Was ist heute noch heilig? Grenzen der Forschungsfreiheit in einer säkularen Gesellschaft.

Detlev Ganten

Anläßlich des Bioethik-Kongresses in Berlin

Vortrag von Prof. Dr. Detlev Ganten beim Kongress der EKD, 29. Januar 2002, Berlin
"Zum Bild Gottes geschaffen. Bioethik in evangelischer Perspektive"

Wiss. Stiftungsvorstand des MAX-DELBRÜCK-CENTRUM FÜR MOLEKULARE MEDIZIN (MDC) BERLIN-BUCH
Universitätsklinikum Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin

In einer kurzen Einleitung will ich begründen, weshalb ich mich in der heutigen Diskussion auf kurze "Thesen zur Bioethik" beschränke. Keine Sorge, es sind keine 95!

Die Frage: "Was darf der Mensch mit sich und seinesgleichen machen, - für sich und seinesgleichen?"

Wie es in der Einladung zu diesem Symposium steht, soll im Licht der Entwicklungen der Genomforschung, der Biotechnologie und der Reproduktionsmedizin, aber auch im Lichte des ärztlichen Mandates: "Natur zu überlisten, um sie zu verstehen, zu helfen und zu heilen" diskutiert werden. Dieses Thema ist durch Diskussionsbeiträge unterschiedlichster Art in den letzten Wochen und Monaten und schon am gestrigen Tage intensiv behandelt worden. Es haben u.a. Stellung genommen:

- Die Enquete Kommission des Deutschen Bundestages
- Der Nationale Ethikrat
- Die evangelische Kirche in Deutschland
- Die katholische Kirche
- Europäische Gremien und Kommissionen
- Ethikkommissionen und Gremien vieler anderer Länder
- Zahlreiche Wissenschaftsorganisationen, Ärztevereinigungen, Fachgesellschaften auf nationaler und internationaler Ebene
- Parlamente und Regierungen
- Einzelpersonen und Gruppierungen der Gesellschaft mit unterschiedlichsten Qualifikationen, Kompetenzen und Legitimationen.

Die Ergebnisse dieser vielfältigen Beschäftigungen sind bemerkenswert unterschiedlich, zum Teil völlig entgegengesetzt. Immer geht es um die Fragen:

  •  Mit welchen wissenschaftlichen Methoden wollen und dürfen wir forschen?
     
  •  Welche Zellen, Materialien, Forschungsobjekte stehen zur Verfügung?
     
  • Welche Anwendungen der Forschung wollen wir erlauben?
     
  • Wie können wir Missbrauch verhindern?
     
  • Was bleibt unantastbar?
     
  • Was bleibt heilig?

Es geht um die Frage unseres Menschenbildes heute und in Zukunft im Lichte neuer Erkenntnisse in den Lebenswissenschaften. Es geht um den Schutz von Würde und Leben des Menschen bei den neuen Möglichkeiten wissenschaftlicher Forschung, gentechnischer Eingriffe und evtl. medizinischer Anwendung. Es geht Mittwoch, den 30. Januar, darum, ob der Import embryonaler Stammzellen durch Beschluss des Deutschen Bundestages möglich wird oder nicht. Ich fasse meine Stellungnahme ausdrücklich unter Bezug auf die vielen vorhergehenden Äußerungen anderer Autoren holzschnittartig in Thesen zusammen und mache bewusst nicht (den von vornherein zum Scheitern verurteilten) Versuch, in der kurzen Zeit das Thema ausgewogen zu behandeln.

Auf Quellenangaben verzichte ich, da diese zum Teil als Ideengeber, zum Teil unformuliert, zum Teil ins Gegenteil verkehrt wurden und da die Autoren sich in der thesenartigen Kürze in der Mehrzahl der Fälle vielleicht zu Recht falsch zitiert fühlen würden.


1. Biologische Grundlagen

Die Gewinnung von humanen ES-Zellen:

Nach der Verschmelzung von Ei und Samenzelle
entsteht die Zygote (1 Tag)
dann die Morula (3 Tag)
dann die Blastula (4 Tag), aus deren "Innerer Zellmasse"
ES-Zellen gewonnen werden, aus denen sich viele Körperzellen (pluripotente ES-Zellen der Blastula), aber nicht mehr ein ganzer Mensch (omnipotente Zellen bis zum 8-Zellstadium) entwickeln kann.

Die Blastula wird durch die Zellentnahme zerstört, verbraucht. Es gibt Hinweise, dass die Entnahme von ES-Zellen möglich werden könnten, ohne den Embryo zu zerstören.


2.   Leben und Menschsein

Zellen mit halbem Chromosomensatz (23) (Samenzelle, Eizelle), Zellen mit einfachem, komplettem (46) Genom (Zygote) oder Zellen mit mehrfachem Chromosomensatz (z.B. Trisomie 21), alle diese Zellen leben und genießen prinzipiell Schutz und Würde im Rahmen von Gesetz, Ethik, Moral und lebenswirklichem gesellschaftlichem Konsens. – Aber: Eine Zelle ist kein Mensch. Problematisch sind Definitionen, nach denen dem Stadium vor der Kernverschmelzung kein, und 2 Stunden später der Zygote, aller Lebensschutz und Würde zugeordnet wird. Kompliziert wird es, wenn es gelingen sollte, somatische, z.B. Hautzellen, in pluripotente oder gar omnipotente Zellen zu reprogrammieren (Transdifferenzierung).


3.   Stadien des Lebens

Um einen bestimmten Zeitpunkt der biologischen Entwicklung als den Beginn eines Menschenlebens bestimmen zu können, müssen in jedem Fall Zusatzannahmen gemacht werden. Das gilt für alle vermeintlichen Stadien.

- Bei dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung wird die Annahme gemacht, dass der Mensch in hohem Maße durch sein Genom definiert sei.
- Bei dem Zeitpunkt der Nidation (14. Tag) wird (im Gegensatz zur vollständigen Entwicklung eines Embryos im Ei) auf die vielfältigen mütterlichen Faktoren hingewiesen
- Bei dem Stadium des Fötus wird auf die Entwicklung der Organe besonders des Nervensystems aufmerksam gemacht (12 Wochen).
- Nach der 24. Woche ist erstmals die eigenständige physiologische Lebensfähigkeit gegeben.
- Nach der Geburt (38 Wochen) bekommt das Baby einen Namen und wird (evtl.) getauft.

Es ist also nach plausiblen und weniger plausiblen Indikatoren zu fragen, die den Menschen in seinen vielfältigen Bezügen erkennbar werden lassen. Dazu gehört mehr als ein diploider Chromosomensatz. Die Statusfrage ist ein wichtiges Element, bringt aber nicht die entscheidende Lösung. Diese Erkenntnis deckt sich mit der Zurückhaltung gegenüber der Normativität des rein Natürlichen. Die Kirchen, verschiedene Gesellschaften und Kulturen kamen zu unterschiedlichen Zeiten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich ihrer Einschätzung der Stadien des Lebens. Das sollten wir ernst nehmen.


4.   Wissenschaftliches Potential der ES-Forschung

Da sich aus einer Zygote ein ganzer Mensch entwickeln kann, erlaubt die wissenschaftliche ES-Forschung tiefe, ganz neue Einblicke in den Beginn und die Prozesse der Entwicklung des Lebens. Das wichtigste Ziel der ES-Zell-Forschung sind grundlegende Erkenntnisse über das Leben.

Anwendungen dieser Forschung sind nicht vorhersagbar. Eine Orientierung auf Diagnose, Prognose und Behandlung ist jedoch ein Gebot biomedizinischer Forschung. ABER: Die Bedeutung der ES-Forschung darf und kann nicht auf deren Anwendungspotential reduziert werden.


5.   Erwartungen, Befürchtungen und die Realität

Es ist aus meiner Sicht abzusehen, dass die großen Erwartungen an die embryonalen Stammzellen, was deren praktische medizinische Anwendung anbetrifft, zumindest was den zeitlichen Horizont angeht, eher enttäuscht werden. Dieses wäre keine ungewöhnliche Erscheinung in der Wissenschaft.

Vor etwa 10 Jahren war die Diskussion erfüllt von den Versprechungen und Befürchtungen in Bezug auf die Gentherapie, die nach wie vor ein wichtiges Forschungsthema ist. Inzwischen spielt sie aber in der praktischen Anwendung und in den ethischen Auswirkungen eher eine geringere Rolle.

Das gleiche gilt für die Wachstumsfaktoren, die vor einigen Jahren als ganz neue Ära in der Medizin bezeichnet wurden, und die inzwischen ebenfalls auf ein natürliches Maß praktischer Bedeutung reduziert wurden.

Die Beispiele ließen sich leicht erweitern. Die gentechnische Herstellung von Insulin und anderen Medikamenten hat vor 20 Jahren die Gemüter erhitzt, in Deutschland sind zunächst keine Genehmigungen erteilt worden. Heute ist es pharmazeutischer Alltag – nur die Industrie ist in anderen Ländern und wir importieren die sehr teuren Medikamente für z.B.

- Multiple Sklerose
- Bluterkrankheit
- Blutmangel und natürlich Insulin.


6.   ES-Zellen – versus adulte Stammzellen (AS)

- ES-Zellen haben die Fähigkeit, sich fast unbegrenzt zu teilen, so dass eine Zelllinie über lange Zeiten immer wieder identische Zellen nachliefern kann. Experimentell kommt man derzeit z.B. bei Mäusen mit einigen wenigen (ca. 5) Stammzelllinien aus.
- Das Entwicklungspotential von ES-Zellen ist viel größer als das von Gewebe-Stammzellen ("adulte" Stammzellen (AS)).
- Ein Nachteil von ES-Zellen ist die Möglichkeit von Tumorwachstum bei Transplantation.
- Adulte Stammzellen demgegenüber müssen immer frisch gewonnen werden. Ihre Verfügbarkeit ist daher begrenzt.
- Das Entwicklungspotential von AS zu anderen Zelltypen ist geringer, aber es besteht Hoffnung auf Erhöhung dieser Fähigkeit durch Reprogrammierung.

Aus ES-Zellen werden AS-Zellen. Beide sind Teil eines Zelldifferenzierungssystems.


7.  Stammzellforschung und Genomforschung werden bezüglich der praktischen Anwendung weit überschätzt.

Schon die rein biologische Betrachtungsweise macht deutlich, dass es keinen genetischen Determinismus geben kann, d.h. aus den Genen kann nichts mitbestimmt vorhergesagt werden. Die Gene sind über ihre vielfältigen Produkte (RNA-Eiweiß-Peptide) in komplexe Signalketten untereinander eingebunden, die wiederum vielfältigen Außeneinflüssen unterliegen. Ablesefehler der Gene und Veränderungen der Genstruktur von außen, sorgen zusätzlich dafür, dass die ca. 30.000 Gene in jeder der über 100 Milliarden Zellen des Menschen unterschiedlich sind. Das Genom der Ursprungszygote kann das Leben beeinflussen. Es kann Menschlichkeit und Schicksal aber nicht bestimmen, nicht determinieren.

Das eigentlich menschliche, die geistige Leistungsfähigkeit, Charakter, Willenskraft, Emotionalität, Sozialkompetenz, Mitgefühl und moralisch/ethisches Urteilsvermögen sind sogar überwiegend von individuellen Einflüssen abhängig und zum geringen Teil genomisch biologisch bedingt.

- Reproduktionsgenetische Optimierungen und Manipulationen entbehren daher jeden wissenschaftlichen Anlasses und sind irrsinnige Phantasien.
- Stammzellforschung und Genomforschung sind sehr wichtige wissenschaftliche Methoden und Arbeitsgebiete von hoher Relevanz, aber auch nicht mehr.


8.   Ich stimme der Option A des Nationalen Ethikrates zu:

Der zeitlich befristete Import von pluripotenten humanen embryonalen Stammzellen gilt unter den nachfolgend genannten Bedingungen als ethisch vertretbar, weil auch die Gewinnung solcher Stammzellen aus überzähligen Embryonen für ethisch zulässig gehalten wird. Die angeführten Importbedingungen (identisch mit den entsprechenden Bedingungen unter Option B) müssen gleichermaßen für die mit staatlicher Unterstützung geförderte Forschung und für die Forschung im privaten Bereich gelten.

a) Importiert werden dürfen ausschließlich solche menschlichen embryonalen Stammzellen, die einem Embryo entstammen, der ursprünglich zur Erfüllung eines Kinderwunsches durch künstliche Befruchtung erzeugt wurde und der für einen Transfer nicht mehr infrage kommt.

b) Das Paar, aus dessen Keimzellen der Embryo erzeugt worden ist, muss seiner Verwendung zur Stammzellgewinnung zuvor zugestimmt haben. Das Paar muss vor der Erteilung seiner Einwilligung über die geplante Verwendung aufgeklärt worden sein. Ferner darf es für seine Einwilligung weder finanzielle noch anderweitige Vergünstigungen erhalten.

c) Die Stammzelllinie muss unabhängig vom Forschungsvorhaben in Deutschland und vor seiner Beantragung gewonnen worden sein.

d) Die zu importierenden Zellen müssen bei einer zentralen öffentlichen Registrierungsinstanz verzeichnet sein, wofür die Erfüllung der voranstehenden Bedingungen (a - c) zu dokumentieren ist.

e) Menschliche embryonale Stammzellen dürfen nur dann zu Forschungszwecken eingesetzt werden, wenn die durch das Forschungsvorhaben angestrebten Erkenntnisse eine medizinische Perspektive haben, nicht vergleichbar an anderen menschlichen Zellen gewonnen werden können und die erforderlichen Voruntersuchungen an tierischen Zellen dargelegt worden sind.

f) Die wissenschaftliche Qualität des Forschungsvorhabens an importierten menschlichen embryonalen Stammzellen muss durch eine geeignete Fachbegutachtung und anhand bewährter wissenschaftlicher Kriterien geprüft werden.

g) Das Forschungsvorhaben muss durch eine interdisziplinär zusammengesetzte unabhängige Ethikkommission befürwortet werden. Die Bundesregierung sollte eine zentrale Kommission einrichten.
h) Die Ergebnisse des Forschungsvorhabens müssen veröffentlicht werden.

i) Der Import menschlicher embryonaler Stammzellen wird zunächst für einen Zeitraum von drei Jahren befürwortet. Bis dahin soll eine erneute Bewertung erfolgen, welche die Ergebnisse der internationalen Stammzellforschung berücksichtigt.

Eine Beschränkung der importierbaren Stammzellen auf Linien, die vor einem bestimmten Stichtag entstanden sind, halten die Befürworter des Imports nicht für sinnvoll. Bei einer strengen Regelung des Imports wird die Nachfrage aus Deutschland nicht so hoch sein, dass sie international eine quantitative Rolle spielt.

Eine solche Eingrenzung wird zudem die Herstellung weiterer Stammzelllinien im Ausland wegen der dort bestehenden eigenen Forschungsinteressen, etwa an der Verbesserung von Kulturbedingungen unter Vermeidung von Substanzen anderer Spezies oder an der Vergleichbarkeit genetisch unterschiedlicher embryonaler Stammzellen, nicht beeinflussen.

Forschern in Deutschland würde damit schließlich eine mögliche Nutzung von im Ausland erzielten Fortschritten verwehrt werden. Bedenkt man freilich die für die Vorbereitung eines Forschungsvorhabens notwendige Zeit, dann ergibt sich, dass die Stammzelllinien zu einem Zeitpunkt entstanden sein müssen, der deutlich vor dem Ende der Importfrist liegt.


9.  Das Dammbruchargument besagt: Einmal begonnen, kann auch Missbrauch nicht aufgehalten werden ("slippery slope")

- Überflutung und Katastrophen nach einem Dammbruch können (weitgehend, nie gänzlich) vermieden werden durch den Einbau von intelligenten Vorwarn- und Sicherungssystemen.

- Nur eine Gesellschaft, die kein Vertrauen und Selbstbewusstsein bezüglich der selbstgeschaffenen Regeln, Gesetze und Kontrollsysteme hat, reagiert mutlos und ängstlich.

- Die besten und vermutlich einzig wirksamen Kontrollen wissenschaftlicher Entwicklungen und Anwendungen sind

  • ein gutes Bildungssystem
  • Transparenz und Offenheit
  • Wachsamkeit und Kritikfähigkeit
  • Freiheit von ideologischer, religiöser und politischer Unterdrückung
  • Vertrauen und Ausbau der demokratischen Institution.

- Von manchen wird argumentiert, es könnte ein "Pietätsverlust" eintreten, wenn ethisch problematische Handlungen zugelassen würden. Die Erfahrung widerspricht diesen Befürchtungen: Autopsie z. B. hat nicht zu mehr Leichenschändungen geführt. Zumeist ist das Gegenteil der Fall, eine erhöhte Sensibilisierung.


10.   Wissenschaft ist offen, transparent und verantwortlich.

Jeder biomedizinische Versuch unterliegt einer stufenweisen internen und externen Kontrolle:

Die Planungen von Experimenten erfolgen immer im Team und in einer Institution mit eigenen Kontrollstrukturen.

Die Durchführung und die Finanzierung erfolgen auf Antrag an Institutionen oder Drittmittelgeber (DFG, BMBF, EU).

Die Genehmigungen und Finanzierung erfolgen nach fachlicher wissenschaftlicher Begutachtung, Prüfung der Vorarbeiten und Abschätzung der Bedeutung der Ergebnisse bezüglich wissenschaftlicher und ethischer Kriterien.

Forschung an Menschen unterliegt einer zusätzlichen unabhängigen ethischen Begutachtung durch eine interdisziplinäre zusammengesetzte Kommission.

Versuche im gentechnischen Bereich müssen darüber hinaus durch eine zentrale Kommission für biologische Sicherheit (ZKBS) geprüft werden.


11.  Historische Meilensteine mit weitreichenden Konsequenzen, wissenschaftliche Selbstkontrolle

- 1828 Harnstoff-Synthese durch Wöhler
- 1856 Gregor Mendel etabliert die Grundsätze der Vererbungslehre
- 1871 wurde DNA erstmals in Rhein-Forellen entdeckt (Friedrich Miescher)
- 1943 wurde DNA als chemische Grundlage der Gene beschrieben (Oswald Avery)
- 1953 Entdeckung der Doppelhelix (Watson und Crick)
- 1966 Etablierung des genetischen Codes
- 1973 Einfügung fremder Gene in Bakterien
- 1978 erste in vitro Fertilisation (Louise Brown)
- 1981 erste Maus-ES-Zellen
- 1990 erste Gentherapie (Blaese)
- 1998 erste humane ES-Zellen
- 2000 humane Genom-Sequenz
- 2000 Dolly (Ian Wilmut)
- 2002 Entscheidung des Deutschen Bundestages über den Import menschlicher ES-Zellen

Alles Etappen, die entscheidend waren für unsere heutige Diskussion. Wissenschaft verändert die Vorstellung von Mensch und Natur in dramatischer Weise. Die chemische Umwandlung durch Wöhler, 1828, von anorganischen Substanzen in organische Moleküle, wie sie beim Menschen vorkommen, haben ein Erdbeben ausgelöst – die künstliche Erschaffung von Leben, Traum- und Horrorvorstellung der Menschheit - schien möglich und Goethe hat die Laborszene seiner Faust-Fassung von 1826 deshalb umgeschrieben.

Nicht auszudenken, wenn das Deutsche Parlament spätestens 1871 mit der Entdeckung der DNA in den Rhein-Forellen durch Friedrich Miescher die Forschungsfreiheit auf diesem Gebiet eingeschränkt hätte.

Der Lauf der Wissenschaft und der Welt wäre ein anderer gewesen, wenn die Probleme, die wir heute diskutieren, die zu jedem der ausgeführten Zeitpunkte früher hätten aufkommen können, zu gesetzlichen Verboten wissenschaftlicher Forschung geführt hätten.

Wenn Katastrophen aus wissenschaftlichen Ergebnissen entstanden sind, dann – so zeigt uns die historische Perspektive - nicht, weil Wissenschaftler zu neugierig waren, sondern weil sich Wissenschaftler und andere Personen von der Politik oder von ihrem Ehrgeiz haben missbrauchen lassen, oder weil die Politik fehlgeleitet und undemokratisch war und wissenschaftliche Ergebnisse in der Anwendung pervertiert hat. Das ist einer der Gründe, weshalb die Väter des Deutschen Grundgesetzes die Forschung nach den Erfahrungen unserer Geschichte unabhängig und frei gewollt und Forschungsfreiheit in den Verfassungsrang gehoben haben. Die Asilomar-Konferenzen 1973 und 1975 und deren Initiativen sind ein gutes Beispiel für verantwortungsvolle Wissenschaft und von Selbstbeschränkungen, lange bevor die Gesellschaft und Politik die Bedeutung der Forschung und mögliche Risiken erkannt hatten. Diese Kultur der Eigenverantwortung gilt es auch bei uns zu entwickeln und zu pflegen. Das Labor von Paul Berg an der Stanford Universität, Californien, wollte damals 1973 Erbmaterial des Virus SV40 in Coli Bakterien einfügen und damit erstmals Gene von einem Lebewesen auf ein anderes übertragen. In einem berühmten öffentlichen Brief von Paul Berg 1974 wurde ein Moratorium gefordert bis zu dem Zeitpunkt, zu dem bestimmte Sicherheitsmaßnahmen möglich waren. Eine zweite internationale Konferenz von Asilomar 1975 legte dann den Grundstein für die inzwischen international üblichen und auch bei uns geltenden Gentechnikgesetze und Sicherheitsstufen.
Deutsche Wissenschaftler haben dabei keine nennenswerte Rolle gespielt. Wir waren weitgehend abgemeldet aus dieser Forschung.


12.   Misstrauen gegen die Wissenschaft ist keine Basis für die Zukunft eines Landes

Aber: Auch Wissenschaftler und Ärzte sündigen genauso wie Politiker, Journalisten, Pfarrer und andere Berufsgruppen. Die biomedizinische Wissenschaft und die Ärzteschaft haben viele, z.T. selbstverpflichtende, Absicherungen gegen den Missbrauch etabliert, deren Funktionsfähigkeit ausgewiesen ist.

Dazu gehören:

  • Die "Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes", die die "ethischen Prinzipien für die medizinische Forschung am Menschen" festlegt und die in ihrer Fassung von Edinburgh aus dem Jahr 2000 alle Forschung an menschlichen Zellen und Materialien auch durch Nichtmediziner einschließt.
     
  • Die "Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarates" ist ein weitgehendes "Grundgesetz" biomedizinischer Forschung im europäischen Raum.


13.   Gerecht und Sünder zugleich (simul justus et peccator)

Die Tradition der evangelischen Ethik zeigt auf, dass diejenigen, die die Forschung an Embryonen mit dem Ziel der Entwicklung von Therapien für kranke Menschen ablehnen, ebenso wie die Befürworter solcher Forschung, in jedem Fall Verantwortung übernehmen. In allen Positionen finden sich gläubige Christen. Wir stehen vor der Aufgabe, nicht im leicht generalisierbaren Misstrauen gegenüber dem Neuen zu verharren, sondern uns am Aufbau einer Kultur zu beteiligen, die zwar mit Missbrauch rechnet und versucht diesen zu verhindern, aber nicht in der Furcht davor erstarrt. Aus evangelischer Perspektive erscheint nicht das pauschale Forschungsverbot als die angemessene Antwort, sondern das Bemühen um Differenzierung und Abwägung von Alternativen.


14.   Evangelische, protestantische versus katholische Tradition

Der Pluralismus innerhalb der evangelischen Kirche wie auch der Akademischen Theologie kann zurecht als selbstbewusstes Markenzeichen des Protestantismus gelten. Vielfältigkeit der Meinungen ist aber kein Selbstzweck. Die gemeinsame Suche nach Lösungen für ethische und moralische Probleme ist ein Gebot auch christlicher
Verantwortung.


15.   Die europäische Dimension

Das vorchristliche Europa ist immer noch eine wichtige Wurzel unserer Kultur. Schon Aristoteles kannte den Unterschied von Potentialität und Wirklichkeit. Die europäische Aufklärung hatte als wesentliche Konsequenz die Trennung von Staat und Kirche. In einem solchen säkularen Staat werden Ansprüche an die Begründung von Normen gestellt, die unabhängig sind von persönlicher Überzeugung des Individuums oder einzelner Institutionen.

Insofern kann Ethik verstanden werden als eine wissenschaftliche und philosophisch begründete Moral, die u.a. die Aufgabe hat herauszufinden, wo der Kernbestand der begründeten gemeinsamen Normen liegt nach dem Prinzip des "Overlapping consensus". Folglich kann ein ethischer Standpunkt auch nicht endgültig definiert werden. Und es wird immer widerstreitende moralische Intuitionen und evtl. Institutionen geben, die nicht in den Konsens hinein passen. In der wissenschaftlich ethischen Diskussion müssen diese Meinungsverschiedenheiten durch Abstraktion und Systematisierung auf eine moralische Grundhaltung zurückgeführt werden. Eine solche ethische Konsensbildung ist damit an die Lebenswirklichkeit und an den gesellschaftlichen Gemeinsamkeiten gebunden.


16.   Gemeinsamkeiten suchen und den normativen Bezugsrahmen festigen.

Hierauf legt der Nationale Ethikrat in seiner Stellungnahme besonderen Wert:

  • Es besteht weitgehende Einigkeit, dass die Forschung an embryonalen Stammzellen Grundwerte unserer Gesellschaft berührt und Fragen nach Inhalt und Reichweite elementarer Verfassungsprinzipien wie der Menschenwürde und des Lebensschutzes, aber auch der Wissenschaftsfreiheit aufwirft.
     
  • Gemeinsame Bezugspunkte sind die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die grundlegende Bedeutung des Lebensschutzes.
     
  • Es besteht Einigkeit darüber, dass die Würde des Menschen verbietet, Embryonen für fremdnützige Zwecke zu erzeugen. Alle Embryos, auch im frühesten Stadium, haben Schutzanspruch.
     
  • Die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit ist ein Rechtsgut, dem in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland hohe Bedeutung zukommt. Die Freiheit von Wissenschaft und Forschung unterliegt nach unserer Verfassung nur grundrechtsimmanenten Schranken.
     
  • Der Suche nach neuen Therapiemöglichkeiten und der Erhöhung von Heilungschancen messen alle ein großes Gewicht bei. Diese Forschungen dienen dem Schutz von Leben und Gesundheit und folgen einer ethischen Verpflichtung.
     
  • Konsens besteht ferner über folgende Punkte: Wenn Ethik und Verfassung gegen die Forschung unter Verwendung menschlicher Embryonen sprechen, dürfen wirtschaftliche Gesichtspunkte keine Rolle spielen.
     
  • Es besteht die dringende Notwendigkeit einheitlicher europäischer Regelungen. Solche Regelungen sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu globalen Vereinbarungen.


17.  Unsere Diskussion sollte dazu führen, die Kultur wechselseitiger Achtung immer wieder neu zu üben.

Auch hierzu nimmt der Nationale Ethikrat ausführlich Stellung:
Die Verwendung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken ist politisch und gesellschaftlich umstritten. Es besteht zwar Einigkeit darüber, dass der Schutz menschlichen Lebens ein vorrangiges moralisches und verfassungsrechtliches Gebot darstellt; Uneinigkeit herrscht aber über die Reichweite des Schutzanspruchs, der menschlichem Leben während seiner frühen embryonalen Entwicklung zukommen sollte.

Damit stellen sich hochkomplexe und zum Teil neuartige Fragen. Der Nationale Ethikrat sieht die erste und wichtigste Voraussetzung für eine politische Lösung des Konflikts in einer Kultur wechselseitiger Achtung, in deren Geist abweichende Meinungen respektiert und vorgetragene Argumente sachlich geprüft werden. Jeder Seite muss zugestanden werden, dass sie ernsthaft um die Begründung ihrer Positionen bemüht. Diese Achtung erfordert auch, in der Diskussion auf sprachliche Wendungen wie "Biomasse", "Biomaterial", "Kannibalismus" zu verzichten, da sie geeignet sind, den Anderen zu verletzen, herabzusetzen oder bloßzustellen.


18.   Unser Bildungssystem

Die Bioethische Diskussion ist auch eine Herausforderung für unser Bildungssystem. Es muss erreicht werden, dass Sensibilität und Kenntnisse für diese Fragestellung hergestellt werden. Hier gibt es Nachholbedarf. Notwendig hierfür ist eine Entfernung vom disziplinären Denken sowohl der Naturwissenschaftler wie auch der Philosophen und Ethiker. Es ist hierfür ein öffentlicher Diskurs notwendig, der nicht Weltanschauungskriege veranstaltet, sondern argumentativ und differenziert organisiert ist und zu öffentlich begründeten Positionen kommt. Absolute weltanschauliche Vorstellungen mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit sind für diese Art des Diskurses nicht hilfreich.

19.   Alternativen: Der "Ja-Aber" Kompromiss

Der "Ja-Aber" Entschließungsantrag des Bundestages zum Stammzell-Import stärkt die Bürokratie und schwächt die Forschung.

Bei herausragender Bedeutung für die Forschung soll nach Vorstellung dieser Gruppe die Einfuhr unter nach strengeren Auflagen als vom Nationalen Ethikrat empfohlen erlaubt sein.

Diese Regelung über die bereits bestehenden engen Kontrollen und Regelwerke in der deutschen Wissenschaft hinaus, bergen die große Gefahr einer weiteren gefährlichen Einengung der Forschung durch deutsche Überbürokratisierung.

Die 3 – 5 zu erwartenden Anträge in Deutschland zum Import werden das Licht der Forschung nicht oder zu spät erblicken.

Eine strenge wissenschaftskonforme Begutachtung und ethische Beurteilung mit praktikablen Kontrollen und Regeln ist die bessere Alternative.


20.   Ein "Kategorisches Nein" führt Deutschland in die wissenschaftliche Isolation

Der "Kategorisch Nein"-Entschließungsantrag des Bundestages sieht keine Notwendigkeit, Forschung an embryonalen Stammzellen zuzulassen und ist der Meinung, dass Forschung an "ethisch unproblematischen Alternativen" wie die Forschung an adulten Stammzellen ausreicht.

Deutschland wird dann absehbar auf einem vielfältigen Gebiet der Wissenschaft nicht mithalten können und abgekoppelt sein.


21.   Sorgen um die Wissenschaftspolitik

Ich mache mir Sorgen um die Richtung der laufenden Debatte in wissenschaftspolitischer Hinsicht. Keiner bezweifelt die grundsätzliche Bedeutung der derzeitigen bioethischen Diskussion, insbesondere auch, was grundlegende Fragen unseres Bildes vom Menschen betrifft. Diese Diskussionen, kontrovers und auf hohem Niveau geführt, sind uneingeschränkt begrüßenswert.

Es wird aber mit Sicherheit keine für alle akzeptable definitiven Antworten geben. Alles was wir erreichen können, ist zunächst ein minimaler Konsens (Overlapping consensus), der durch die fortgeführte Diskussion weiterentwickelt wird.

Die Wissenschaftspolitik muss pragmatisch vorgehen und einen Kompromiss finden.

Wissenschaftspolitisch geht es darum, bei der jetzt notwendigen Entscheidung für einen Kreis von 3 – 5 Arbeitsgruppen, die an sehr etablierten Institutionen arbeiten, die Möglichkeit einzuräumen, an einem internationalen Projekt wissenschaftlich und intellektuell teilzunehmen und Erfahrungen zu sammeln, die wiederum die Diskussion im Lande fachlich und wissenschaftlich mit eigener Erfahrung anreichern würden.
Wissenschaft lässt sich nicht in nationalen Grenzen regulieren – Ideen halten sich nicht an Zollschranken.

In fast allen großen Wissenschaftsnationen ist oder wird Forschung an ES-Zellen möglich. Eine Isolation können wir nicht begründen.


22.   Auf dem Weg zu einem Europäischen Konsens

Es schält sich ein europäischer Konsens heraus mit einem Kompromiss zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission:

  1. Stammzellforschung kann aus europäischen Geldern finanziert werden, trotz der unterschiedlichen Haltung der Mitgliedsstaaten.
     
  2. Forschung an adulten Stammzellen hat Vorrang.
     
  3. Die Forschung bleibt auf überzählige Embryonen und auf die Zeit bis zum 14. Entwicklungstag beschränkt.
     
  4. Die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken bleibt verboten.
     
  5. Das reproduktive Klonen ist tabu. Hier wird der deutsch-französischen Initiative zum weltweiten Verbot gefolgt.