Eingangsstatement auf dem Symposium des Rates der EKD: Familie stärken in Kirche und Sozialpolitik

Nikolaus Schneider

Vor gut einem Jahr hat der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland eine Orientierungshilfe herausgegeben. "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken" lautet ihr Titel. Damit wollte der Rat deutlich machen, "wie wichtig die Leistungen sind, die Familien erbringen: Kindererziehung, Alten- und Krankenpflege, seelische Unterstützung und Gastfreundschaft, Wertevermittlung und Fürsorge." Dabei war es dem Rat gleichermaßen ein Anliegen, diese Leistungen zu würdigen wie auch den bleibenden Wert und die Erfüllung eines gelingenden Lebens in Ehe und Familie. Für die Zukunft dieses Landes , das durch den demographischen Wandel wie Veränderungen in Geschlechterrollen und Familienkonstellationen gekennzeichnet ist, wird es entscheidend sein, dass die familien- und sozialpolitischen Weichenstellungen den Familien gerecht werden, die diese Leistungen erbringen - gleich in welcher Familienkonstellation sie leben. Es ist eine politische Aufgabe, die richtigen Rahmenbedingungen für die Zukunft zu setzen - und dabei geht es um viele verschiedene Politikfelder: von der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme bis zu Infrastruktur- und Bildungspolitik, von Steuerfragen bis zur Entwicklung von Medizin und Pflege in diesem Land. Familien brauchen funktionierende Netzwerke und professionelle Partner, aber auch lebendige Nachbarschaften und gesunde Quartiere, damit sie ihre wichtigen und unverzichtbaren Aufgaben erfüllen können. Der Rat will auch die sozial-politische Diskussion darüber anstoßen, ob die richtigen Weichenstellungen erfolgen, damit ausreichend zeitliche und finanzielle Ressourcen für Familien bereit stehen.

Eine zeitgemäße Familienpolitik steht im Zentrum unserer Orientierungshilfe - doch zunächst hat sich eine überaus heftige theologische Debatte am Familienbild der Orientierungshilfe entzündet. Dass in Kirche und Öffentlichkeit eine so lebhafte theologische Debatte geführt wird und dass damit Theologie auch in ihrer Funktion für die öffentliche Verantwortung der Kirche in den Mittelpunkt rückt, ist ein Ergebnis, das ich vorbehaltlos begrüße. Die mediale Diskussion hat die theologische Dimension in den scheinbar rein gesellschaftspolitischen Fragen deutlich sichtbar gemacht.

Als evangelische Kirche betonen wir "den Leitbildcharakter von Ehe auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und bei neuen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens". Zugleich aber nehmen wir wahr, dass Familienpolitik als Sozialpolitik in einer pluralistischen Gesellschaft sich nicht allein an einem Leitbild, sondern genauso an den vorfindlichen Lebenslagen der Menschen orientieren muss.

Als evangelische Kirche sind wir in Gemeinden und Diakone, in Netzwerken und mit eigenen Fachstellen, Tagungseinrichtungen, Beratungsstellen, Bildungsstätten dafür tätig, Familien zu unterstützen und zu stärken. Dabei bringen wir  eine breite historische Erfahrungen und Expertise ein - Kirche und Diakonie waren bereits im 19. Jahrhundert die ersten Träger von Kindergärten wie Gemeindeschwesternstationen. Wir reden also nicht wie der Blinde von der Farbe, sondern als erfahrener Partner und Begleiter von Familien. Deshalb stellen wir mit unserer Orientierungshilfe auch unsere eigenen Aktivitäten auf den Prüfstand: werden wir den vielfältigen Lebensformen mit unseren Angeboten gerecht? Sorgen wir im Lebensumfeld der Familien für hilfreiche Angebote? Welche Rahmenbedingungen schaffen wir für Erzieherinnen und Erzieher? Erreichen wir tatsächlich alle Familien in unseren Quartieren - oder grenzen wir uns ab und grenzen uns aus?

Es ist ein Herzensanliegen des Rates, "der Diskriminierung und Benachteiligung neuer Formen familiären Zusammenlebens entgegenzuwirken, in denen Liebe, Treue, Verbindlichkeit, Gerechtigkeit und gegenseitige Sorge gelebt werden. Es sind diese Werte, die im mitmenschlichen Zusammenleben Gottes Segen durchscheinen lassen." Ich freue mich, dass wir heute auch diesen, durchaus kritischen Blick auf unsere eigenen Aktivitäten wagen.  Vielen Dank allen Akteuren aus dem kirchlichen Feld.

Eben weil wir in den Gemeinden und Kirchenkreisen dicht dran sind an den Familien, weil wir ihre Bedarfe kennen, darum mischen wir uns auch in die politische Debatte ein. Deshalb haben wir als Rat im Jahr 2008 die Ad-hoc-Kommission unter Leitung der ehemaligen Familienministerin Dr. Christine Bergmann und unter der stellvertretenden Leitung von Prof. Ute Gerhard berufen. Mit hoher Sachkompetenz wollten wir uns zielgenau und auf Augenhöhe mit der wissenschaftlichen wie der fachpolitischen Debatte zu Wort melden, Herausforderungen und Brennpunkte der Familienpolitik benennen, politische und auch praktische Empfehlungen geben. Für deren Ausarbeitung bedanke ich mich im Namen des Rates auch und gerade an dieser Stelle ganz herzlich bei allen Mitgliedern der Kommission. Einige grundlegende Veränderungen familiärer Lebensformen, die die Orientierungshilfe benennt, will ich zu Beginn dieses Tages in Erinnerung rufen:

Erstens: Die Zeit für Familiengründung ist knapp geworden.

Das Durchschnittsalter der Erstgebärenden liegt gegenwärtig bei 29 Jahren, 60% der Kinder werden von Müttern zwischen 26 und 35 geboren. Und immer mehr Frauen leiden darunter, dass sich der Kinderwunsch nicht wie geplant erfüllt, die Reproduktionsmedizin boomt, in Deutschland leben inzwischen 100.000 Samenspendenkinder. All das hat fundamentale Konsequenzen für die familienpolitischen Weichenstellungen ebenso wie für die Frage nach Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienbiographie.

Zweitens: Die Vielfalt des Familienlebens nimmt zu.

Ein Drittel aller Kinder werden nichtehelich geboren, in Westdeutschland 27% der Kinder, in Ostdeutschland 61%. Die Ehe ist häufig nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge gemeinsamer Kinder. Der Anteil alleinerziehender Mütter oder Väter beträgt 19%. Das bedeutet: Familie heute zu leben, bedeutet bewusste Arbeit an einer gemeinsamen Identität und Kultur. Zeit für vielfältige Kontakte organisieren - und eine gute finanzielle Basis für das entspannte Zusammenleben gewährleisten. Das Ideal, auch in Brüchen Zusammenhalt zu leben, ist deutlich leichter zu verwirklichen, wenn das Zusammenleben nicht von finanziell begründetem Dauerstress geprägt ist. Auf diesen Wandel muss Steuer- und Sozialrecht reagieren.

Drittens: Die gesellschaftliche und ökonomische Spaltung wächst.

Die Orientierungshilfe formuliert mit Blick auf das erheblich höhere Armutsrisiko insbesondere von Alleinerziehenden oder Familien mit drei und mehr Kindern: "es geht ein scharfer Riss durch die Gesellschaft - und zwar zwischen denen, die mit Kindern leben, für sie und andere sorgen, und denen, die keine Kinder haben und damit dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Deren Lebenssituation unterscheidet sich nicht nur im Hinblick auf die Einkommen, sondern auch im Hinblick auf die verfügbare Zeit, den Lebensstil und das Erziehungsverhalten."

Viertens: Das Zusammenspiel von Familie und öffentlichen Dienstleistungen - von den Tageseinrichtungen bis zu den Schulen, von Pflegediensten bis zur Beratung - hat sich verändert.

Das Angebot öffentlicher Sorgestrukturen in Kinderkrippen und Ganztagsschulen ist in ganz Deutschland selbstverständlicher geworden. Dabei spielt nicht zuletzt der Wunsch und die Notwendigkeit eine Rolle, jedem Erwachsenen eine tragfähige Berufstätigkeit und damit auch eine hinreichende Altersversorgung zu ermöglichen. Diese Veränderung wird allerdings von manchen auch mit Sorge gesehen; und zweifellos besteht die Gefahr, dass die Sorgearbeit die Familien leisten, unverhältnismäßig unter Marktdruck gerät, während die professionelle Sorgearbeit qualitativ hinter dem zurückbleibt, was an Erkenntnissen aus Bildungsarbeit und Bindungsforschung zur Verfügung steht. Es ist keine Frage:: Sorgearbeit braucht einen guten Rahmen, damit sie den wachsenden Ansprüchen und sich verändernden Rahmenbedingungen gerecht wird. Im Blick auf professionelle Angebote sind gerade Familien auf eine verlässliche Infrastruktur mit hoher Qualität zu bezahlbaren Kosten angewiesen, während die in diesen Arbeitsfeldern beruflich Tätigen auch selbst eine angemessene Entlohnung ihrer Tätigkeit benötigen.

Was also können und müssen wir tun, um Familien als verlässliche Gemeinschaft zu stärken? Was kann und muss Sozialpolitik leisten, was ist Aufgabe von Arbeitgebern, was ist an diakonischen, caritativen, gemeindlichen Angeboten notwendig, um Familien als verlässliche Gemeinschaft zu stärken? Die Orientierungshilfe erinnert daran, dass wir Menschen füreinander geschaffen sind, dass es  den Menschen  nur im Plural gibt. Wir alle leben in der Spannung zwischen Autonomie und Angewiesenheit, zwischen Freiheit und Verbindlichkeit. Lassen Sie uns heute die damit verbundenen Herausforderungen in den Blick nehmen, damit wir uns mit Kompetenz, Offenheit und Engagement für die Menschen uns einsetzen, die unsere Kraft brauchen. Ich wünsche uns für diesen Tag anregende Impulse und ein gesegnetes Miteinander.