Resümee über den Kongress der EKD „Zum Bild Gottes geschaffen. Bioethik in evangelischer Perspektive“

Robert Leicht

Bioethik-Kongress in Berlin

Am Anfang jedes Schlusswortes - aber nun besonders bei dieser Veranstaltung - muss der Dank stehen für alle, die sich an der Vorbereitung und an der Ausführung beteiligt haben, an die Referentinnen und den Referenten. Auch besonders an jene, die auf schwierige Weise gegen einen latenten Konsens im Raum argumentieren mussten. Ich finde es immer heroisch und eines besonderen Lobes berechtigt, wenn man so etwas aushält. Mein besonderer Dank gilt Frau Petra Bahr, die jene seltene protestantische Mischung von Autorität und Freiheit (und übrigens auch Humor) so eindrucksvoll in ihrer Moderation des Tages gezeigt hat.
Sie werden von mir nicht erwarten, ein Ergebnis zu formulieren, schon gar nicht in aller Kürze. Ich möchte lieber einige Bemerkungen machen, die nach vorne weisen, also in die weitere Debatte, die mit dem kommenden Mittwoch keineswegs zu Ende ist –  und zwar einige Bemerkungen zum protestantischen Prozess einerseits und zum protestantischen Konsens andererseits. Ich beziehe mich dabei auf vieles, was während dieses Kongresses  gesagt wurde, greife aber auch noch einmal die Veröffentlichung der neun Ethiker auf, weil sie ja auch eine gewisse und im Prinzip durchaus begrüßenswerte Kritik kirchenleitenden Handelns einschließt.

Es ist diesem Papier in der redaktionellen, etwas gekürzten Fassung der FAZ die Überschrift gegeben worden "Pluralismus als Markenzeichen". Natürlich ist der Pluralismus im Protestantismus zunächst einfach ein Faktum und auch eines, das mich keineswegs beunruhigt. Pluralismus ist aber kein Selbstzweck. Protestanten kommen nicht erst dann zu sich und zu ihrem Ziel, wenn sie untereinander nicht einig sind, sondern der Streit der Meinungen dient vor allem der Suche nach dem, worin man sich einig sein sollte, im Sinne einer asymptotischen Annäherung, auch wenn sie nie vollständig gelingt. Erst diese Suche nach dem, worüber man übereinstimmen sollte in den Kernfragen, erst diese Suche legitimiert die verbleibenden Differenzen.

Sodann wird auch in dem Papier gefordert, wir sollten einander nicht das Etikett des Unmoralischen anheften. Das ist ja zunächst schlicht ein Gebot der Höflichkeit und - wer die moderne Medienwelt kennt - im übrigen auch ein Gebot der kommunikativen Vernunft. Ich möchte das aber nicht so verstanden wissen, dass ich unterschiedslos zu allen auch von Protestanten vertretenen Positionen auf eine Äquidistanz gehen müsste. Es bleibt offenkundig zulässig, auch überzeugt zu sagen: Ich halte diesen oder jenen Standpunkt für falsch. Der bleibende Kern des warnenden Arguments ist freilich dieser: Nicht, dass ich den anderen nicht der Unmoral zeihen dürfte - das muss man sich immer offen lassen ! Aber ich darf mir selber nicht den Status der Moral zuschreiben, schon gar nicht mir selber. Das ist die Grenze dieses Hantierens mit der Moral und wenn wir als Lutheraner mit dem simul iustus et peccator argumentieren, dann ist eben dieses der Grund, warum man für sich selber nicht sagen kann, ich habe die schlechterdings moralische Position inne. Mein Respekt vor der Position anderer, und ich denke, das gilt in der ganzen protestantischen Auseinandersetzung, hat vor allem mit dem Dilemmata und den Aporien meiner eigenen Position zu tun. Dieses kritische Selbstbewusstsein definiert den Respekt vor den anderen.

Nun etwas zum protestantischen Konsens. Es kann offenkundig nicht darum gehen, jetzt die Voten auf Mehrheiten hin abzuzählen. Mehrheiten schaffen keine Wahrheiten, und es kann sehr wohl sein, dass der, der in einer solitären Minderheitsposition ist, am Ende doch das richtige Argument hat. Im übrigen gibt es auch keine Schnittmengen, die Wahrheiten schaffen. Es hat also auch keinen Sinn, jetzt etwa additiv herauszufinden, in welchen Punkten keiner widersprochen hat: Das sei dann nun der Konsens. Zum Anhaltspunkt dafür, wo die Konsenssuche erfolgreich sein könnte, möchte ich den Satz wiederum aus dem Papier der neun Ethiker zitieren, der da lautet: „Die Überzeugung, dass menschliches Leben in allen Stadien seiner Entwicklung prinzipiell schutzwürdig ist, bildet die gemeinsame Grundlage dieser Debatte.“ Diesen Satz kann ich vollständig unterschreiben, wenn man mir zuvor erläutert, was mit dem Wort „prinzipiell“ gemeint ist. Soll „prinzipiell“ heißen: im Prinzip und deswegen nicht aufhebbar? Oder heißt „prinzipiell“: in einigen Fällen und in einigen Fällen nicht? Darüber wäre noch zu streiten.

Es ist ja im übrigen eine merkwürdige Paradoxie: Das Interesse an der Forschung mit embryonalen Stammzellen und auch an Embryonen hat offenkundig damit zu tun, dass sie etwas über menschliches Leben auszusagen im Stande ist; sonst wäre die Forschung ja sinnlos. Wenn aber diese Forschung über menschliches Leben etwas auszusagen hat, dann hat sie eben auch doch Entscheidendes mit menschlichem Leben zu tun – und zwar auch moralisch.

Ein weiterer Anhaltspunkt der Einigkeit hatte sich gestern um den Begriff kristallisiert: Geheimnis. Lassen wir uns auf den Begriff einmal ein, so kann ich „Geheimnis“ oder „Sanktuarium“ oder etwas „Heiliges“ doch nur als Einschränkung menschlicher Handlungsmöglichkeiten verstehen – und nicht etwa mit dem Begriff des Geheimnisses für eine Ausweitung meiner eigenen Selbstermächtigung argumentieren.

Das Geheimnis wurde uns als Kategorie vorgestellt, damit wir uns nicht in den Biologismus flüchten oder gar in das Naturrecht. Auch dazu eine kurze Anmerkung in drei Teilen: Auch wer nicht ganz katholisch ist, und das bin ich nun wahrlich nicht, wird ja nicht dazu neigen, die katholische Position schon deshalb zu unterschätzen. Dieser Hinweis auf das Naturrecht kommt mir gelegentlich vor wie eine Engführung in die konfessionalistische Abwehr. Das kann's auch nicht sein, so einfach wird man mit der katholischen Position nicht fertig. Und was nun den Substantialismus angeht, den wir gefälligst zu vermeiden haben: Man muss mir dann schon erklären, wo man dann die vielen relationalen Argumente festmacht, irgendwo. Wer immer nur in Relationen redet, steht am Ende beziehungslos da. Und was man darüber auch nicht ganz vergessen sollte: Es hat in der Nachkriegszeit durchaus ernsthafte Debatten über ein evangelisches Verständnis von Naturrecht gegeben, das beides vermeidet, sowohl die biologistische Engführung als auch die Fallstricke dessen, was in der Diskussion seit Karl Barth mit der analogia entis kritisch betrachtet wird. Wir sollen also nicht aus lauter Antikatholizismus vergessen, dass wir selber auch gute Gründe hatten, naturrechtlich zu argumentieren. Und ein übriges: Wenn einem schon der naturalistische Mund verboten werden soll, dann bitte nicht von jenen, die aus der „natürlichen“ Tatsache, dass in der Natur viele befruchtete Eizellen und Embryonen dahingehen, ein moralisches Argument machen wollen für mein künftiges Handeln. Das wäre dann nicht schlüssig.

Und wer schließlich in der protestantischen ethischen Debatte die Anerkennung seiner anderen Position einfordert, dies übrigens zu Recht, trägt dann allerdings auch die Bringschuld für seine eigene theologische Begründung; er muss also seine eigene theologische Position wirklich explizit machen und sie zur Zustimmung anbieten – oder der Kritik aussetzen. Es geht also nicht an, nur die theologische Begründung anderer – etwa als „ökumenischen Dogmatismus“ zu dekonstruieren und selber mit eigenen Begründungen nicht aufzuwarten. Man darf, kann und soll sehr gut „rational“ argumentieren. Irrationalismus will ich nicht befürworten. Aber Rationalismus allein ersetzt nicht die Theologie.

Nun zu der aktuellen Bundestags-Debatte am kommenden Mittwoch. Ich fand es beachtlich während des ganzen Kongresses, dass, anders als vor einem Jahr noch, die Konfrontation allenfalls die war: „Was dürfen wir im Interesse der Forschung und der Heilung wagen?“, dass aber niemand gesagt hat: „Wir müssen dieses oder jenes zur Sicherung des wirtschaftlichen Standorts der Bundesrepublik tun.“ Diese Einschränkung immerhin scheint konsensfähig zu sein. Ich bringe das nur deshalb in Erinnerung, da wir die ganze Debatte seit der Jahreswende 1999/2000 nur deshalb führen, weil ein leitender Politiker dieses Landes gesagt hat: Ich bin in der Sache zuständig für Arbeitsplätze. Er hat übrigens hinzugefügt, er wünsche sich eine bioethische Debatte „ohne ideologische Scheuklappen“. Ich habe den Eindruck, dass ihm die bioethische Debatte des vergangenen Jahres nicht ganz gefallen hat, angesichts dieser Wunschliste. Es darf hinzugefügt werden, dass die größten ideologischen Klappen derjenige trägt, der für Ideologiefreiheit plädiert. Das alles übrigens war gesagt worden auf einer Evangelischen Akademie, nämlich in Tutzing. Es würde auf dieser Akademie und ein Jahr später von ihm so wohl nicht mehr gesagt werden.

Und diese Beobachtung bringt mich zu dem letzten Punkt: Unsere Debatte hatte offenbar einen Sinn, weil sie etwas verändert hat. Sie ist war nicht aussichtslos, sie ist auch für die Zukunft nicht aussichtslos. Wir brauchen das Lied "Verzage nicht, du Häuflein klein" nicht anzustimmen oder, um es genauer zu sagen: Wir können es kräftig anstimmen, denn der Vers geht weiter: "es wird dir doch gelingen". Damit ist kein Anspruch verbunden, Recht zu bekommen, damit das wohl verstanden ist. Die evangelische Kirche muss vielleicht erst lernen, mit der Erfahrung umzugehen, dass ihre Position oder Positionen, die in ihr vertreten sind, parlamentarisch keine Mehrheit finden. Das hat der Katholizismus schon länger gelernt. Wir müssen es vielleicht auch üben. Aber das entbindet uns doch nicht von der Pflicht, zunächst mal unsere eigenen Position zu erstreiten, zu finden, ohne Rücksicht auf die Frage, ob sie von vornherein mehrheitsfähig ist. Wir müssen sie plausibel zu machen versuchen, das ist die Verpflichtung. Aber nicht nur das, was mehrheitlich ohnehin schon plausibel ist, bedingt das, was wir dann noch sagen und denken dürfen. Um es zugespitzt zu sagen: Unsere Argumente sollen durchaus anschlussfähig sein zu anderen Diskursen, aber es besteht kein Anschlusszwang. Der Widerspruch zur Welt, auch der protestantische Widerspruch zur Welt, ist nun wahrlich kein Selbstzweck. Manchmal wird er geradezu lustvoll betrieben. Aber der Widerspruch kann der Suche nach der Wahrheit und der Glaubenswahrheit durchaus geschuldet sein.

Was ich hier kurz gesagt habe über das Verhältnis von uns Protestanten zu der übrigen Welt, die auch nicht viel böser ist als wir es sind, gilt nun auch für unser Verhältnis als Deutsche zu anderen europäischen Kulturen und Nationen, die auch nicht böser sind als wir. Ich habe immer große Hemmungen, dass wir, nachdem wir erst einmal die Jahre 1933-1945 inszeniert haben, anschließend der übrigen Welt sagen, was eigentlich Moral ist. All dieses anderen europäischen Positionen sind zu würdigen; das setzt voraus, dass wir kennen sie, dass wir sie verstehen, dass wir sie mit ihnen diskutieren auf ihrer Höhe. Aber auch hier kann es doch nur darum gehen, dass wir zunächst unsere eigene Position suchen. Frau Fischer hat uns gestern vorgeführt, dass dann allerdings die Frage auf uns zukommt: Was mache ich denn mit meiner eigenen Position, und wie setze ich sie in Beziehung zu Leuten, die andere Positionen haben? Wie gesagt, dazu muss man sie erst einmal haben.

Die Suche geht weiter, spätestens schon nach dem Mittwoch. Meine allgemeine Vermutung, und die macht solche Kongresse notwendig und weitere notwendig, ist folgende: Vielleicht ist die Anthropologie, gewiss nicht die christliche Anthropologie, noch nicht auf der Höhe der neuen technischen Möglichkeiten. Ich glaube, die Herausforderungen sind größer als unsere Antworten. Und ich glaube, dass das sogar geradezu notwendig so ist, weil immer neue technischen Möglichkeiten uns immer neue Fragen vorlegen. Die Suche geht also unablässig weiter. Ich danke Ihnen für Ihr Mitdenken – und ich lade Sie ein zum Weiterdenken.