Hoffen, Handeln - und Leiden. Zum christlichen Verständnis des Menschen aus theologischer Sicht

Eberhard Jüngel

Anläßlich des Bioethik-Kongresses in Berlin

Prof. Dr. Eberhard Jüngel DD / Universität Tübingen


"Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt" lautet der erste Satz in Péter Esterházys neuestem Roman Harmonia Caelestis. (1) Doch anderen Menschen Irrtum, Lüge und Schlimmeres noch vorzuwerfen, das fällt offensichtlich um so leichter, je weniger man die Wahrheit kennt. Auch in der jüngsten bioethischen Diskussion über Probleme des entstehenden und vergehenden Menschenlebens kann man dergleichen erfahren. Dem entgegenzuwirken, ist der Sinn dieser Veranstaltung.

Die folgenden Ausführungen werden allerdings  nicht mitteilen, was man machen kann und darf und was man, auch wenn man es könnte, schlechterdings nicht machen darf. Sie vollziehen vielmehr einen Schritt zurück aus der ethischen Problematik und fragen nach dem Sein des Menschen, um vom christlichen Verständnis des menschliches Seins aus dann auf den Menschen als handelndes, hoffendes und leidendes Wesen einzugehen. Ich habe das Folgende in sechs Abschnitte gegliedert, deren jeder in einer These zusammengefaßt wird. Die Thesen haben Sie schriftlich vor sich zu liegen. Doch nicht alles, was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Die Ihnen in die Hand gegebenen Sätze sind jedenfalls keine Endpunkte theologischer Reflexion, sondern eher so etwas wie Wegemarken auf einem Denkweg, der weitergegangen zu werden verlangt und der im Gehen überhaupt erst gebahnt wird.

Sie werden von mir also kein ethisches statement - kein Plädoyer pro oder contra - zu hören bekommen, das im Blick auf die durch die hochkomplexen Probleme der Bioethik aufgeworfenen Fragen einfache Antworten liefert. Die folgenden Ausführungen wollen nachdenklich machen - mehr nicht. Und sie wollen in einer Weise nachdenklich machen, die Sie, meine Damen und Herren, dazu ermutigen möchte, sich unter Beachtung einer genuinen theologischen Fragestellung ihres eigenen Verstandes zu bedienen: sapere aude!

Zu diesem sapere aude gehört allerdings, daß man der Aufforderung Jesu gerecht wird, in allen ponderablen Fällen entweder Ja, Ja oder aber Nein, Nein zu sagen (Mt 5,37). Sich z.B. für die Forschung an importierten embryonalen Stammzellen auszusprechen, zugleich aber das Verbot der Herstellung embryonaler Stammzellenlinien im eigenen Land zu fordern - das will mir weder logisch noch ethisch einleuchten. Hier gilt: entweder Ja, Ja oder aber Nein, Nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.

Das heißt nicht, daß die zu treffende Entscheidungen immer solche auf Dauer sein müssen. Man kann auch befristet Ja oder Nein sagen. Der Bundestag kann z.B. den Import von embryonalen Stammzellen durchaus befristet freigeben oder befristet verbieten. Denn neue Erkenntnisse können auch neue Gefahren oder neue Chancen sichtbar machen, die eine Revision der getroffenen Entscheidung nahelegen. Insofern dürfte auch dies zum Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, gehören, daß man sich eingesteht: auch das Denken braucht seine Zeit. Bei so schwierigen Entscheidungen, wie sie die bioethische Diskussion uns abverlangt, wäre hastiges Denken die schlechteste Weise des Denkens.

Wir brauchen Zeit, um auch nur die richtigen Unterscheidungen zu treffen, ohne die die Entscheidungen schief werden oder gänzlich in die Irre zu gehen drohen. Ein relativ harmloses Beispiel: es gibt ethisch unvertretbare Wünsche. Doch die Kritik dieser Wünsche darf nicht identifiziert werden mit der Kritik an der Forschung, die die Realisierung dieser zu kritisierenden Wünsche möglich macht. Ein weiteres Beispiel: es ist verwerflich, wenn man die Forschung an embryonalen Stammzellen mit der Vernichtung des angeblich "lebensunwerten Lebens" in Hitlerdeutschland  analogisiert. Richtig zu unterscheiden ist nach Martin Luther die höchste Kunst der menschlichen Vernunft. Zur Aufgabe, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, gehört deshalb die Selbstverpflichtung zu sauberen Unterscheidungen und zu differenziertem Denken.

Schließlich gehört zum Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, auch dies, daß sich jeder auch immer die Aporien eingesteht, die die von ihm vertretene Position impliziert. Die Weigerung, die der eigenen Position impliziten Aporien wahrzunehmen und einzugestehen,  führt zu einem moralischen Fanatismus. Das Eingeständnis solcher Aporien könnte hingegen  dazu führen, den Sinn für die risikoärmste Entscheidung zu schärfen. 
    
Doch nun zu der mir übertragenen Aufgabe, das christliche Verständnis des Menschseins darzulegen!

Der erste weithin formale Abschnitt gilt der genuin theologischen Fragestellung, in der nach dem Menschen gefragt wird. Und er gilt zugleich dem aus dieser Fragestellung resultierenden modus loquendi, den die theologische Rede vom Menschen verlangt. Die dann folgenden Abschnitte sind stärker inhaltlich orientiert, ohne doch die formale Grundstruktur der Bestimmung des Menschseins aus dem Blick zu verlieren. Die Formalität wird vielmehr ganz von selbst materialen, inhaltlichen Charakter annehmen.

 

1.

Was ist der Mensch? Das christliche Verständnis des Menschen ist von den biblischen Texten geleitet.

a) Das gilt bereits für die Fragestellung. Denn die christliche Rede vom Menschen muß sich durchgehend, sie muß sich in allen ihren Sätzen, also auch bereits in ihren Fragesätzen, daran orientieren, daß Gott selber als ein Mensch zur Welt gekommen ist, um mit den Menschen zusammen zu sein und ihnen zugleich ein gelingendes Zusammensein untereinander zu ermöglichen. Was immer über das Sein des Menschen inhaltlich auszusagen ist: seine Grundbestimmung ist die des Zusammenseins, so daß Menschsein auf jeden Fall die Struktur des Zusammenseins mit ... hat. Ein auf sich selbst reduzierter Mensch wäre nichts anderes als - eine Leiche.

Diese Einsicht bestimmt wohlgemerkt bereits die Fragestellung, mit der in der Bibel nach dem Menschen gefragt wird. Da fällt sofort eine gewisse Umständlichkeit auf, die darin besteht, daß mit dem Sein des Menschen zugleich immer auch eine Grundsituation menschlicher Existenz zur Sprache kommt. Das Sein des Menschen wird im Blick auf eine Beziehung, eine Relation erfragt: was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkst, und was ist des Menschen Kind, daß Du Dich seiner annimmst? (Ps. 8,5; vgl. Ps 144,3). Der Mensch ist nach biblischem Urteil offenkundig ein Beziehungswesen, das immer schon auf anderes Sein bezogen und nur in solchen Relationen es selbst ist. (2) Martin Luther hat deshalb zu Recht behauptet, daß vom Menschen angemessen nur in praedicamento relationis (und nicht in praedicamento substantiae) geredet werden könne. (3)

b) Diese zunächst ganz formale Entscheidung hat weitreichende Folgen. So stellt sich zum Beispiel die Frage nach dem Status des menschlichen Embryos sehr anders, wenn man dessen Dasein in praedicamento relationis und nicht in praedicamento substantiae zu bestimmen versucht. Die Tübinger Nobelpreisträgerin Frau Nüsslein-Vollhard hat auf die naturwissenschaftliche Relevanz dieser Einsicht mehrfach aufmerksam gemacht. Die befruchtete menschliche Eizelle bedarf der Mutter, um sich zu einem Menschen entwickeln zu können. Schon deshalb halte ich die Behauptung, das menschliche Leben sei vom Zeitpunkt der Befruchtung an "ein embryonaler Mensch" für höchst problematisch. Jeder in dieser Welt existierende Mensch war zweifellos einmal eine befruchtete Eizelle. Aber nicht jede befruchtete menschliche Eizelle - in England spricht man im Blick auf die Zeit vor der Schwangerschaft sogar von einem praeembryonalen Status - wird ein Mensch.
  
Bleibt die Zygote in vitro, so geht sie unweigerlich zugrunde. Man darf sie nicht mit einem Vogelei oder einem Pflanzensamen verwechseln, die nur Wärme und im Falle der Pflanze Erde, Feuchtigkeit und Minerale brauchen, um sich zum vollständigen Individuum auszuwachsen. Beim Menschen muß sich der Keimling in die Gebärmutter einnisten und über die Plazenta mit dem Mutterleib verbinden. Bekannt ist, daß neben Nähr- und Abwehrstoffen auch weitere Fremdsubstanzen über das Blut der Mutter den werdenden Menschen erreichen. Es ist gut denkbar, daß auch psychische, vielleicht sogar charakterbildende Einflüsse in dieser vorgeburtlichen Mutter-Kind-Beziehung wirksam werden. Jedenfalls wird erst nach Wochen engster Wechselwirkung mit dem mütterlichen Organismus ein überlebensfähiger Mensch geboren.

Das legt es nahe, zwischen menschlichem Leben und dem Leben eines werdenden Menschen kategorial zu unterscheiden. (4)

c) An der biblischen Fragestellung ist noch ein zweiter Gesichtspunkt von Bedeutung. Die Frage nach dem Menschen hat hier dialogischen Charakter. Sie ist die Frage eines Gesprächs, und zwar gerade nicht die eines Selbstgesprächs. Es wird vielmehr ein Du gefragt, zu dem der Fragende bereits ein konkretes Verhältnis hat.

Die Frage ist hier also nicht ein Erstes. Sie ist Rück-Frage und setzt als solche bereits viel voraus. Vergleicht man diese Fragestellung zum Beispiel mit der für den neuzeitlichen Menschen kennzeichnenden Fragestellung Immanuel Kants, so fällt auf, daß die berühmten vier Fragen Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? im Modell eines Selbstgespräches mit dem Ziel einer Selbstverständigung formuliert worden sind: Ich verständige mich mit mir über mich. Das transzendentalphilosophisch begriffene Ich verständigt sich mit sich selbst über sich selbst. Wollte man die biblische Fragestellung in die des Kantischen Selbstgespräches übersetzen, dann müßte man fragen: Wer, wenn ich schreie, hört mich denn? Wer ist verläßlich? Auf wen kann ich hoffen? Wem kann ich glauben? Doch wer so fragt, ist schon nicht mehr nur bei sich selbst. Das so fragende Ich ist bereits über sich selbst hinaus auf den anderen hin orientiert, den es danach befragt, was das denn eigentlich ist: der Mensch ...

Was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkst? Die so gestellte Frage enthält bereits eine entscheidende Antwort, nämlich: das ist der Mensch, daß Du, Gott, seiner gedenkst.

These 1: Das christliche Verständnis des Menschen verdankt sich den uns auf Gott ansprechenden biblischen Texten und begreift das Sein des Menschen deshalb schon in der Fragestellung als relationales Sein (in praedicamento relationis). Ein auf sich selbst reduzierter Mensch wäre nichts anderes als - eine Leiche. Die biblische Gestalt der Frage nach dem Menschen hat dialogischen Charakter und verweist den nach seinem eigenen Sein fragenden Menschen auf den, der sich seiner annimmt: Gott. Daß Gott in der Person Jesu von Nazareth als Mensch zur Welt gekommen ist, läßt erkennen, daß der Mensch zum Zusammensein mit Gott und zu einem gelingenden Zusammensein mit seinen Mitmenschen bestimmt ist: Sein heißt Zusammensein, Leben heißt Zusammenleben.

2.

a) Die relationale Verfaßtheit des menschlichen Ich baut sich aus mehreren Grundrelationen auf, die den Menschen zu einem ausgesprochen beziehungsreichen Wesen machen. Zu diesen Grundrelationen gehört (1.) die Beziehung des Menschen zu sich selbst, (2.) die Beziehung des Menschen zu seiner sozialen Umwelt, (3.) die Beziehung des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt und (4.) die Beziehung des Menschen zu seinem Gott. Alle diese Beziehungen aber verdanken sich ihrerseits der Beziehung Gottes zum Menschen, die sich wiederum dreifach bestimmen läßt, nämlich (1.) als schöpferische Beziehung, (2.) als rettende Beziehung und (3.) als vollendende Beziehung.

b) Daß Gott dem Menschen nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Retter und als Vollender begegnet, das hat seinen Grund in der selbstverschuldeten Situation der Beziehungslosigkeit oder Sünde, die der Mensch immer dann über sich heraufbeschwört, wenn er eine der fundamentalen Grundrelationen rücksichtslos, das heißt auf Kosten der anderen Grundrelationen verwirklicht.

So führt die rücksichtslose Selbstverwirklichung des Menschen dazu, daß für das Ich alles andere Sein nur noch als Mittel zum Zweck in Betracht kommt. Nun wird der andere Mensch, statt als Ebenbild Gottes um seiner selbst willen interessant zu sein, zum bloßen Mittel zur Durchsetzung meiner eigenen Interessen und Zwecke. Nun wird das Du zum Es. Und auch die Ich-Es-Beziehung, die das Verhältnis zur natürlichen Umwelt ausmacht, schrumpft derart, daß sich die nichtmenschliche Kreatur unter den Händen des Menschen zum bloßen Material verwandelt. Nichts ist mehr als es selbst von Bedeutung. Von Bedeutung ist nur, was man damit machen oder daraus machen kann. Und das Sein des Menschen selbst reduziert sich in seinem Verhältnis zu seiner natürlichen Umwelt auf das Sein eines Machers. Ja, auch die Gottesbeziehung wird der eigenen Selbstverwirklichung rücksichtslos untergeordnet, so daß man Gott für seine eigenen Zwecke instrumentalisiert und "alles Göttliche dienstbar" wird: "alle Himmelskräfte werden verbraucht". (5)

Doch nicht nur das eigene Selbstverhältnis, auch das Gottesverhältnis kann so rücksichtslos verwirklicht werden, daß die anderen fundamentalen Lebensbeziehungen sozusagen "gekippt" werden. Religiöser Fanatismus erzeugt dann sowohl in seiner individuellen wie in seiner kollektiven Gestalt eine alle anderen Grundbeziehungen des Menschseins terrorisierende "Gottesvergiftung". Wir haben die terroristischen Konsequenzen solcher Gottesvergiftung gerade erlebt.

In allen solchen selbstverschuldeten elementaren Rücksichtslosigkeiten tritt an die Stelle des ursprünglichen Beziehungsreichtums des menschlichen Seins eine wachsende Beziehungslosigkeit. Die Theologie nennt diesen selbstverschuldeten Drang in die Beziehungslosigkeit Tatsünde  und den aus diesem Drang hervorgehenden Zwang zum Drang in die Beziehungslosigkeit Erbsünde.  Und weil mit den Lebensbeziehungen auch das Leben selber stirbt, sieht sie überall da, wo Beziehungen zerbrechen und die Beziehungslosigkeit wächst, den Tod am Werk. Denn der Tod ist der Eintritt vollkommener Beziehungslosigkeit.

c) Das christliche Verständnis des Menschen kann nicht davon abstrahieren, daß der Mensch sich schon immer in der Situation solcher selbstverschuldeten wachsenden Beziehungslosigkeit befindet und also als Sünder existiert. Es kann aber schon gar nicht davon abstrahieren, daß sich Gott auch dem sündigen Menschen erneut schöpferisch zuwendet, nunmehr freilich sein schöpferisches Verhalten steigernd zu einem den Menschen aus seiner selbstverschuldeten tödlichen Beziehungslosigkeit rettenden Handeln, das den Menschen zu einem Wesen des Friedens macht: des Friedens, der nach biblischem Verständnis darin besteht, daß alle fundamentalen Lebensbeziehungen, statt gegeneinander zu streiten, ihrerseits im Verhältnis größtmöglicher gegenseitiger Begünstigung stehen.

These 2: Das christliche Verständnis des Menschen begreift diesen als ein beziehungsreiches Wesen, dessen Beziehungsreichtum sich aufbaut aus der Beziehung des menschlichen Ich (1.) zu sich selbst, (2.) zu seiner sozialen Umwelt (Mitmenschen), (3.) zu seiner natürlichen Umwelt und (4.) zu Gott. Alle diese menschlichen Grundrelationen verdanken sich der schöpferischen, rettenden und alle seine Werke vollendenden Beziehung Gottes zum Menschen, der jedoch den ihn auszeichnenden Beziehungsreichtum, in dem er dem ewigreichen Gott entspricht, selber immer schon - durch die rücksichtslose Verwirklichung einer der fundamentalen Lebensbeziehungen auf Kosten der anderen Lebensbeziehungen - zu zerstören im Begriffe ist und insofern in eine selbstverschuldete Beziehungslosigkeit gerät, d.h. als Sünder existiert. Doch stärker als der Menschen Sünde ist Gottes Gnade (Röm 5,20b), die jenen Frieden ermöglicht, in dem alle fundamentalen Lebensbeziehungen zueinander im Verhältnis größtmöglicher gegenseitiger Begünstigung stehen.


3.

a) Für das christliche Verständnis des Menschen ist der Glaube an Gott den Schöpfer wesentlich. Im Glauben an den Schöpfer erfährt sich der Mensch als ein Geschöpf unter Geschöpfen (und insofern in einer fundamentalen Solidarität mit aller Kreatur), zugleich aber als das zur Gottebenbildlichkeit erschaffene Geschöpf, das Gottes schöpferisches Handeln als göttliche Wohltat zu erkennen und zu rühmen bestimmt ist.

Schöpfung ist dabei nicht nur als initialer göttlicher Produktionsakt "in principio", sondern als ein auch die eigene Gegenwart bestimmendes göttliches Handeln zu begreifen, durch das der Mensch als ein vom Schöpfer bejahtes Geschöpf ins Sein tritt.

Geschaffensein bedeutet also mehr als nur produziert, mehr als nur gemacht worden zu sein. Der Mensch ist mehr als das Machwerk einer willkürlichen göttlichen Produktivkraft. Er ist vielmehr in seinem geschöpflichen Anderssein gegenüber dem Schöpfer von diesem unwiderruflich bejaht und dadurch zur Selbstbejahung legitimiert. Sich selbst bejahen heißt aber, die Freiheit zu haben, mit sich und seiner Welt etwas anzufangen. In dieser Freiheit des Anfangen-Könnens ist der Mensch das Ebenbild des göttlichen Schöpfers.

b) Diese Einsicht bestimmt das christliche Verständnis der Personalität des Menschen. Auch der Personbegriff ist - wie das ja bereits dessen trinitarische Verwendung nahelegt - streng in praedicamento relationis zu denken, so daß es sich im theologischen Urteil um einen defizienten Begriff von Person handelt, wenn diese in der Tradition John Lockes (6) als ein rationales und selbstbewußtes Wesen verstanden wird, das über den jeweiligen Augenblick des Ich denke hinaus Vergangenheit und Zukunft hat und deshalb Wünsche und Ängste hinsichtlich der eigenen Zukunft haben kann. (7) Eine Person sein heißt vielmehr von Anderen her und auf Andere hin existieren und in solcher Ek-sistenz a aliis und ad alios bejaht und anerkannt sein.

c) Bejahung und Anerkennung durch menschliche Personen ist freilich revozierbar. Insofern könnte eine Person von anderen Menschen zur Unperson gemacht werden. Doch dem steht entgegen, daß der Mensch - egal, ob er darum weiß oder nicht - von seinem Schöpfer unwiderruflich bejaht und anerkannt ist. Das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders bestätigt diese Einsicht, insofern es dem Menschen sogar bestreitet, sich selber zur Unperson machen zu können. Denn so wie ich mich selber nicht zu der Person machen kann, die ich bin, so kann ich mein Personsein auch nicht zerstören. Das ist der tiefe Sinn der These Luthers, daß nicht meine Taten mein Personsein konstituieren: opus non facit personam, sed persona facit opus. (8) Daß der Mensch primär von seinem Schöpfer her und als von diesem unwiderruflich bejahtes und anerkanntes Geschöpf existiert, welches dieses sein Bejaht- und Anerkanntsein in seinem Verhältnis zu sich selber nachzuvollziehen das Recht hat - das macht das Personsein des Menschen aus. Als Person finde ich meine Identität folglich nicht bei mir selbst. Als Person komme ich nur bei einem anderen zu mir selbst.

Diesen für meine Identität wesentlichen Externitätsbezug der Person hat Luther geradezu klassisch formuliert, als er schrieb: "... eyn Christen mensch lebt nit ynn yhm selb, sondern ynn Christo und seynem nehstenn, ynn Christo durch den glauben, ym nehsten durch die liebe: durch den glauben feret er uber sich yn gott, auß gott feret er widder unter sich durch die liebe, und bleybt doch ymmer ynn gott und gottlicher liebe ..." (9) 

These 3: Das christliche Verständnis des Menschen begreift diesen als eine durch Gottes schöpferisches Handeln konstituierte und dabei zugleich unwiderruflich bejahte und anerkannte Person, die ihr Bejahtsein im Verhältnis des Ich zu sich selbst nachvollziehen darf und soll, in solcher Selbstbejahung aber auch den Externitätsbezug ihres Personseins bejaht: Ich komme nur bei einem anderen zu mir selbst. Weil der Mensch in seinem Bejaht- und Anerkanntsein durch Gott Person ist, kann ihn niemand, kann er auch selbst sich nicht zur Unperson machen. Der Mensch bleibt auch als Sünder Person und als Person zur Gottebenbildlichkeit, d.h. zu der Freiheit bestimmt, mit sich und seiner Welt etwas anzufangen.

4.

Für den Lebensvollzug des Menschen folgt aus der Einsicht, daß der Mensch sich selber nicht zu der Person, die er ist, machen kann und auch nicht zu machen braucht, der Vorrang des menschlichen Seins vor dem Machen, Handeln, Wirken des Menschen.

a) Wird die menschliche Person durch das schöpferische Handeln Gottes konstituiert, dann ist die menschliche Person, bevor sie irgend etwas - für sich oder für andere - tun kann, ein unbedingter Selbstwert. Und das heißt: sie hat Würde. Sie hat eine Würde, die nicht erst durch ihr eigenes Handeln konstituiert wird. Deshalb darf das Leben des Menschen niemals kommerziell zur Verhandlung stehen. (10) Und deshalb ist unser Umgang mit dem ganz jungen Menschen, der noch gar nichts für sich tun kann, und mit dem alten Menschen, der kaum noch etwas oder gar nichts mehr für sich tun kann, geradezu das Kriterium für die Menschlichkeit unserer Gesellschaft. Doch dasselbe gilt auch für den Umgang mit jenen Menschen, deren Untaten sie hinter Schloß und Riegel gebracht haben: werden sie dort nur als die Summe ihrer Untaten wahrgenommen und also zu Unpersonen gemacht, oder bleiben sie auch hinter Gefängnismauern von ihren Taten und Untaten unterscheidbare Personen?

b) Seine Institutionalisierung hat der Primat des Seins vor dem Handeln im jüdischen Sabbat und im christlichen Sonntag gefunden - also in jenem Tag, an dem der Mensch nicht gefordert und schon gar nicht überfordert wird, sondern sich dessen freuen kann, daß er überhaupt ist und nicht vielmehr nicht ist.

Zum menschlichen Lebensvollzug gehört folglich zuerst und vor allem eine kreative Passivität, in der ich dessen inne werde, daß ich mich selber empfange, daß ich ein mit mir selbst Begabter bin. In solcher kreativen Passivität verifiziert der Mensch, daß er ein Geschöpf, ja daß er ein von Gott geliebtes Geschöpf ist. Das ist der souveräne Indikativ der Gnade, der allen Imperativen, die uns zum Handeln herausfordern, vorausgeht.

c) Aus diesem souveränen Indikativ kreativer Passivität geht dann allerdings das menschliche Handeln und der uns fordernde Imperativ unmittelbar hervor. Denn der Mensch soll mit sich selbst und mit seiner Welt etwas anfangen. Er soll sich selber bilden und seine Welt durch seine eigene Arbeit gestalten. Die Welt fordert ihn heraus. Ja, der Mensch soll sogar über die Welt herrschen. Herrschaft kann hier allerdings keinesfalls unbeherrschtes Herrschen bedeuten. Das christliche Verständnis des Menschen macht es uns vielmehr zur Pflicht, auch das Herrschen beherrschen zu lernen und dann - zu herrschen. Das ist gemeint, wenn die Bibel den Menschen zum dominium terrae ermächtigt.

d) Zum Personsein des Handelnden gehört es, daß er sich seine Handlungen zurechnen lassen muß. Er ist für sein Tun - nicht: für sein Sein! - verantwortlich. Und das ist er nicht nur vor fremden, vor externen Instanzen, sondern das ist er auch vor der internen Instanz des eigenen Gewissens.

Doch das Gewissen kann nur vor und dann wiederum nach der Tat urteilen. Im Akt des Handelns selber ist das Gewissen notwendig suspendiert. Wollte es während des Handelns selber mitreden, dann würde es das Handeln unmöglich machen. Deshalb ist Goethe mit seinem abgründigen Satz im Recht: "Der Handelnde ist immer gewissenlos". (11) Um so wichtiger, daß der Mensch, bevor er zur Tat schreitet, gewissenhaft prüft, was er zu tun gedenkt.

Um so schlimmer, wenn er nach vollbrachter Tat von seinem eigenen Gewissen verurteilt wird. Dann droht er, von seinem eigenen Gewissen verurteilt, zum hoffnungslosen Fall zu werden.

Doch das christliche Verständnis des Menschen kennt keinen hoffnungslosen Fall. Denn es kennt den schuldig gewordenen Menschen als einen gerechtfertigten Sünder, der darauf hoffen darf, daß er eine von seinen eigenen Taten unterscheidbare, eine ihm von Gott her zukommende Zukunft hat. Unsere Taten drohen - schon deshalb, weil sie in der Regel die Bedingungen fortschreiben, unter denen wir angetreten sind - nur Vergangenheit zu verlängern. Sie lassen sich hochrechnen, kumulieren. Sie erzeugen aber keine wirklich neue Zukunft, die nach I. Kant nur aus dem Vermögen entsteht, einen Zustand von selbst anzufangen. Der Christ aber hofft auf den Gott, der die Freiheit hat, einen Zustand von selbst anzufangen. Er hofft sogar im Blick auf das Ende des eigenen Lebens und im Blick auf das Ende der Welt auf einen Gott, der einen neuen Anfang mit uns zu machen vermag. Und hoffend antizipiert er diesen neuen Anfang bereits inmitten der jetzigen Welt, so daß er auch die weltimmanente Möglichkeit zumindest relativ neuer Anfänge kennt. Wir sind zumindest partiell frei, immer wieder mit dem Anfang anzufangen. Diese Freiheit befreit von den Zwängen zur Selbstkumulatur. Sie befreit zur Selbstkorrektur: auch und gerade da, wo der Dogmatismus des Handelns solche Selbstkorrektur zu verbieten scheint. Und zugleich verleiht diese Freiheit dem menschlichen Handeln einen auch über die verzweifeltste Situation hinausreichenden Atem. Wer weiß, daß er bei aller Verantwortung für das Wohl der Welt eines nicht zu verantworten hat: nämlich sein eigenes Sein, der gewinnt eine wohltuende Distanz zu sich selbst: eine Distanz, die dem sich christlich verstehenden Menschen jene Prise Humor gibt, die ihn von den humorlosen Moralisten aller Provenienzen elementar unterscheidet. Gäbe es auch sonst in der Welt nichts zu lachen, der auf Gott hoffende Mensch kann zumindest über sich selber lachen. Nicht zuletzt deshalb fangen die Hoffenden immer wieder zu handeln an.

These 4: Das christliche Verständnis des Menschen kennt diesen als eine von Gott unwiderruflich bejahte und anerkannte Person, der unantastbare Würde zukommt. Weder die Person noch deren Würde wird durch eigenes Handeln konstituiert, das vielmehr aus Ereignissen kreativer Passivität allererst hervorgeht. Seine temporale Institutionalisierung hat dieser Primat des menschlichen Seins vor dem Handeln im jüdischen Sabbat und im christlichen Sonntag gefunden: an ihm wird das Arbeitsleben der Leistungsgesellschaft elementar unterbrochen, um dem Menschen Zeit zum Staunen und zur Freude darüber einzuräumen, daß er überhaupt ist und nicht vielmehr nicht ist und daß er sein eigenes Sein von Gott ständig neu zu empfangen vermag. Für dieses sein Sein ist der Mensch nicht verantwortlich; um so mehr ist er für seine Taten verantwortlich, durch die er sein Personsein weder konstituieren noch verwirken kann. Der Mensch kann weder von anderen Menschen noch von sich selbst zur Unperson gemacht werden. Als gerechtfertigter Sünder bleibt er die von Gott bejahte und anerkannte Person, die mehr ist als die Summe ihrer Taten oder Untaten und die darin Gottes Ebenbild ist, daß sie die schöpferische Freiheit hat, mit sich selbst und der Welt etwas anzufangen. Diese Freiheit setzt den Menschen in eine wohltuende Distanz zu sich selbst, die es ihm erlaubt, über sich selbst zu lachen.

5.

Zum Leben des Menschen gehört auch dies, daß er leidensfähig ist und nur zu oft auch leiden muß. Doch zum christlichen Verständnis des Menschen gehört zugleich das Eingeständnis, daß sich Leiden nicht verstehen läßt.

Man kann es erklären, jedenfalls einigermaßen. Erklären heißt: etwas auf seine Ursachen und Bedingungen zurückführen. In diesem Sinn kann man das Leiden eines Menschen als Wirkung einer zu ermittelnden Ursache z.B. medizinisch oder sozialpsychologisch erklären. Aber die Erklärung macht den Schmerz nicht erträglicher. Erklärter Schmerz hört nicht auf, weh zu tun. Die Klage, der Schmerzschrei bringt vielmehr unüberbietbar zum Ausdruck, daß das Leiden in sich unverständlich ist, daß wir ihm im Grunde verständnislos ausgeliefert sind.

a) Leiden läßt sich wohl deshalb nicht verstehen, weil sich in ihm eine Desozialisation sondersgleichen vollzieht. Das leidende Ich wird auf sich selbst zurückgeworfen. Es ist in einer schwer erreichbaren Weise mit sich selber und nur noch mit sich selber befaßt. Und eben so wird es beziehungslos. Im Leiden erfahren wir auf schmerzhafte Weise denjenigen Identitätsverlust, den wir im Tod dann definitiv erleiden.

Weil wir unser eigenes Nichtsein nicht verstehen können, deshalb können wir auch die sich im Leiden einstellende Erfahrung unserer eigenen Nichtigkeit nicht verstehen. Das Leid auf den Begriff bringen zu wollen hat noch immer zu theoretischen Gewaltsamkeiten geführt, die, statt das Leid zu begreifen, sich am leidenden Menschen vergreifen.

Es gibt für den leidenden Menschen kaum etwas Unerträglicheres als das eilfertige Wort über sein Leiden. Wer hier überhaupt das Wort nehmen zu können meint, muß zuvor gründlich verstummt sein. Als die Freunde Hiobs von dem Leide hörten, das über ihn gekommen war, eilten sie zu ihm "und setzten sich zu ihm auf die Erde sieben Tage und sieben Nächte lang und redeten kein einziges Wort mit ihm; denn sie sahen, daß der Schmerz sehr groß war" (Hiob 2,13).

In solchem Schweigen sammelt sich nun allerdings die Kraft zum Wort, zum protestierenden Wort, zum klagenden Wort, zum tröstenden Wort. Ja, solches Schweigen hat vor allem die Funktion, dem Leidenden selbst dazu zu verhelfen, seine eigene Sprache zu finden, wiederzufinden oder überhaupt erst zu finden. Er muß zu Worte kommen. Er muß sich aussprechen können. Er muß schreien dürfen. Für ihn ist es lebenswichtig, daß er in seinem Leid und mit seinem Leid zur Sprache kommt. Denn redend wehrt er sich gegen die Beziehungslosigkeit des Todes. Mit der Sprache der Leidenden werden neue Beziehungen geknüpft, wird das Leiden aus einer Domäne des Todes zu einer Tiefendimension des Lebens. Sich aussprechend vermag der leidende Mensch in aller Passivität aktiv zu werden und wenigstens so weit aus sich herauszugehen, daß er nicht mehr nur behandelter und zu behandelnder Patient ist. Und je mehr andere im Medium der Sprache zu Mitleidenden werden, gewinnt der Leidende selbst die Chance, ein aktives Verhältnis zu seiner passio zu gewinnen. So und nur so wird der Leidende leidensfähig.

Leidensfähigkeit aber ist ein Kriterium der Lebendigkeit, Leidensunfähigkeit hingegen ein Indiz ersterbenden Lebens: Daß der Mensch leiden kann, ist eine, daß er leiden muß, ist eine andere Sache. Kein verhängnisvollerer Kurzschluß als die Meinung, es müsse das Aufbegehren gegen das Leiden des Menschen sich auch gegen seine Leidensfähigkeit richten!

Wer den Menschen gern leidensunfähig hätte, der müßte ihn auch leidenschaftslos haben wollen: und d.h. als die Abstraktion eines wirklichen Menschen. Eine Art intellektuelles Gespenst. Denn ein weil leidensunfähiger auch leidenschaftsloser Mensch wäre auch keiner Liebe fähig. Leidenschaftslose Liebe ist eine contradictio in adjecto. Aber auch eine Liebe, die nicht leiden kann, wäre ein Selbstwiderspruch. Daß die Liebe leiden kann, macht sie nicht schwach, sondern stark. Ihre Leidensfähigkeit ist die Innenseite ihrer Leidenschaftlichkeit.

b) Die eigentliche Herausforderung, die das menschliche Leiden für den Menschen bedeutet, besteht darin, unterscheiden zu lernen. Leid ist nicht gleich Leid, Schmerz nicht gleich Schmerz. Indem wir unterscheidend, also kritisch auf das Leiden reagieren und, statt jedwedes Leid unterschiedslos hinzunehmen, zwischen Leiden und Leiden differenzieren, werden wir aktiv gegen die passio. Indem wir das Leid der Kunst der Unterscheidung unterwerfen, gewinnen wir dem Meer des unverständlichen Leidens Land ab - Land zum Leben.

Doch was muß hier unterschieden werden? Zu unterscheiden ist zwischen zumutbarem und unzumutbarem Leiden. Die Auffassung, daß Leiden und Schmerzen prinzipiell unzumutbar seien, bedeutet den Verzicht auf die Anstrengung, leidensfähig zu werden, um durch das Ertragen eines zumutbaren Maßes an Leiden nach Möglichkeit ein größeres, ein vielleicht unzumutbares Maß an Leiden zu verhindern. Der Arzt muß seinen Patienten nicht selten Schmerzen zufügen, um nach Möglichkeit ärgere Leiden zu verhindern. Doch was ist zumutbar und was ist unzumutbar? Das Kriterium für die Unterscheidung von zumutbarem und unzumutbarem Leiden kann allerdings immer nur konkret angegeben werden. Man wird da durchaus auch individuell differenzieren müssen. Nicht jeder vermag gleich viel zu leiden. Entscheidend dürfte freilich sein, ob die Zufügung von Schmerzen und Leiden im Blick auf das zu erreichende Ziel vermeidbar oder unvermeidbar ist. Vermeidbare Leiden sind immer dann unzumutbare Leiden, wenn das Ziel, um dessen willen gelitten wird, auch ohne sie mit demselben Erfolg erreicht werden kann.

c) Mit dieser Unterscheidung berührt sich die nicht weniger wichtige Unterscheidung von abwendbarem und unabwendbarem bzw. überwindbarem  und unüberwindbarem Leiden. Wer hier nicht unterscheidet, sondern alles Leid für abwendbar oder zumindest doch für überwindbar hält, betrügt sich selbst. Spätestens der Tod wird ihn eines Besseren belehren. Bedrohlicher als solche Naivität ist jedoch die entgegengesetzte Unterschiedslosigkeit, die alles Leid für unabwendbar und unüberwindbar hält. Sie verführt entweder zu apathischer Ergebenheit oder aber zu apathischer Resignation.

Aus apathischer Ergebenheit oder Resignation kann aber jederzeit der Haß gegen eine Umwelt auflodern, aus der dann unabwendbar und unüberwindbar übel über übel auf mich zuzukommen scheint. Wir erleben immer wieder, daß sich regelrechte Leidenskollektive bilden, die die scheinbare Unabwendbarkeit und Unüberwindbarkeit ihres Elends zuerst apathisch macht: bis die Apathie in aggressivste Gewalttätigkeit umschlägt.

"Macht kaputt, was Euch kaputt macht!" hieß es vor Jahrzehnten. Heute mögen die Parolen anders lauten, ihre Intention ist dieselbe.
Angesichts solcher Erfahrungen muß nicht nur das Individuum, sondern auch die konkrete Gemeinschaft und die jeweilige Gesellschaft die Unterscheidung von abwendbarem bzw. überwindbarem und unabwendbarem bzw. unüberwindbarem Leiden begreifen und vor allem praktizieren lernen.

d) Dazu wird dann auch gehören, daß wir die verschiedenen Dimensionen menschlichen Leidens wahrnehmen und aufeinander beziehen. Es gibt keineswegs nur physisches Leid, in dem das menschliche Ich an seinem eigenen Körper leidet.  Die Seele bleibt nicht unberührt von dem Elend des Leibes. Dasselbe gilt von dem sozialen Leiden, das in vielfachen Gestalten lebendig ist und die desozialisierende Dimension jeder Leidensgeschichte besonders deutlich vor Augen führt. Fehlende Anerkennung, Vereinzelung, Leistungsbesessenheit - das sind nur einige der vielen sozialpathologischen Erscheinungen, die den Menschen keineswegs nur äußerlich affizieren, sondern ihn zutiefst betreffen. Insofern führt jedes wirkliche Leid zu einer Passion der Seele.

Die Seele aber fragt: Warum? Wozu? Und es droht, weil das Leiden schlechterdings sinnlos erscheint, alles sinnlos zu werden. Dann kommt es zu jener "letzten verzweiflungsvollen Frage: Warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?".

e) Die Bibel gibt bezeichnender Weise keine Deutung des menschlichen Leidens; sie gibt dem Leiden keinen Sinn. Die bemerkenswerte und wohl auch beherzigenswerte Parole des großen griechischen Tragödiendichters Aischylos (gr. Patei matos) , durch Leiden lernen, liegt ihr fern. Die Bibel gibt aber auch keine Rechtfertigung für das Leiden. Wohl aber wird vom Leiden Christi, von seiner Passionsgeschichte her die menschliche Einstellung zum Leiden neu bestimmt. Dies geschieht auf sehr unterschiedliche,  ja scheinbar gegensätzliche Weise. (12)

Einerseits leben die Glaubenden in der "Gemeinschaft der Leiden" Christi (Phil 3,10), so daß sie auch "Teilhaber", bzw. "Gesellschafter der Leiden" (2Kor 1,7) heißen können. Wo die Lebensbeziehungen abzubrechen drohen, setzt der Glaube der Verhältnislosigkeit und Desozialisation des Leidens sensibelste Gemeinschaft entgegen.

Andererseits wird den Glaubenden eine kompromißlose Gegnerschaft gegen das menschliche Elend zugemutet. Wie der charismatische Arzt Jesus, so sollen auch seine Jünger den Leiden erzeugenden Mächten aktiven Widerstand entgegensetzen. Er selbst "gab ihnen Macht über die unsauberen - d.h. Übles wirkenden - Geister, daß sie diese austrieben und heilten allerlei Seuche und allerlei Krankheit" (Mt 10,1). Von daher erscheint es abwegig, dem Menschen ein Recht auf Gesundheit abzusprechen.

Diese scheinbare Paradoxie, die die christliche Einstellung zum Leiden kennzeichnet, ist in Wahrheit die einzig sachgemäße, dem Phänomen des Leidens gerecht werdende Einstellung. Sie setzt an die Stelle des maßlosen Anspruches, die dunkle Faktizität, daß Menschen leiden müssen, verstehen zu können, die Notwendigkeit, im Blick auf das Leiden neu zu unterscheiden: zwischen dem Elend, das es - wohl selten nur tapfer, oft hingegen seufzend, schreiend und endlich verstummend - zu ertragen gilt, und dem Elend, das es zu bekämpfen gilt mit Gedanken, Worten und Werken.

Die beiden gegensätzlichen Einstellungen zum menschlichen Leiden haben gleichwohl einen gemeinsamen Grundzug. Sowohl die Bereitschaft, in der Gemeinschaft der Leiden Christi (Phil 3,10) zu leben, als auch der kompromißlose Widerstand gegen die verderbenbringenden Mächte setzen ein Höchstmaß an Sensibilität für den leidenden Menschen voraus. Der christliche Glaube macht - oft bis an die Grenze des Erträglichen - sensibel für die Leidensgeschichten, die Menschen erdulden müssen.

Wer indessen in der Passion Jesu Christi Gott als den erkennt, der selber für den Menschen gelitten hat, der glaubt eben damit, daß jeder Mensch ein von Gott gelittener, ein wohl gelittener Mensch ist. Ist das anthropologisch wahr, dann ist es kategorische Pflicht, dafür zu sorgen, daß der leidende Mitmensch auch unter uns als ein gelittener und wohl gelittener Mensch leben und sterben kann.

These 5: Zum christlichen Verständnis des Menschen gehört das Eingeständnis, daß sich Leiden nicht verstehen läßt, denn im Leiden erfahren wir auf schmerzhafte Weise denjenigen Identitätsverlust, den wir im Tod definitiv erleiden. Angesichts des Leidens ist der Mensch herausgefordert, zu unterscheiden zwischen zumutbarem und unzumutbarem Leiden, zwischen abwendbarem und unabwendbarem Leiden und zwischen verschiedenen Dimensionen des Leidens. Der Glaube an Jesus Christus und sein stellvertretendes Leiden provoziert dabei eine scheinbar paradoxe Einstellung gegenüber dem Leiden: einerseits leben die Glaubenden in der Gemeinschaft der Leiden Christi, andererseits sind sie zur kompromißlosen Gegnerschaft gegen das Leiden aufgerufen. Die christliche Einstellung zum Leiden leitet dazu an, im Blick auf das Leiden Christi immer neu zu unterscheiden zwischen dem Elend, das es zu ertragen, und dem Elend, das es zu bekämpfen gilt. Die Passionsgeschichte Christi stärkt die Sensibilität für alle menschlichen Leidensgeschichten.

6.

Das christliche Verständnis des Menschen ist am leidenden und getöteten Jesus von Nazareth orientiert und behauptet auch und gerade im Blick auf den durch die Kreuzigung entsetzlich entstellten Christus, daß sich in ihm die Würde des Menschen manifestiert.

Gabriel Marcel hat wohl aus ähnlichen Erwägungen heraus die Behauptung aufgestellt, daß die Manifestation der Würde - wenn es denn so etwas wie eine Manifestation der Menschenwürde überhaupt gibt - am ehesten "im Bereich der Schwäche zu suchen ist" (13). Das - keineswegs geringe - Wahrheitsmoment dieser Behauptung besteht darin, daß auch und gerade der Mensch in seiner Schwäche eine von Gott definitiv anerkannte Person ist und also Würde hat.

Aus juristischer Perspektive hat diesen Gesichtspunkt der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichtes E. Benda deutlich zur Geltung gebracht und wiederholt darauf hingewiesen, daß die Bedeutung der Menschenwürde sich gerade dann am deutlichsten zeigt, wenn man nicht von der Vollkommenheit des Menschen, sondern von seiner Unvollkommenheit ausgeht. „Was Menschenwürde wirklich bedeutet, zeigt sich ... in den Strafanstalten, den Häusern der Psychiatrie, den Asylanten- und Obdachlosenherbergen und in den Pflegeheimen.“ (14)

Insofern führt uns der leidende Mensch auf die heute so kontrovers beschworene Würde des Menschen zurück, die nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland unantastbar ist.

a) Die bisherigen Erörterungen legen es nahe daß auch der Begriff der Menschenwürde in praedicamento relationis zur Geltung gebracht werden muß. Es geht um die Würde des Menschen, die im derzeitigen bioethischen Diskurs sowohl im Blick auf die Problematik des werdenden Menschenwesens als auch im Blick auf die Problematik seines irdischen Endes ins Spiel gebracht wird.

Dabei fällt nun allerdings auf, daß sich die Thematisierung der Unantastbarkeit der Menschenwürde in der Regel durchweg auf die Frage beschränkt, von wann ab dem werdenden Leben der Charakter eines menschlichen Lebens und dem menschlichen Leben der Charakter eines Menschenwesens zukommt, das Würde hat, die unantastbar ist. Die Einseitigkeit wiederholt sich im Blick auf das Lebensende, insofern es auch dort nur um die Frage geht, ob und wie es dem mit seinem Tod unmittelbar konfrontierten Menschen ermöglicht werden kann, „in Würde“ zu sterben. Daß auch der werdende und der sterbende Mensch in seinem Menschsein durch fundamentale Beziehungen konstituiert wird, daß er als Mensch genauso wie der Gott, zu dessen Ebenbild er geschaffen ist, nur als Beziehungswesen zu begreifen ist, kommt dabei überhaupt nicht in den Blick. Daß bei allen Entscheidungen über Embryonen und das, was aus ihnen wird, und daß bei allen Entscheidungen, die im Zusammenhang des Sterbens eines Menschen möglich oder gar notwendig sind - daß bei allen solchen Entscheidungen auch die Würde der entscheidenden Personen involviert ist, das bleibt in der Regel völlig unbedacht. Doch wer den sterbenden Menschen in einer dessen Würde mißachtenden Weise daran hindert, den Tod zu finden, mißachtet damit zugleich seine eigene Würde. Wie müßte ein entsprechender Satz im Blick auf die Notwendigkeit, den Anfang des menschlichen Lebens vom Leben eines werdenden Menschen zu unterscheiden, lauten? Dieser Kongreß muß sich dieser Frage stellen.

b)  Wenn, wie die Christen glauben, die Erlösung der Menschen durch eine Person geschah, die am Kreuz exekutiert wurde, dann ist es gerade das entstellte Antlitz des Gekreuzigten, das für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen gutsteht. Dann ist die Menschenwürde auch und gerade da unantastbar präsent, wo man sie mit Füßen tritt. Und es ist dann evident, daß die Menschenwürde von einer weltlichen Instanz weder verliehen noch entzogen werden kann. Sie ist eine unserem eigenen Zugriff entzogene Attribution göttlicher Gnade und eben deshalb in jedem - also auch im erniedrigten und entstellten - Menschen achtungsgebietend präsent. Gott sei Dank!

These 6: Das christliche Verständnis des Menschen begreift auch die Würde des Menschen in praedicamento relationis, so daß bei jeder Entscheidung über das beginnende und über das zu Ende gehende Leben eines Menschen mit dessen Würde auch die Würde der entscheidenden Personen thematisch ist. Würde hat und behält der Mensch allerdings auch dann, wenn man sie ihm zu nehmen versucht. Der christliche Glaube behauptet im Blick auf den durch die Kreuzigung entstellten Christus, daß sich auch und gerade in ihm die Würde des Menschen manifestiert. Dann ist die Menschenwürde auch und gerade da unantastbar präsent, wo man sie mit Füßen tritt. Denn sie ist eine unserem eigenen Zugriff zu unserem Besten entzogene Attribution göttlicher Gnade und eben deshalb in jedem - also auch im erniedrigten und entstellten - Menschen achtungsgebietend präsent.

Fußnoten:

  1. P. Esterházy, Harmonia Caelestis. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora, 2001, 7.
  2. Vgl. Hiob 7,17: was ist (schon der) Mensch, daß Du ihn groß achtest und daß Du Deinen Sinn auf ihn richtest (Dich um ihn kümmerst)?
  3. M. Luther, Tischrede Nr. 5292, WA TR 5, 47, 13f.; WA 42, 635, 18f.
  4. Vgl. J. Fischer, Vom Etwas zum Jemand. Warum Embryonenforschung mit dem christlichen Menschenbild vereinbar ist. In: Zeitzeichen. Ev. Kommentare zu Religion und Gesellschaft, 3. Jg. Januar 2002, 11-13, dort 12f.: "Der Begriff des werdenden Menschen enthält den Gedanken einer sich vollziehenden Entwicklung hin zum existierenden Menschen. Wir verbinden gleichsam vom vorweggenommenen Ende dieser Entwicklung her mit dem 'etwas' des Embryos den an diesem selbst nicht aufweisbaren 'jemand', der im Verlauf der Schwangerschaft und dann mit der Geburt als Person innerhalb der Gemeinschaft existierender Personen in Erscheinung treten wird. Voraussetzung dafür, dass wir einen solchen 'jemand' mit dem Embryo in Verbindung bringen und von einem 'werdenden Menschen' sprechen können, ist, dass dieses Ende erwartbar ist ..., also die entsprechenden Entwicklungsmöglichkeiten vorhanden sind. Bei der Mehrzahl der Embryonen, die verschwenderisch auf natürlichem oder gezielt auf künstlichem Wege entstehen, kann davon nicht die Rede sein, weil die äußeren Bedingungen für eine Entwicklung, insbesondere die Einnistung in die Gebärmutter einer Frau, nicht gegeben sind. Im Blick auf alle diese Embryonen kann aus rein empirischen Gründen nicht von werdenden, sich entwickelnden Menschen gesprochen werden. Zwar unterscheiden sie sich in dem kurzen Zeitraum, in dem sie sich entwickeln, in nichts von Embryonen, die zur Existenz eines Menschen gelangen. Und dennoch handelt es sich bei einem solchen Embryo nicht um das Werden eines Menschen.

    Das hat Konsequenzen für die Beurteilung der Forschung an Embryonen. Was zunächst die sogenannten 'überzähligen' Embryonen aus der Invitro-Fertilisation betrifft, so handelt es sich bei ihnen weder um Leben eines existierenden noch eines werdenden Menschen, da die äusseren Voraussetzungen dafür fehlen, dass aus ihnen ein Mensch hervorgehen kann. Somit ist das Kriterium nicht erfüllt, in dem die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens begründet ist, nämlich dass es das Leben eines Menschen ist. Damit entfällt der entscheidende Grund, der der Forschung an solchen Embryonen entgegensteht. Man kann sie daher für sittlich vertretbar halten."
  5. F. Hölderlin, Dichterberufung, Sämtliche Werke, hg. von F. Beissner, Bd. 2/1, 1951, 47.
  6. Vgl. J. Locke, Essay Concerning Human Understanding, Buch II, c. 27, § 9: "Person bedeutet ... ein denkendes intelligentes Wesen, das Vernunft und Reflexion besitzt und sich als sich selbst denken kann, als dasselbe denkende Etwas in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten"; vgl. auch J. Locke, Über den menschlichen Verstand, 3 1976, 419.
  7. Vgl. P. Singer, Praktische Ethik, aus dem Englischen übers. von O. Bischoff, J.-C. Wolf und D. Klose,  2 1994, 123.
  8. M. Luther, Zirkulardisputation de veste nuptiali. 1537, WA 39/I, 283, 9.
  9. M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen. 1520, WA 7, 38,6-10.
  10. Das bedeutet indessen nicht, daß man die bioethische Problematik nicht auch aus der Perspektive ökonomischer Fragestellungen thematisieren kann. Ja, es könnte gerade eine "Ökonomik der Bioethik" besonders triftig verdeutlichen, was nicht Gegenstand kommerzieller Erwägungen werden darf. Vgl. dazu H. Giersch, Zur Ökonomik der Bioethik (2). (Der Text soll in der FAZ am 26. Januar 2002 erscheinen.)
  11. J.W.v. Goethe, Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik Einzelner, WA I. Abt., Bd. 42.2, 138.
  12. Der Glaube an Jesus Christus provoziert "eine ... fast möchte man sagen: paradoxe Einstellung gegenüber dem Leiden". (M. Hengel, Leiden in der Nachfolge Jesu, in: Der leidende Mensch. Beiträge zu einem unbewältigten Thema, hg. von H. Schulze, 1974, 89).
  13. G. Marcel, Die Menschenwürde und ihr existentieller Grund, 1965, 161.
  14. E. Benda, Würde des Menschen - Würde des Lebens, Vortrag auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag am 14. Juni 2001 in Frankfurt/M., unveröffentlicht.