„Beredte Loyalität“ - Evangelisches Engagement für Europa

Nikolaus Schneider

Rede des Vorsitzenden des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider, anlässlich des Empfangs in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union Brüssel, 26. Mai 2011

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrter Herr Botschafter Tempel,
sehr verehrter Herr Kommissar Oettinger,
verehrte Damen und Herren Abgeordnete des Europäischen Parlaments,
meine Damen und Herren, liebe Gäste,

zunächst gilt mein herzlicher Dank der Ständigen Vertretung und ihrem Leiter, Herrn Botschafter Tempel, für seine Gastfreundschaft. Ich freue mich sehr, dass wir heute Abend zu einem Thema, das uns alle bewegt, in ihrem Haus zusammenkommen können. Und ich danke sehr herzlich auch Ihnen, sehr geehrter Herr Kommissar Oettinger. Zum einen dafür, dass Sie sich heute Abend als bekennender Protestant zu erkennen geben und zum anderen dafür, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns das öffentliche Gespräch über Europa zu führen.

Die Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sieht in dem Projekt der europäischen Integration einen gebotenen Schritt zur Bewahrung des Friedens. Es heißt dort:

„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und vor den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Dieser Vorspruch unseres Grundgesetzes enthält auch noch heute „grundlegende Hinweise für unsere Politiker“ - so sagt es Helmut Schmidt in seinem gerade erschienenen Buch „Religion in der Verantwortung“. Er sagt weiter: „Dieser Satz weist auf die politischen Konsequenzen der Tatsache, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts von einem tief in sich gespaltenen und verfeindeten Europa ausgegangen sind.“
(Helmut Schmidt, Religion in der Verantwortung, S.246 )

Und dieser Satz - so möchte ich es heute Abend sagen - enthält auch einen grundlegenden Hinweis für unsere Kirchen:
Den Hinweis, dass sie das Friedensprojekt Europa mit „beredter Loyalität“ mittragen sollten.

Der Herr der Kirche, Jesus Christus, preist die Menschen selig, die den Frieden suchen und Schritte des Friedens wagen ( Mt. 5, 9 ). Die Vision eines vereinten Europas und die vielen konkreten Prozesse seiner Gestaltung wollen und sollen dem Frieden dienen. Deshalb sehen es viele engagierte Christinnen und Christen als ihre Aufgabe an, Position im gesellschaftlichen Diskurs um Europa zu beziehen und sich gestaltend in die Weiterentwicklung des europäischen Projekts einzubringen.

Und das gilt auch für die Kirchen selbst. Alle Kirchen verstehen sich theologisch so, dass sie von Christus als ihrem Haupt geleitet werden; von dem Christus, der vom Propheten Jesaja als der „Friedefürst“ angekündigt wird. Für den Frieden zu arbeiten gehört deshalb zu ihren wesentlichen Aufgaben.

In vier Thesen will ich einige Akzente zum gegenwärtigen Diskurs über Europa setzen. Ich tue dies aus der Perspektive der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

1. „Beredte Loyalität“ ist eine angemessene Form kirchlichen „Einmischens“ und „Mitmischens“ in politischen Prozessen.

Die 5. These der Barmer Theologischen Erklärung hatte 1934 zur Aufgabe der Kirche dem Staat gegenüber formuliert:
„Die Kirche erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“

Unabhängig von allen geschichtlichen und politischen Veränderungen der letzten 77 Jahre seit Barmen bleibt es die immer wieder aktuelle Aufgabe unserer Kirche, an das in Jesus Christus schon angebrochene und in seiner Vollendung noch kommende Reich Gottes zu erinnern. Das bedeutet: alles politische Handeln darf keinen absoluten, totalitären Anspruch erheben. Es bewegt sich vielmehr im Vorläufigen, muss revidierbar sein und bedarf stetiger Veränderung. Aufgabe der Kirche dem Staat gegenüber ist es, „zu erinnern“, und zwar ohne staatlichen Macht- oder Handlungsanspruch.

Dabei berief und beruft sich unsere Kirche auf die Botschaft der biblischen Propheten und auf die Botschaft Jesu, die neben der radikalen Umkehr Einzelner auf ihren Lebenswegen auch Frieden und soziale Gerechtigkeit als politisch zu lösende Aufgaben der Staaten im Blick haben.

Kirche kann und soll nicht das Reich Gottes auf Erden bauen. Aber sie kann und will auf Wege dahin hinweisen und mithelfen, sie zu ebnen. Sie sucht dabei immer wieder neu nach Perspektiven Versöhnung und vor allem nach Perspektiven der Überwindung von Gewalt.
Die Vision eines vereinten Europas und der gegenwärtige Prozess ihrer Verwirklichung und Gestaltung ist meines Erachtens eine solche Perspektive! Und deshalb bringen wir als EKD dieser Vision und diesem Prozess eine „beredte Loyalität“ entgegen.

Unter einer „beredten Loyalität“ verstehe ich eine grundsätzliche Verbundenheit, die um Mitverantwortung weiß und sie wahrnimmt. Beredte Loyalität bringt diese Verbundenheit und Mitverantwortung intern und auch öffentlich zur Sprache.

Beredte Loyalität ist keine blinde oder naive Begeisterung und auch kein unkritisches Hinnehmen politischer Entwicklungen in Europa. Beredte Loyalität zeigt sich vielmehr in der Teilnahme an einem  engagierten Diskurs, in Rede und Gegenrede, im Mitdenken und Weiterdenken und auch in Einspruch und Widerspruch!
Beredte Loyalität ist eine Form der Teilnahme unserer Kirche an einem Prozess, den wir für unsere Kirche und für das Zusammenleben aller Menschen auf unserem Kontinent für notwendig und sinnvoll halten.

2. Das Projekt Europa braucht die „beredte Loyalität“ von Christenmenschen und Kirchen, damit Europa als Friedensprojekt in den gegenwärtigen Krisen nicht beschädigt oder in Frage gestellt, ja sogar bekämpft wird.

Das Projekt der europäischen Integration wird gegenwärtig leider verstärkt in Frage gestellt. Schon bei der schwierigen Debatte um den Vertrag von Lissabon wurde die Kritik laut, dass dieses nur schwer lesbare Vertragswerk nur noch sehr wenig mit dem Alltag der Bürgerinnen und Bürger zu tun habe.

Nicht zuletzt haben dann die Finanzkrisen in Irland, Griechenland, Portugal und Spanien auch grundsätzlichen Zweifel an dem Sinn und Nutzen der Währungsunion aufkommen lassen. Auch in Deutschland fragen sich viele Menschen, was uns der Euro auf Dauer bringen wird, wenn – so das Vorurteil- wir letztlich für die Verschwendungssucht anderer zahlen müssen.

Und angesichts der Ankunft von tausenden Migranten und Migrantinnen aus Nordafrika auf Lampedusa und des Streits zwischen Frankreich und Italien wird auch die Idee des Schengen-Raums und der Freizügigkeit in der gesamten EU zur Disposition gestellt.

„Seitdem nimmt die Rückbesinnung auf das nationale und die Abkehr von Europa bei den Völkern wie bei den Regierungen zu. Kaum ein Politiker, der gegenwärtig über Europa redet, verzichtet darauf, seinen Zuhörern zu versichern, dass die EU immer ein Staatenbund bleiben und nie ein Bundesstaat werden wird“, so beschrieb es der Journalist Martin Winter in seinem sehr lesenswerten Artikel „Kleine Schritte für einen großen Traum“ in der Süddeutschen Zeitung am letzten Wochenende.

Der gegenwärtige Akzeptanzverlust der EU ist gravierend. National bis nationalistisch orientierte Kräfte gewinnen in vielen Mitgliedstaaten an Boden. Aber auch Regierungen der politischen Mitte sehen in Europa zunehmend nur noch ein schlichtes Rechenexempel: Lohnt es sich noch? Ist der materielle Gewinn durch die Exportchancen des Binnenmarktes noch größer als die Verluste durch Nettozahlungen und - in den letzten Jahren zusätzlich - durch Einzahlungen in den Rettungsschirm? So geht die Vision der Gründerväter und –mütter verloren.

In beredter Loyalität zu dem Friedensprojekt Europa will ich diesem Rückfall in einen nationalen Egoismus und diesem Primat einer ökonomischen Kosten-Nutzen-Bewertung widersprechen.
Als Kirche und als Christenmenschen sind wir gehalten, eine grundlegende Bejahung solidarischer mitmenschlicher Zusammengehörigkeit zu stärken.

Unser Glaube an Gott, den Herrn aller Welt und den Vater aller Menschen, sucht dabei immer neu die Grenzen nationaler Egoismen zu überschreiten. Die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung und unsere menschliche Verantwortung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung können nicht national eingelöst werden, sie sind globale Anliegen.


3. Beredte Loyalität mit dem Friedensprojekt Europa ist nicht blind gegenüber gegenwärtigen Problemen und Defiziten.

Der von mir sehr geschätzte Hans Magnus Enzensberger ist in letzter Zeit als einer der hörbarsten Kritiker der EU hervorgetreten. In seinem Essay: „Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“ kritisiert er u.a. die Politiker für ihre gebetsmühlenartige Aussage, die EU sei alternativlos. Diesen Begriff empfindet er als „Beleidigung der menschlichen Vernunft“, er käme einem Denkverbot gleich.

Angesichts dieser Kritik sage ich bewusst:
Im Interesse eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens der Menschen auf unserem Kontinent sehe ich - persönlich und in meiner Funktion als Ratsvorsitzender der EKD - gegenwärtig keine sinnvolle Alternative zum Projekt „Vereintes Europa“. 

Aber sicherlich könnte vieles anders und sicherlich auch besser gestaltet werden.

Darum fordere ich auf: Lassen Sie uns im Konkreten über Europa streiten!
Lassen Sie uns aber entschieden allen denen entgegentreten, die unser europäisches Projekt allein aus wirtschaftlichen Erwägungen und in nationaler Engherzigkeit ganz grundsätzlich infrage stellen.

Europa hat zu viele schweigende Hinnehmende und zu wenige beredte Befürworter.

Unsere beredte Loyalität zur EU ist allerdings nicht blind gegenüber gegenwärtigen Defiziten.
Das demokratische Defizit etwa, das auch dem Bundesverfassungsgericht einige Sorgen bereitet hat, ist offensichtlich. Der Vertrag von Lissabon hat einiges dazu beigetragen, die Rolle des Europäischen Parlaments als Mitgesetzgeber zu stärken, und auch die nationalen Parlamente stärker in das europäische Gesetzgebungsverfahren einzubinden. Das ist meines Erachtens der richtige Weg.

Denn es widerspricht unseren demokratischen Spielregeln, dass politische Entscheidungen, die in den Mitgliedstaaten parlamentarischer Zustimmung bedürften, auf europäischer Ebene von den im Ministerrat versammelten nationalen Exekutiven auf dem Umweg über Brüssel allein beschlossen werden können.

Europa hat es schwer: Brüssel ist weit weg, erscheint gar als Chimäre. Die Menschen befürchten, von wichtigen Entscheidungen abgekoppelt zu werden. Es bleiben berechtigte Fragen und Anfragen an die Prozesse hier in Brüssel:
Wo ist die Rolle der kleineren Einheiten – der Bürger, der Kommunen und Regionen – in den Entscheidungsabläufen? Wie vermitteln sie ihre Interessen nach Brüssel? Wie wird ihnen das Europäische Interesse vermittelt?

Europa beeinflusst längst unser Leben auf allen Ebenen. Ein erheblicher Teil aller neuen Gesetze beruht auf europäischen 7 Vorgaben. Es ist nur natürlich, dass die Bürger an ihrer Entstehung mitwirken wollen. Gemeinwohl muss ausgehandelt werden!

Der Verfassungsvertrag hatte neben der repräsentativen Demokratie auch die partizipative Demokratie benannt. Fehlt auch der Begriff, so sind doch die entscheidenden Normen in Art. 11 des neuen Unionsvertrages und – für uns Kirchen besonders wichtig – in Art. 17 III des AEUV (Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union) aufgenommen worden.

Und hier liegt ein weites Aufgabenfeld für die „beredte Loyalität“. Damit die Europäische Union zu „unserem“ Europa wird, müssen wir sie unterstützen und mitgestalten – nicht nur über unsere Mitgliedstaaten oder über die Wahlen zum Europäischen Parlament, sondern auch direkt als Bürger, als Verbände und auch als Kirchen.

4. Eine beredte Loyalität der EKD gegenüber dem Projekt Europa kann nicht auf inhaltliche Vorgaben und Einsprüche verzichten, zu denen uns unsere Bindung an die Heilige Schrift ruft.

Grundlegende Aufgabe unserer Kirche ist und bleibt es, das lebendige Wort Gottes für unsere Gegenwart zu hören und hörbar zu machen – nicht nur innerhalb unserer Gemeinden und Kirchen, sondern auch in den politischen Zusammenhängen unseres Landes und der Europäischen Union.
Das Wort Gottes verweist uns auf den von Menschen nicht zu überwindenden Unterschied zwischen Gott und Mensch, auf den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf.
Deshalb: In welchem Rahmen auch immer Christenmenschen politische Verantwortung wahrnehmen, die Ehrfurcht vor Gott lehrt sie, jede Verabsolutierung und Vergottung – oder besser Vergötzung! – von Personen, Ideen, Parteien und Ordnungen zu widerstehen.

Menschen sind nicht die Herren und Herrinnen über Leben und Tod und wir sind nicht das Maß aller Dinge. Zeitlose Maßstäbe sind uns in der Heiligen Schrift offenbart. Menschsein ist und bleibt grundsätzlich gekennzeichnet von Unvollkommenheit und Begrenztheit.

Unter dieser Prämisse ist z. B. auch im europäischen Kontext für den „deutschen Weg“ eines schnellst möglichen Ausstiegs aus der Atomtechnologie zu werben!

Einen Bezugsrahmen für ihre „Einmischung“ in politisches Entscheiden und Handeln haben die Kirchen in dem konziliaren Prozess für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ formuliert. Eine europäische Politik, die nicht dem Frieden dienen will, die nicht nach Strukturen der Gerechtigkeit fragt und die nicht nachhaltig versucht, Gottes Schöpfung zu bewahren, eine solche Politik kann nicht mit einer beredten Loyalität unserer Kirche rechnen.

Im sicherlich notwendigen Diskurs um einzelne konkrete Entscheidungen wissen sich Christenmenschen darüber hinaus gebunden an das uns in der Heiligen Schrift überlieferte Leben, Glauben, Reden und Handeln des Gottessohnes Jesus Christus. Und auch wenn inzwischen 2000 Jahre vergangen sind und sich unsere Vorstellungen von Kultur, Sittlichkeit und politischer Ordnung wesentlich verändert haben: Unser Glaube verweist uns theoretisch und praktisch immer wieder neu auf die Frage „Was würde Jesus dazu sagen?“.

Wenn ich Bilder von Frontex – Einsätzen und aus Flüchtlingslagern z.B. der Mittelmeerstaaten der EU sehe, denke ich an den Umgang Jesu mit den Fremden, die er als von Gott geschaffene und geliebte Geschöpfe zu betrachten uns aufgab.

Unter dieser Prämisse ist an die gesamteuropäische Verantwortung für Flüchtlinge zu erinnern. Wir dürfen die Aufgabe der Integration nicht an die Länder an den Außengrenzen Europas abschieben!

Und ich denke an Jesu Umgang mit den Armen. Sie sollen einen ihrer Würde entsprechenden Platz in der Mitte der Gesellschaft haben.

Unter dieser Prämisse sind die Sparpakete in allen Ländern Europas, vor allem auch die der überschuldeten Länder zu befragen.

In unseren Mitmenschen das Antlitz des Gottessohnes zu erkennen,
innerhalb und außerhalb unserer Kirchen,
innerhalb und außerhalb unseres Heimatlandes,
innerhalb und außerhalb von Europa,
darin liegt die uns von Gott verheißene Zukunft für unser Leben.

In beredter Loyalität zu dem Projekt Europa will und kann unsere Kirche nicht aufhören, davon Zeugnis zu geben.
Und gleichzeitig lässt sie sich nicht beirren, nachhaltig und mit langem Atem das Friedenprojekt Europa weiter voranzutreiben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.