliche und eine Reduktion auf das Optimale ist unsere Herausforderung. Geistig gesehen geht es nicht um eine Wehklage über die Reduzierung, sondern um die Möglichkeit, sich auf das Wesentliche und Wichtige zu konzentrieren und das Optimum zu erreichen. Das ist ein geistlicher Prozess, zugegeben ein schwieriger Prozess und auch ein ungeübter Prozess, insofern unsere Generation fünf Jahre vor dem 500. Reformationsjubiläum 2017 vor einem Verschlankungsprozess, vor einer Art institutionellem Fasten steht. Daher sind dies die eigentlichen zukünftigen Leitfragen: Wie organisiert man eigentlich eine Konzentration der Kräfte? Wie organisiert man einen Rückbau als Aufbruch, eine Konzentration als Investition? Wie kommt man als Gemeinschaft der Kirchen zu der inneren Zustimmung zu Psalm 147, 12ff.: "Preise, Jerusalem, den Herrn; lobe, Zion, deinen Gott. Denn er macht fest die Riegel deiner Tore und segnet deine Kinder in deiner Mitte. Er schafft deinen Grenzen Frieden und sättigt dich mit dem besten Weizen!"

Eine Kirche, die Frieden findet in ihren Grenzen, steht m.E. vor drei Aufgaben: :

  • Es gilt, die Strategiekompetenz der Kirche zu stärken bzw. zu etablieren, denn eine Strategie entwickeln heißt zu klären, was man macht und was man nicht mehr macht. Posterioritäten zu definieren, das fällt uns aber sehr schwer. Strategien definieren Ziele und das heißt Schwerpunktbildungen. Strategien können gleichzeitig die Frage beantworten, was man nicht mehr zu machen hat. Eine zielorientierte Handlungsweise wird in der evangelischen Kirche an vielen Stellen längst gemacht (Mitarbeitergespräche, Leitbildprozesse, Zielverabredungen, Finanzsteuerung usw. usf.), der zentrale Sinn dieser Steuerung durch Zielverabredungen muss aber immer wieder unterstrichen werden: Zielverabredungen dienen dem Schutz vor Selbstüberforderung! Ziele leisten eine Konzentration auf das Bewältigbare und bieten zugleich die Möglichkeit einer sachbezogenen Würdigungskultur; wer Ziele erreicht, kann auch gelobt werden.
  • Das zweite Instrument ist die Etablierung von Erkennbarkeit: "markant evangelisch" sollten wir sein. Ziele müssen eingebettet sein in die zentrale Erkennbarkeit des eigenen Handelns. Es muss etwas entwickelt werden wie eine Dachmarke "Evangelisch aus gutem Grund", die sich in Vielfalt und Unterschiedlichkeit brechen kann, die aber doch überall und immer erkennbar evangelisch bleibt. Zum Stichwort "markant evangelisch" gehört die Suche nach neuer Sprache für Gott ebenso wie die stärkere Vertrautheit mit den Traditionen, den Wissensbeständen evangelischer Überzeugungen in Bibel und Bekenntnis. Während die Beheimatung in der Tradition eine gewichtige Bildungsaufgabe ist und gut aufgenommen wird in Initiativen wie den "Glaubenskursen als verlässliches regionales Angebot" oder in der Aktion "Willkommen in Gottes Welt" als Förderung der Lesefähigkeit und der Taufbereitschaft, ist im Blick auf eine neue Sprachkraft für Gott und den Glauben noch manches zu entdecken.
  • Der dritte Bereich ist vielleicht der Schwierigste, denn er lässt sich sammeln unter der Leitfrage: Wie unterbrechen wir uns eigentlich selbst? Wie unterbricht sich eine Kirche in ihrer Geschäftigkeit? Dazu gehört auf der einen Seite die Fähigkeit, mit Kritik, Enttäuschung und Relevanzverlusten umzugehen. Die evangelische Kirche muss die Fähigkeit entwickeln, loszulassen und Nein zu sagen. Nur wer mit Enttäuschungen umgehen kann, hat die Chance, sich nicht hetzen zu lassen. Zugleich gilt es, Organisationsformen zu finden, die diese Unterbrechung der Geschäftigkeit verlässlich durchsetzen. Im Kern ist es also die Frage nach einem Führungs- und Leitungshandeln, das ein geistliches Ziel verfolgt. Dazu gehört auf der einen Seite die "intrinsische Dimension" der persönlichen Frömmigkeit, des Gebetes, die Beheimatung im Glauben, der regelmäßigen Bibellektüre, der Entwicklung einer persönlichen oder gemeinschaftlichen Frömmigkeit usw. Dazu gehört aber auch eine "extrinsische Dimension", die ihre klassischen Instrumente in der Fortbildung hat, die eine typische Unterbrechung ist, aber auch in der Visitation, die allerdings eher faktisch dazu führen kann, dass die Geschäftigkeit noch eine Drehung mehr annimmt. Im Kern aber ist die Unterbrechung eine Leitungsaufgabe und eine Leitungsverantwortung, denn in der Regel muss die Unterbrechung zugemutet werden und gegen den vollen Terminkalender, gegen das Gefühl der Unersetzbarkeit und gegen die persönliche Prioritätensetzung durchgesetzt werden. Mitunter muss es eine verordnete Unterbrechung geben bis hin zu Aufgabenwechsel für einige Wochen, die den Blick auf das bisher Getätigte noch einmal grundsätzlich verändert. Hier gilt es, auch als Institution einige intelligente Formen der Unterbrechung, des Innehaltens, des Loslassens und Ausatmens zu inszenieren und auch organisatorisch so einzubinden, dass dies gerade den besonders engagierten Menschen als positive Unterstützung zu Gute kommen kann.

Ich glaube wohl, eine Kirche, die mit ihren Mitarbeitenden gut umgeht, die ihnen die Last der Selbstüberforderung nimmt und ihren Schlüsselberufen auch über den steinigen Weg der Reformen ein Ende der Geschäftigkeit und ein Herausfinden aus dem Hamsterrad eröffnet, solche eine Kirche steht der Glaubwürdigkeit des Evangeliums weniger im Wege als eine Kirche, die sich kontinuierlich gegen Reformen sperrt, Aufbrüche verweigert und gerade so den einzigen Ausweg aus der Selbstüberforderung – nämlich ein Reformprogramm - nicht zu gehen bereit ist.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!