Predigt über Johannes 15, 1-8 im Gottesdienst zum Anlass "60 Jahre Freiwilliges Diakonisches Jahr – 50 Jahre FSJ-Gesetze", St. Laurentiuskirche Neuendettelsau

Nikolaus Schneider

Es gilt das gesprochene Wort.

„Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie müssen brennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.“ (Johannes 15, 1-8)

Liebe Gemeinde,

in der Bibel wird uns die große Geschichte Gottes mit dieser Welt in vielen kleinen Menschen-Geschichten erzählt: In vielen Geschichten davon, wie Gottes Wort Menschen sucht und anspricht. In vielen Geschichten davon, wie Menschen sich von Gottes Wort finden lassen und auf Gottes Wort hören. Und in vielen Geschichten davon, wie Gott dann mit diesen Menschen und durch diese Menschen seine große Geschichte schreibt und weiterschreiben will.

Für uns Christenmenschen und für unsere Kirche fokussiert sich Gottes große Geschichte mit der Welt in dem Evangelium von Jesus Christus. Diese große Liebesgeschichte Gottes, die den Namen Jesus Christus trägt, hat viele Vorgeschichten. Sie beginnen bereits mit der Schöpfungserzählung im ersten Buch der Bibel. Hier wird uns zugesagt: Gott schuf den Menschen „zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf ihn als Mann und Frau“ (Genesis 1, 27). Ebenbilder Gottes sind Menschen also. Deshalb sind Menschen „beziehungsfähig“ und können mit Gott in einer gesegneten Beziehung leben. Deshalb können Menschen Gottes Wort hören und tun. Deshalb kann Gott mit und durch Menschen seine große Geschichte in seinen kleinen Geschichten schreiben.

Die Theologin Dorothee Sölle beschreibt eine jüdische Auslegung der „Gott-Ebenbildlichkeit“ von uns Menschen so: „Die jüdische religiöse Tradition hat aus dieser Ebenbildlichkeit Gottes eine Lehre von der Nachahmung Gottes entwickelt, die wir durch unsere Taten erreichen können. Gott nachahmen bedeutet sehr einfache Dinge: die Nackten kleiden, so wie Gott Kleider für Adam und Eva machte; es bedeutet, die Toten begraben, weil Gott selber den Moses begrub; es bedeutet, die Hungrigen zu speisen, wie Gott den Elia durch Raben speiste. Es bedeutet, Gerechtigkeit herzustellen und nicht länger in der Ohnmacht zu verharren. Wir sind im Ebenbild Gottes geschaffen, weil wir wie Gott handeln und das Gegebene transzendieren können.“[1]

In und durch Jesus Christus wurde diese vom Gottesvolk Israel bezeugte und bis heute geltende  Beziehungsgeschichte Gottes mit seinen Menschen auch zu einer Geschichte für alle anderen Völker. In Jesus Christus gehören auch wir zum Weinberg Gottes. Dank Jesus Christus dürfen auch wir Gott, den Weingärtner, „unser Vater“ nennen. In unserer Zugehörigkeit zum „wahren Weinstock“ Jesus Christus wird Gott auch in unseren Geschichten seine Geschichte weiterschreiben.

Dieses Bild vom Weinstock, liebe Gemeinde, das wir als Predigttext in der Evangeliums-Lesung gehört haben, ist Teil der Abschiedsreden Jesu am Vorabend seines Todes. Jesus geht bewusst auf seinen Tod zu. Er gestaltet seine letzten Tage und Stunden im Kreis der ihm nahe stehenden Menschen. Er hinterlässt ihnen Abschiedsworte als Trost und Wegweisung für die Zeit „danach“, für ihr Leben ohne die direkte Gemeinschaft mit ihm. Sie gelten auch für die Nachfolge Christi heute.

Jesus ist sich gewiss: Die Geschichte Gottes mit den Menschen wird mit seinem Tod nicht enden. Jesus vertraut auf Gott, der seine Liebes-Geschichte mit den Menschen gerade durch Jesu Tod hindurch vollenden  und bewahren wird. Deshalb findet Jesus – seinen eigenen Tod vor Augen – Worte des Trostes, Worte der Ermutigung und Worte der Wegweisung für seine Nachfolgerinnen und Nachfolger. Wir haben sie in der Evangeliums-Lesung gehört:

„Bleibt in mir und ich in euch.“
„Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht;“
„Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.“

Bleiben in Beziehung, das ist also das Entscheidende. Bleiben in der Beziehung mit Jesus Christus, dem wahren Weinstock, ist die Voraussetzung dafür, dass Gott auch mit uns und durch uns seine Geschichte schreiben  und weiterschreiben kann. Jesus blieb in Gott und Gott blieb in ihm, als er durch sein Reden und Handeln die Gegenwart und Nähe Gottes auf dieser Welt erfahrbar machte. Als er Menschen lehrte, sich selbst und einander als geliebte Kinder Gottes zu erkennen. Jesus blieb in Gott und Gott blieb in ihm,  als er am Kreuz litt und starb. Auch am Kreuz gab er seine Liebe zu den Menschen nicht preis, sondern bat sogar um Vergebung für die Folterknechte. Jesus blieb in Gott und Gott blieb in ihm, als er auferstand aus dem Tode und für uns und alle Welt neues und unzerstörbares Leben eröffnete. Jesus blieb in Gott und Gott blieb in ihm. Deshalb wurde Jesus mit seinem Leben, Sterben und Auferstehen für uns und für alle Welt zu einer lebendigen Liebesgeschichte Gottes.

Bleiben wir in Jesus und bleibt Jesus in uns, dann werden auch wir Heutigen – als Reben am Weinstock Gottes –  heilsame Früchte sein, dann werden wir Heilsames und Fruchtbares für unsere Welt bewirken. Bleiben Jesu Worte in uns und halten wir uns an Jesu Worte, dann gewinnen wir Inspiration und Orientierung, um die Geschichte Gottes weiterzuschreiben.

Diese Zusage gilt auch für die weitere Geschichte unserer Evangelischen Freiwilligendienste: Wenn wir mit unserem Evangelischen Freiwilligendienst in einer lebendigen Beziehung mit Jesus bleiben, dann werden unsere Dienste heilsame Früchte für unsere ganze Gesellschaft sein. Die Lebenskraft Gottes wird zu einer Wohltat für alle Menschen. Wenn Jesu Worte in uns bleiben, dann können wir freimütig und großherzig Barmherzigkeit und Liebe üben. Wir können Hoffnung ausstrahlen, Zeichen der Versöhnung setzen und Schritte des Friedens wagen. Dann werden wir nicht mehr allein nach beruflicher Karriere und materiellen Besitztümern hungern und dürsten. In ihrer Bindung an Jesus und an seine Worte werden die evangelischen Freiwilligendienste auch als Einrichtungen unserer Kirche Gottes Reich, Gottes Menschenliebe und Gottes Menschennähe auf unserer Erde bezeugen, sie hörbar und fühlbar machen.

Direkt im Anschluss an unseren Predigttext spricht Jesus die Worte, die den entscheidenden Grundton für alle Gottesgeschichten erklingen lassen. Jesus fordert seine Nachfolgerinnen und Nachfolger auf: „Bleibt in meiner Liebe!“ Und: „Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe.“ (Joh. 15, 9b + 12)

Die Liebe ist also das Entscheidende für die Qualität unserer Früchte. Unsere Liebe zu Gott und die Liebe zu unseren Mitmenschen lassen die Früchte unserer Dienste schmackhaft werden für die Welt und wohlgefällig in Gottes Augen. Die Liebe Gottes zu uns und unsere Liebe zu Gott und untereinander sind es, die unsere Dienste und unsere Lebensgeschichten zu Gottesgeschichten machen. Zu Geschichten, die uns als Jünger und Jüngerinnen Jesu ausweisen und die Gott verherrlichen! Geschichten, die Gott mit uns und durch uns Menschen schreibt, sind keine leichte Bettlektüre und haben nur wenig mit romantisch-kitschigen Liebesromanen gemein. Gottes Geschichten fordern unser Herz und unseren Verstand, führen uns durch manch „finsteres Tal“  und bewahren uns nicht vor Leid und Tränen.

Auch wenn wir in Jesus bleiben und Jesus in uns, verschwinden nicht alle Anfechtungen und Probleme. Immer wieder neu vermissen wir die liebevolle Fürsorge des Weingärtners.
Und immer wieder neu ist unser Tun nicht eindeutig als heilsame Frucht des Weinstocks erkennbar – nicht für uns und nicht für andere. Das Nebeneinander und das Ineinander von Scheitern und Erfolg, von bedrückenden und beglückenden Erfahrungen werden unsere Lebensgeschichten weiter begleiten – auch wenn Gott mit uns schreibt.

Gott sei Dank aber dürfen wir uns des „Happy Ends“ der großen und aller kleinen Geschichten Gottes gewiss sein. Die in Jesus Christus gegründete lebendige und liebevolle Beziehung zu Gott hält unseren Blick offen für Gottes neuen Himmel und Gottes neue Erde. Auch bei Misserfolgen. Auch in verschuldetem und in unverschuldetem Versagen. Um des Wortes Jesu willen, das "er zu uns geredet hat", ist schon jetzt gewiss, dass wir als „begnadigte Sünderinnen und Sünder“ zu dem großartigen Erntefest gehören werden, zu dem Gott, der Weingärtner, am Ende aller kleinen Weltgeschichten eingeladen hat. In Gottes Gegenwart werden wir das Gelingen seiner großen Geschichte mit dieser Welt feiern. Freuen wir uns darauf und schöpfen wir aus dieser freudigen Gewissheit immer wieder neue Kräfte für unseren Dienst in der Welt.

Amen.

Fußnoten:

1 Dorothee Sölle, Den Rhythmus des Lebens spüren, Freiburg 20014, S. 39f.