Predigt über Markus 8, 22-25 im Eröffnungsgottesdienst der Diakonia-Weltkonferenz 2013, "Heil und Segen für die Welt", Stiftskirche des Evangelischen Johannesstiftes Berlin

Nikolaus Schneider

Evangeliumslesung und Predigttext:

Heilung eines Blinden

„Und sie kamen nach Betsaida.
Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre.
Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf,
tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn:
Siehst du etwas?
Und er sah auf und sprach:
Ich sehe Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.
Danach legte er abermals  die Hände auf seine Augen.
Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht,
so dass er alles scharf sehen konnte.“ (Markus 8,22-25)


Liebe Gemeinde!

„Gottes Geist heilt Leben mitten in der Welt“ – diese „Frohe Botschaft“ haben wir einander gerade mit dem wunderbaren Tagungslied von Fritz Baltruweit zugesungen.
„Gottes Geist heilt Leben mitten in der Welt“ – diese Gewissheit ist Grund und Ziel des diakonischen Auftrages unserer Kirchen weltweit. Denn Diakonie ist der Liebes-Dienst der Kirche Jesu Christi, der Leben heilen will – das Leben von Menschen und das Leben der Welt. Zur Diakonie ruft uns Gottes Wort und zu ihr befähigt uns Gottes Geist.

„Gottes Geist heilt Leben mitten in der Welt“ – das wurde den Menschen und der Welt in Jesu Leben, Reden und Handeln offenbar. Und das soll den Menschen und der Welt heute durch unser Leben, Reden und Handeln vermittelt werden. Gottes Geist will unseren Geist, unsere Hände, unsere Begabungen und unser Vermögen gebrauchen, damit Leben mitten in der Welt geheilt wird. Damit Gottes „Heil und Segen für die Welt“ erfahrbar werden.
Die Geschichten der Bibel erzählen uns, dass Gottes „Heil und Segen für die Welt“ die spirituellen und die leiblichen Dimensionen des Lebens umschließen. Auftrag und Verantwortung unserer Kirchen erschöpfen sich deshalb nicht allein in der Seelsorge an Menschen. Der Herr der Kirche, Jesus Christus, hat den Hunger der Seele und den Hunger des Magens gestillt. Er hat Sünden vergeben und er hat Krankheiten geheilt. Er hat Menschen eine neue Beziehung zu Gott eröffnet und er hat ihnen neue Lebensmöglichkeiten auf dieser Erde geschenkt.

Jesus selbst prägt uns mit diesem Zusammenhalten der spirituellen und leiblichen Dimension des menschlichen Lebens ein ganzheitliches Verständnis von Diakonie ein.  Diakonie als Liebesdienst der Kirche weiß sich gegründet und gebunden in den  beiden nicht voneinander zu trennenden Teilen des Doppelgebotes der Liebe: in unserer Liebe zu Gott und in unserer Liebe zum Nächsten.

Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit allen unseren Kräften und von ganzem Gemüt lieben, das will und wird sich in unseren Kirchen immer darin konkretisieren, dass wir
unsere Nächsten lieben wie uns selbst. (vgl.Lukas 10, 27) Trennten wir unsere tätige Nächstenliebe von unserer Gottesliebe ab, dann verlören unser mitmenschliches Handeln und unser sozialpolitisches Agieren ihre Einbettung in die kirchliche Verkündigung. Und damit verlöre unsere Diakonie ihre Identität.

In dieser Perspektive von Ganzheitlichkeit und der unauflöslichen Verbundenheit von Gottes- und Nächstenliebe möchte ich die Geschichte von der Heilung des Blinden auslegen.

Diese Heilungsgeschichte – wir haben sie als Evangeliumslesung gehört – wird im Markusevangelium ausgesprochen knapp und sachlich erzählt:
Ein Blinder wird zu Jesus gebracht. Jesus führt ihn aus dem Dorf heraus. Jesus streicht seinen Speichel auf die Augen des Blinden und überprüft seinen Heilungserfolg. Weil der Geheilte noch nicht klar sehen kann, wiederholt Jesus die Behandlung. Am Ende sieht der ehemals Blinde alles deutlich und  scharf.

Über die Empfindungen des Blinden und über seine Beziehung zu Jesus erfahren wir nichts – kein Wort über seine Hoffnungen, kein Wort über seinen Glauben, kein Wort über seine Dankbarkeit. Ganz offensichtlich geht es dem Evangelisten in dieser Geschichte nicht um die Heilung und den Glauben dieses einzelnen Menschen. Vor allem geht es ihm bei dieser Blindenheilung wohl nicht einfach um die wunderbare Wiederherstellung der Funktion der Augen.

Zugang zur Intention dieser Geschichte gewinnen wir über ihren Kontext im achten Kapitel des Markusevangeliums:

- Jesus sättigt das hungrige Volk wie einst Mose in der Wüste (Mk 8, 1-10).
- weder die frommen Pharisäer noch Jesu Jüngerkreis vermögen zu erkennen, wer Jesus ist und wozu er mitten ihnen lebt (Mk 8,11-21).

Mit eigenen Augen sahen Menschen die Machttaten Jesu, aber sie blieben blind für seine Sendung. Ihr „habt Augen und seht nicht“, so beklagt Jesus direkt vor unserem Predigttext die Blindheit der Menschen (Mk 8, 18). Und unmittelbar nach der Blindenheilung fragt Jesus seine Jünger nach ihrer und des Volkes Meinung zu seiner Person und Sendung.

Dieser Kontext der Heilungsgeschichte macht deutlich: Mit der Heilung des Blinden ist die Blindheit von Menschen gegenüber der Person und der Sendung Jesu angesprochen. Gottes Geist öffnet Menschen die inneren und die äußeren Augen dafür, dass in Jesu Leben, Sterben und Auferstehen das Reich Gottes schon mitten in der Welt angebrochen ist.

Solche Blindenheilungen sind ‚Heil und Segen für die Welt‘ und für uns Menschen auch heute. Denn:
Wie oft sind wir Menschen blind vor Zorn und Wut, blind aus Neid und Gier, blind vor Tränen und Angst. Wie oft rennen wir Menschen ‚wie blind‘ falschen Göttern und Lebenszielen nach. Wie oft sind wir Menschen in unserer oft so leidvollen und brutalen Wirklichkeit blind für das schon angebrochene Gottesreich und für Gottes Nähe.

Immer wieder neu brauchen wir Menschen Gottes Geist, der uns aus unserer Alltagsblindheit herausführt, der unseren menschlichen Geist berührt und uns die inneren und äußeren Augen öffnet,

- damit wir Gottes Gegenwart mitten in unserer Welt erkennen,
- damit wir in der Not anderer Menschen Jesus Christus sehen und Wege erkennen, dieser Not nachhaltig abzuhelfen,
- damit wir eigenes Leiden nicht mit göttlicher Ohnmacht oder Strafe in eins setzen und getrost leben und sterben können.

„Wer, sagen die Leute, dass ich sei?“ – so fragte Jesus seine Nachfolger nach der Heilung des Blinden. Wer ist Jesus Christus für uns heute - mitten in unserer Welt? Das ist die Frage, der wir uns als Christi Nachfolger und Nachfolgerinnen stellen müssen. Auch mit unserem diakonischen Handeln.

Jesus ging es darum, dass Menschen durch die Begegnung mit ihm klarer sehen lernten. So dass sie mit ihren Herzen und mit ihrem Verstand in ihm das lebendige Wort Gottes erkannten:
Das Wort Gottes, das ‚Heil und Segen für die Welt‘ bereit hält.
Das Wort Gottes, das sie zur Gottesliebe und zur Nächstenliebe ruft und befähigt.
Denn die Nachfolge Jesu Christi verlangt kein blindes Vertrauen.

Deshalb geht es uns auch heute mit unserem diakonischen Reden und Handeln darum, die Augen der Menschen zu öffnen. So dass sie für ihr Leben und für die Welt Jesus Christus als Gottes lebendiges Wort erkennen. Als das Wort Gottes,

- das ihr persönliches Leben und das Leben ihrer Mitmenschen heilt,
- das uns Menschen die Freiheit schenkt, zum Segen für andere zu leben,
- das Einzelnen Räume der Vergebung eröffnet und Neuanfänge nach Schuldverstrickungen,
- das Frieden und Gerechtigkeit in unseren gesellschaftlichen und politischen Strukturen befördert,
- das uns Menschen Gemeinschaft schenkt über unsere nationalen und kulturellen Grenzen hinweg.

Deshalb bitten wir für die Tage der Diakonia-Weltkonferenz und für alle Tage unseres Lebens den Geist Gottes um Heilung und Segen für die Welt:

„So komm, du Spur Gottes,
komm mit deinem Atem, deiner Gnade und deiner Liebe,
schenk Heilung und Segen, der die Welt zusammenhält.“

Amen.