Heilen und Helfen. Zum christlichen Verständnis des Menschen aus ärztlicher Sicht

Eckhard Nagel

Anläßlich des Bioethik-Kongresses in Berlin

- Es gilt das gesprochene Wort -


Einleitende Gedanken

„Uns ist heute der Heiland geboren ... “ –
gerade fünf Wochen ist es her, dass in Häusern, Wohnungen und Kirchen diese Zeile gesungen und damit die Erwartungshaltung christlich gesinnter Menschen zum Ausdruck gebracht wurde: Jesus Christus, geboren um Heil zu bringen, um den Menschen zu helfen, den Gefangenen zu predigen, die Blinden wieder sehen zu lassen und die  Zerschlagenen zu befreien. (Lk 4,18)

Das Leben und die Geschichte Jesu ist – so wie es die  Hoffnung des Evangelisten Lukas beschreibt -  durchzogen von Heilungsgeschichten als Ausdruck seiner Liebe und Barmherzigkeit den Mitmenschen gegenüber: „und als die Sonne untergegangen war, brachten alle, die Kranke hatten mit mancherlei Leiden, sie zu ihm. Und er legte auf einen jeglichen die Hände und machte sie gesund.“ (Lk 4,40).

Diese konkreten Taten Jesu haben dazu geführt, dass ärztliches Handeln sich besonders in der europäischen Tradition auf den Heiland bezogen hat, seine innerliche Begründung in ihm erfährt und auf die Frage, welches Bild eine Ärztin oder ein Arzt von ihren Patienten haben, mit einem Bezug zum christlichen Verständnis des Lebens als anvertrautes Gut geantwortet wird.  Nicht nur die Gründung von Krankenhäusern, Betreuungsstationen, die Versorgung akut in Not Geratener, die Unterbrechung kriegerischer Handlungen zur Versorgung Verletzter und letztlich auch die tiefere Begründung für die Solidarität mit Kranken innerhalb einer Gesellschaft geht auf ein christlich geprägtes Menschenbild zurück. Zwar bezieht sich das sogenannte ärztliche Ethos auch heute noch gern auf seine hippokratische Tradition, die medizinisches Handeln erstmalig auf eine rationale Grundlage stellte, eine gewisse Rechtsicherheit im Vertragsverhältnis zwischen Arzt und Patient vermittelte und den medizinischen Handlungsauftrag mit der Pflicht verband, primär um das Wohl des Kranken bemüht zu sein und in jedem Fall für das Leben einzustehen -  aber der Gedanke der Hinwendung zum leidenden Menschen, der den Kranken nicht als Vertragspartner, den es sachgemäß und höflich zu behandeln gilt, sondern als Mitmenschen begreift, geht auf die christliche Tradition zurück.

Albert Schweitzer hat quasi exemplarisch für Generationen von Betroffenen und Helfenden diese Zusammenhänge verdeutlicht und sie der - von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen äußerst positiv beeinflussten hoffnungsvollen Entwicklung medizinischer Behandlungsmöglichkeit ins Stammbuch geschrieben:  „Das denknotwendige Prinzip des Sittlichen bedeutet aber nicht nur Ordnung und Vertiefung der geltenden Anschauung von Gut und Böse, sondern auch ihre Erweiterung. Wahrhaft ethisch ist der Mensch (und der Arzt) nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden  zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll - Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig.“


Vom Anfang und Ende des menschlichen Lebens

„Ist Gott das Leben heilig?“, fragt meine 8jährige Tochter beim Lesen einer Todesanzeige, die auf meinem Schreibtisch liegt:

„Gott, dem allmächtigen Herren über Himmel und Erde, hat es gefallen, seine ihm im christlichen Glauben treue Dienerin ... zu  sich in sein Reich heim zu holen. Nach 20 Jahren schweren Leidens vertraute sie der modernen Medizin und hoffte auf Heilung. Nach 83 Tagen tapferen Kampfes um ihr Leben schaffte ihr Herz die enormen Belastungen nicht mehr. Sie starb im Frieden mit Gott.“
Ein Tod gegen jede Erfahrung und Erwartung, denn das Risiko während oder in den ersten drei Monaten nach einer Lebertransplantation zu sterben, liegt unter 10 %. Auch unsere Patientin, aus deren Todesanzeige diese Worte stammen, Mutter von einem kleinen Kind, war von Hoffnung getragen, als sie vor der Operation schrieb: „Ich möchte die Zufriedenheit wiederfinden und ein schönes, lebenswertes Leben haben. Eine Zukunft möchte ich, die funktioniert.“

Es ist wohl schwerlich  für einen Gesunden zu begreifen, worum es geht, wenn Menschen an einer lebensgefährlichen Erkrankung leiden und sich mit den Gefahren für ihr eigenes Leben und der Hoffnung auf Heilung innerlich beschäftigen: Glaube als Widerspruch zwischen Innerlichkeit und Leidenschaft zum Leben und der objektiven Ungewissheit, so wie es wohl einst Abraham ging als er, ungewiss, ob Gott nicht doch das Opfer Isaaks fordern würde, bis zum Ende des Weges an seinem Glauben, an seiner Hoffnung – quid absurdum – festhielt.

Ich stocke bei der Frage meiner Tochter und antworte mit einer Gegenfrage, die sich im 8. Psalm des Alten Testamentes findet und die – der Überlieferung nach - aus dem Mund der jungen Kinder und Säuglinge zum Lob gesungen wurde: „Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel! ....Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, deinen Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Ps. 8/ 2-5)

Hier wird deutlich, dass wir die Kernfrage nach unserer Existenz trotz aller wissenschaftlicher Fortschritte, aller intellektueller Fähigkeit im Grunde nicht erkenntnistheoretisch erklären können und stattdessen einen Ausschnitt betrachten. So dienen uns  neue biologische Erkenntnisse als Mosaiksteine beim Ausfüllen der biochemischen und physiologischen Landkarte unserer Existenz, aber eine umfassende Topographie des Menschen kann daraus nicht entstehen. Sir John Eccles, Nobelpreisträger für Medizin und der wohl bekannteste Neurophysiologe des zurückliegenden Jahrhunderts, ist es zu danken, dass die Strukturen von Rückenmark, spinaler Ebene, Hirnstamm, Kleinhirn, Mittelhirn und Großhirnrinde heute ein funktionelles Bilder ergeben, das viele Krankheiten im neurologischen Bereich besser erklären hilft und theoretische Überlegungen zur Behandlung bei morphologischen Schäden möglich macht. Eindrucksvoll ist sein Fazit nach fast 50jähriger wissenschaftlicher Tätigkeit, in dem er keineswegs resigniert feststellt, dass bei aller Bemühung um die Zuordnung von Funktion und Materie, bei allen Erkenntnissen aus Experiment und Beobachtung, die Individualität des Einzelnen, der Zusammenhang von Materie und Gemütsbewegung, der Kontext zwischen Geist und Psyche oder ein Hinweis für den Sitz der Seele im Körper nicht zu finden war. Auch 25 Jahre nach Eccles gibt es solche Hinweise nicht. Ebenso müssen wir im Hinblick auf den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens konstatieren, dass die Biologie nur einen Teilaspekt erklärt.

Mit dieser Feststellung ist keineswegs verneint, dass bestimmte Zeitpunkte in der Existenz des Menschen medizinisch definierbar sind. So ist ohne Frage die Bestimmung des Todeszeitpunktes  aus naturwissenschaftlicher, erfahrungspsychologischer und letztlich gesellschaftlich konventioneller Begründung heraus möglich und heute auch mit dem eingetretenen Hirn- und Herztod festgelegt. Für die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens ließe sich in Analogie die Verschmelzung von Ei und Samenzelle als Zeitpunkt benennen. Beide Zeitpunkte akzeptieren, dass sowohl vorher, wie auch nachher bestimmte biologische und darüber hinausgehende, für uns nicht definierbare Prozesse stattfinden, die zum Anfang oder Ende des menschlichen Lebens gehören. Die Akzeptanz von spezifischen Zeitpunkten für das Ende oder den Anfang des Lebens bedeutet in sich nicht eine Biologiesierung oder Materialisierung der menschlichen Existenz.


Vom Geheimnis des Lebens

Dennoch führt die zeitliche Fixierung des Lebensbeginns und des Lebensendes zu wichtigen Schlussfolgerungen für den Umgang mit dem Individuum. Besondere Beachtung ist der fraglichen Einheit oder Getrenntheit der geistigen bzw. körperlichen Existenz entgegen zu bringen. Wird beim Ausfall aller Hirnfunktionen von einem Auseinanderbrechen der körperlichen Koordination und geistigen Integration gesprochen und somit vom Ende des materiellen Lebens, bedeutet dies nicht, dass darin eine strenge Trennungslinie zwischen Körper und Geist zum Ausdruck kommt. Der Mensch ist aus christlicher Sicht ein von Gott geschaffener, eine geistlich leibliche, gewollte Daseinsform und verkörpert diese Einheit aus Geist und Materie. Gott steht der geistigen Dimension des Menschen in keiner Weise näher als der leiblichen. Der Schöpfungsglaube, davon überzeugt, dass alles was Gott geschaffen hat, positiv bestimmt ist, konstituiert den Menschen als ein Individuum, das seinen Sinn in sich selbst trägt und, so wie Thomas von Aquin es ausdrückt, bekennt, dass der Mensch von Gott her Ziel und nicht Mittel ist.

Das Geheimnis des Lebens wäre kein Geheimnis, wenn diese Glaubensüberzeugung empirisch nachvollziehbar wäre, empirisch im Sinne eines wissenschaftstheoretisch positiv begründeten Experiments. Bedauerliche Entgleisungen beim Versuch der näheren Bestimmung des Menschseins, z. B. bei Experimenten mit Kontaktentzug von Neugeborenen oder Trennung und Isolierung bei Zwillingen zeigen zwar, dass Geist und Körper verkümmern, dass Leben unmöglich wird, wo Existenz sich nicht in Beziehung setzen kann.  Beziehung, so wie sie zwischen Gott und dem Einzelnen gesehen wird – ist Teil der Natürlichkeit des Menschen.
Die Glaubensüberzeugung erfährt in dem sich auf andere einlassen, in dem Versuch, Leben für sich und in Teilen mit anderen zu gestalten eine Bestätigung. Sie wird fass- und erfahrbar in den Momenten, wo Verbundenheit über den Mitmenschen hinaus spürbar wird, wie es z.B. Hanns Lilje in seinem Rückblick auf die Gefangenschaft während des national-sozialistischen Unrechtssystems beschreibt:„ Eine schöne Knospe der Mitmenschlichkeit erblüht in diesen Nächten des Grauens. Es ist wieder Alarm. Das Haus liegt ganz dunkel. Draußen ist noch nichts erkennbar, sondern alles von der lähmenden Stille der Erwartung überdeckt. Die Wachposten, die eben mit knarrenden Stiefeln über die Treppe nach unten gestiegen sind, hört man in den Kellergewölben laut reden. Oben ist alles totenstill. Da werden mit einem Male unhörbar die beiden Riegel meiner Zellentür zurückgeschoben geschoben und lautlos öffnet sich ein Spalt. In der Nische steht Freiherr von Guttenberg, der mit leisen Zeichen zum Schweigen mahnt. Als alles still ist, führen wir im Flüsterton eine kurze Unterhaltung: „Finden Sie nicht, Herr Pfarrer, dass wir alle in dieser Lage die Ölbergszene aus dem Neuen Testament viel besser verstehen?“. Er ist nicht der Einzige in diesem Hause, der die Gethsemane-Geschichte liebt und wir reden hier nun ein wenig davon, welchen Trost uns das Neue Testament gerade an diesem Ort gewährt. Ich werde die Szene nicht vergessen: Das dunkle, zwiefach dunkle Haus, draußen der Höllenlärm von Flagg und Bomben und drinnen die geflüsterte Unterhaltung über den Sohn Gottes, der in jener Nacht am Ölberg allen Nächten das Grauen genommen hat und hinfort bei denen ist, die in den Nächten ringen, kämpfen und beten.“

So lässt sich dem vielfältigen Geheimnis des Lebens an dieser Stelle näherkommen und feststellen, dass unser Leben eine langsame Geburt zum Leben darstellt. Gleichzeitig ist biologisch unstreitig, dass mit dem materiellen Beginn des Lebens auch dessen Ende beginnt. Nicht nur die uns heute bekannten physiologischen Abläufe zum Zelluntergang, so wie sie z. B. durch das Telomerasegen programmiert werden und im Rahmen der Apoptose  zu einem regelmäßigen Werden und Vergehen beitragen, sondern jegliche Erfahrung belegt, dass alles seinen Anfang und alles sein Ende hat. Das Leben entwickelt sich quasi einem Ziel entgegen – man mag es ein der Schöpfung inneliegendes Ziel nennen - alles ist dieser Prozesshaftigkeit unterworfen. Dass unser Körper dabei ungeheure Potenziale des Ausgleichs und der Regeneration aufweist, gehört zum Wunder des Lebens: Aus der Vereinigung von Ei- und Samenzelle entsteht ein spezifisches Genom, in seiner Individualität einzigartig, zumindest in seiner endgültigen Ausprägung. Dieses Entwicklungspotential verlässt uns in vielerlei Hinsicht nicht mehr und es gibt kaum eindrucksvollere Erfahrungen, wie z.B. in der Chirurgie, wenn nach der Entfernung eines Darmabschnittes die Schleimhaut des neu Verbundenen - letztlich bei aller chirurgischer Technik doch profan Rekonstruierten – sich unter dem Mikroskop in kürzester Zeit wieder vereinigt und die technische Naht nach wenigen Stunden kaum mehr erkennbar ist. Gleiches gilt für ein transplantiertes Organ, das  sich nach erneuter Durchblutung regeneriert und seine vorher in einem anderen Organismus durchgeführten Funktionen trotz Integrationsproblemen in der Regel völlig einwandfrei wieder aufnimmt.

Die christliche Überzeugung, dass die Geburt ein Kommen aus der Liebe und der Tod das Zurückgehen in die Liebe darstellt – so wie es Ursa Paul ausdrückt -  oder aber mit anderen Worten, dass unser Leben die Geburt zum Tod und unser Tod die Geburt zum Leben ist, wird aus diesen Bildern des ärztlichen Alltages immer wieder aufs Neue gespeist. Eine solche Wahrnehmung des Geheimnisses des Lebens darf nicht missverstanden werden  - gar im Sinne einer Verherrlichung des Jenseitigen, wie sie in der christlichen Lehre im Rückgriff auf Augustinus bisweilen sehr prominent war - sondern sie ist ein Bekenntnis zur Erfahrung der Liebe, ein Bekenntnis des Lebens zum Leben und über das erfahrbare Leben hinaus.


Leiden – Heilen – Helfen

Die Diesseitigkeit des Lebens ist charakterisiert durch Lebenszustände, die wir mit Gesundheit, Krankheit, Kranksein oder Leiden beschreiben. Während das Heilen und Helfen in den Begründungszusammenhängen ärztlichen Handelns vorrangig genannt wird, gehört das Leiden des anderen zur ärztlichen Erfahrung, das Leiden am anderen zum ärztlichen Erleben.
Dementsprechend ist der leidende Mensch im Mittelpunkt des Bildes, dass die ärztliche Sicht vom Menschen bestimmt. Je länger jemand krank ist, umso mehr Gewicht gewinnt das Kranksein über den Sachverhalt der Krankheit und das Leiden ist gekennzeichnet durch die Sorge um die unabsehbare Dauer der Krankheit, die Beschädigung und Behinderung sowie die soziale Benachteiligung; - ist gekennzeichnet von Schmerzen – bisweilen in quälender Form – vom Verlust des Selbstwertgefühls, der Identität, und der subjektiven Gefährdung der eigenen Würde aufgrund der Beschränkung der Selbstdarstellung als Person und der Angewiesenheit auf Hilfe anderer. Kranken Menschen in dieser Lage als Personen gerecht zu werden setzt voraus, sie zu verstehen und nicht nur zu vermessen. Dabei kommt der Definition, dessen was wir unter Kranksein und Krankheit einordnen, eine bedeutende Rolle für die Wahrnehmung des Gegenüber zu. Während die Gesundheit heute als Voraussetzung für das Bestehen in einer durch Konkurrenz gekennzeichneten sozialen Situation ist - ob auf dem „Arbeits- oder Beziehungsmarkt“ - kann das Verständnis dessen, was als Kranksein angesehen wird, sehr unterschiedlich ausfallen: In der kulturellen Vorstellung bedeutet Krankheit eine Störung übergreifender Art. Mit übergreifender Art ist gemeint, dass nicht nur die körperlichen Aspekte dazugehören, sondern, dass auch z.B. seelische Momente eine wichtige Rolle spielen, so dass Heilung nur im Zusammenhang mit der Betrachtung beider Ebenen möglich wird. Eher psychosomatisch orientierte Krankheitsmodelle gewichten die Beziehung zwischen körperlichen und seelischen Symptomen, während eine rein auf die naturwissenschaftlichen Komponenten rekrutierende Sichtweise körperliche Funktionsstörungen im Sinne pathologischer Prozesse als Wechsel von Ursache und Wirkung charakterisiert. Dass über die benannten Bereiche von Geist und Körper auch die Umgebung - also ökologische und soziale Faktoren - krankheitsauslösend sein kann, ist keineswegs erst seit der Gesundheitsdefinition der WHO bekannt, sondern gehört u.a. schon zu den Erkenntnissen Rudolf Virchows. Dem Hannoveraner Internisten und Philosophen Fritz Hartmann verdanken wir heute eine sehr differenzierte Sichtweise des homo patiens und homo compatiens - also von Patient und Arzt, in dem er als gesund einen Menschen charakterisiert, der mit oder ohne nachweisbaren Mängeln seiner Leiblichkeit allein, oder mit Hilfe anderer dazu fähig ist, seine persönlichen Anlagen und Lebensentwürfe so zu verwirklichen, dass er  am Ende sagen kann: Dies war mein Leben, meine Krankheit, mein Sterben. Der homo compatiens – das Gegenüber in Pflege und Medizin – hat also die Aufgabe als Mitfühlender und Geduldiger dem Erleidenden und Erduldenden Hilfestellung zu geben.

So ist denn auch der erste Satz des Genfer Ärztegelöbnisses in Fortschreibung des hippokratischen Credos Primum nihil nocere formuliert als: „Die Gesundheit des Patienten wird meine erste Sorge sein.“ Christus als Heilender, als derjenige, der sich den Entrechteten, den Hilflosen, den Kranken, Schwachen und Alten vordringlich zugewandt hat, hat dieses Prinzip neu begründet, hat aus dem Wohlwollenprinzip die Hinwendung zum leidenden Menschen gemacht und damit ärztliches Handeln unveränderlich geprägt. Das begründende ethische Prinzip ist das der Nächstenliebe, so wie es sich in der Bergpredigt in der Formulierung findet: Alles nun, was Ihr wollt, dass Euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! (Matthäus 7, 12).

In der kritischen Philosophie Kants wird hieraus der kategorische Imperativ auch in der Formulierung dahingehend, dass man nach derjenigen Maxime handeln solle, von der man wolle, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Wie oben bereits von Schweitzer gehört, spricht Kant von einer praktischen Notwendigkeit, die sich aus der Forderung der Vernunft ableitet. Sie ist Ausdruck der „Autonomie der praktischen Vernunft“ und zeigt die Freiheit des Einzelnen.

Diese Freiheit konstituiert den Menschen auch im christlichen Verständnis. Sie macht die Anziehungskraft der christlichen Lehre aus und ist gleichzeitig, wie in Kants Vernunftsbetrachtung eine Handlungsaufforderung. So formuliert Dietrich Bonnhoefer 1935 in einem Brief an seinen Bruder: „Ich glaube zu wissen, dass ich erst innerlich klar und aufrichtig sein würde, wenn ich mit der Bergpredigt wirklich anfinge, ernst zu machen.... Es gibt doch nun einmal Dinge, für die es sich lohnt, kompromisslos einzustehen. Und mir scheint, der Friede und die soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus sei so etwas.“

Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit werden – gerade aus evangelischer Sicht – zu konstituierenden Elementen der menschlichen Existenz, zur Richtschnur medizin-ethischen Verhaltens und formen damit das Menschenbild in der Arzt-Patient-Beziehung. Die Medizin wird als Mittel, dem Nächsten zu dienen, gesehen; sie ist somit auch Ausdruck der Liebe Christi. Richtiges Handeln ergibt sich aus der Orientierung an der Liebe. Es befreit von starren gesetzmäßigen Moralvorschriften und ermöglicht es, die individuelle Situation in ihrer Einmaligkeit zu erfassen. Ärztliche Therapiefreiheit im wohlverstandenen Sinne findet hier ihren Ursprung. Auch die für unser Gesundheitswesen so wichtige Vorgabe, ein Patient solle seine Ärztin oder seinen Arzt frei wählen dürfen, ist begründet in der Einzigartigkeit des Beziehungsmoments und dem Wissen darum, dass die Gesundung hiervon besonders beeinflusst wird.

Das Leben wird verstanden als ein Geschenk, nicht im Sinne eines einmaligen Aktes, sondern als ein sich immer wiederholender Prozess - wohlwissend, dass naturgemäß der äußere Mensch verfällt, während, wie Paulus es beschreibt, der innere sich von Tag zu Tag erneuert: „Denn was sichtbar ist, dass ist vergänglich, das Unsichtbare ist ewig (2. Korinther 4,18) (Hinweis auf Hindernisse naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, Therapiemöglichkeiten durch kirchliche Dogmen).


Medizin und die Entwicklung der Naturwissenschaften

Die Entwicklungen moderner Naturwissenschaften haben die Praxis des medizinischen Handelns bei Diagnose und Therapie grundsätzlich verändert. Die Frage aber stellt sich, ob sich dadurch der ärztliche Behandlungsauftrag oder gar das Bild des Patienten und des Arztes gewandelt haben. Unsere Diskussion um gentechnologische Entwicklungen, die Stammzellforschung oder die Präimplantationsdiagnostik stellen den vorläufigen Höhepunkt dieser Anfrage dar. Gibt es eine Wertewandel in den Rollen von Arzt und Patient?:

„Die Gestalt und Tätigkeit des Arztes scheinen sich in einer Krise zu befinden. Nicht deshalb, weil ärztliche Wissenschaft und therapeutische Technik noch unentwickelt wären, sondern weil sie sich in einer Weise entwickelt haben, die den Selbsterhaltungsinstinkt des Menschen beunruhigt.“ schreibt Romano Guardini. Sicherlich hat die sogenannte Mechanisierung der ärztlichen Theorie und Praxis und damit die Mechanisierung des Menschenbildes nicht mit Gentechnik und Stammzellforschung begonnen, aber sie steht in einem Zusammenhang mit dem engsten Forschritt medizinischer Wissenschaft und Technik: Was den Fortschritt getragen, hat auch die Gefährdung gebracht. So jedenfalls darf man es wohl annehmen für eine allzu mechanistische Grundauffassung des Menschen selbst. Die Vorstellung, die Descartes nicht unwesentlich beeinflusst hat, nämlich, dass der Mensch als eine hochdifferenzierte Apparatur zu verstehen sei, war und ist für das wissenschaftlich-medizinische Denken eine große Versuchung. „Die in der modernen Technik verborgene Macht bestimmt das Verhältnis des Menschen zu dem, was ist,“ schreibt Heidegger und weiter: „Dabei ist jedoch das eigentlich Unheimlich nicht dies, dass die Welt zu einer durch und durch technischen wird. Weit unheimlicher bleibt, dass der Mensch für diese Weltveränderung nicht vorbereitet ist, dass wir es noch nicht vermögen, besinnlich denkend in eine sachgemäße Auseinandersetzung mit dem zu gelangen, was in diesem Zeitalter eigentlich heraufkommt“.

An den Grundprinzipien des Lebens – also auch am Menschenbild – verändert sich dadurch aber eigentlich nichts. Die heute divergent diskutierten Darstellungen menschlichen Selbstverständnis gehen auf eine andere Veränderung zurück: Francis Bacon und David Hume waren es, die eine zunehmend anthropozentrische Sichtweise des Denkens mit dem Empirismus einführten. Sie haben damit das bürgerliche Selbstverständnis und besonders auch das Selbstverständnis der angelsächsischen Wissenschaft nachhaltig geprägt.
Die anthropozentrische Weltanschauung war die ideologische Selbstrechtfertigung des die Welt erobernden, die Natur ausbeutenden und sich selbst in eine Gott ähnliche Position befördernden europäischen Mannes des 19. und 20. Jahrhundert.
Dies gilt auch sicher für das kontinental europäische Denken und hat auch in den kirchlichen Überlegungen der damaligen Zeit bisweilen Rückhalt gefunden. Aber die Diskrepanz zu der Weltanschauung, die den Menschen nicht im Mittelpunkt, sondern als Teil eines Ganzen sieht, so wie es protestantisch auszudrücken wäre, hat sich nachhaltig verfestigt. Hier liegt der Sinn des Menschen zusammen mit dem Sinne aller Dinge in Gott selbst.
Insofern hat jeder einzelne Mensch und auch jedes einzelne Lebewesen in der Natur sein Lebensrecht ganz unabhängig von seiner Tüchtigkeit, seiner Gesundheit und Konkurrenzfähigkeit. Dies hat auch Wissenschaftlicher wie Albert Einstein geprägt, der auf die Frage nach seinem Gottesglauben antwortete: Ich glaube an den Gott Spinozas, der sich in der Harmonie alles Seins erweist.

Die Gefahr, dass der Vorgang der Heilung in der modernen Medizin in einer von der Mechanik des Daseins geprägten Prozesshaftigkeit – im Sinne eines chemischen Prozesses – missverstanden wird, war und ist in dem angesprochenen mechanischen Denkschema groß. Demgegenüber ist das christliche Menschenbild geprägt durch die Vorstellung, Kranksein und Krankheit seien Teil eines Lebensvorganges und das Heilen ein Akt, der dem Leben hilft, nicht die Reparatur eines Maschinendefektes. Insofern erscheint es wesentlich an die Ehrfurcht vor dem Leben zu appellieren – und dies nicht zu tun aus Sentimentalität, sondern aus der Erkenntnis, dass dies zum Wesen des Heilungsprozesses gehört.


Ärztliches Handeln und medizinischer Fortschritt –
dem Menschen zugewandt

Die christliche Wahrnehmung von Krankheit korrigiert eine einseitig biologische Deutung. Heilung und ethische Verpflichtung zum Heilen und Helfen hängen mit der Frage nach dem universalen göttlichen Heil zusammen. Im Licht dieser in der Hoffnung des Glaubens festgehaltenen, endgültigen Verheißung behalten alle einzelnen Akte des Heilens ihren Sinn und ihre Notwendigkeit, aber sie bedingen auch, dass dieses Heilen und Helfen nicht absolut zu verstehen sein kann. Krankheit und die volle und uneingeschränkte Bejahung des Versuchs zu heilen und zu helfen bleiben immer im Bereich des Vorläufigen. Heilen hat hier etwas mit der Überwindung eines Widerspruchs zu tun. Der Widerspruch liegt im Menschen selbst, in der Divergenz zwischen Gottesebenbildlichkeit, Freiheit und Begrenztheit. Es gehört wohl zu den tiefen evangelischen Einsichten, das Gott selbst an der Geschöpflichkeit des Menschen leidet und dass sich seine Schöpferkraft besonders in der Unerschöpflichkeit seiner Leidensfähigkeit zeigt. So paradox dies manchmal für Andersgläubige sein mag: Gottes Leidenskraft ist Zeichen seiner Stärke nicht etwa Ausdruck eines Versagens oder einer Aussichtlosigkeit. Damit wird er wahrhaftig zum Ebenbild unserer Patientinnen und Patienten. Gott ist Schöpfer und Erlöser zugleich. Er ist frei und er befähigt den Menschen zu dieser Freiheit, er verpflichtet ihn dazu. Freiheit bedeutet nicht Autonomie, so wie es die kritische Philosophie verstanden hat. Aber auch der autonome Mensch findet zu den göttlichen Geboten in der unbedingten Geltung der sittlichen Gesetze. Ohne eine moralische Identität, ohne die Befolgung des kategorischen Imperatives wäre Handlung gleich Mechanik, für Gut und Böse nicht zu unterscheiden: „Die Vorschriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer, um ihn sicher zu töten, sind insofern von gleichem Wert, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken,“ stellt Kant fest. Es bedarf also für jeden einzelnen von uns einer Entscheidung zum Guten, eines Bekenntnisses zum sittlichen Handeln und damit zu unserer eigenen Identität über unsere materielle Wahrnehmung hinaus. Unabhängig davon, ob hierbei ein kategorischer Imperativ oder ob es sich um die freie Entscheidung eines von Gott geschaffenen, sich seinen ethischen Prinzipien verpflichtenden Menschen handelt: Der praktische Imperativ folgt aus diesem Tun: Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant, Übergang Metaphysik der Sitten 2. Abschnitt).

In der Reflexion zur Metaphysik ist Kant dann auch überzeugt: Man muss das Dasein Gottes dem nicht demonstrieren, der sich für die sittlichen Gesetze entschieden hat.

Therapie, Pflege und Seelsorge sind Ausdruck des Bemühens um die Integration des kranken Menschen in das von Gott gestiftete neue Dasein. Die Freiheit und die Würde des Menschen sind keine empirischen Größen, sondern transzendentale Ideen. Sie bilden aber die Grundlage von der aus das Menschliche erforscht werden muss und sie setzen Grenzen für Handeln und Forschen. Diese Grenzen sind maßgeblich, weil sie den Menschen schützen und ihm gleichzeitig vollen Respekt entgegenbringen. Die potentielle Heilung von Krankheiten ist als Begründung zum Handeln demgegenüber ein sehr schwaches Argument, wenn es überhaupt angeführt werden kann, worauf der Pionier der Gentechnologie, der heute 96jährige Erwin Schargaff zu Recht hinweist:“So wie der Mensch nicht geboren wird, um reich zu sein, wird er auch nicht geboren, um gesund zu sein.“

So sind die grundsätzlichen Gesichtspunkte bei der Weiterentwicklung des menschlichen Tuns ausschlaggebend: Dabei ist die Ethik ein evolutionärer Vorgang – worauf Udo Schlaudraff hingewiesen hat. Um des moralischen Fortschritts Willen müssen Rückfälle hinter das schon einmal Erreichte vermieden werden. Das Neue Testament, Christi Leben hat zu einer Überwindung der Opferrituale geführt. Christi Tod ist das unabänderlich geschehene Opfer, das alle Menschen in Zukunft befreit und eine Form menschlicher Lebensbewältigung ermöglicht, die darauf verzichtet, Lebensgewinn und Angstreduktion durch Ausgrenzung und Ausnutzung anderer zu erlangen. Ohnehin war mit dem Gebot der Nächstenliebe die Vernichtung von Leben durch eine Opferhandlung zugunsten von existierendem Leben nicht mehr vereinbar. Trotz vielfachen Verrats und schlimmer Grausamkeit der (Kirchen)-Geschichte ist dieses Grundverständnis doch wach geblieben. Frühformen des menschlichen Lebens zu nutzen, um potentielle Heilungschancen zukünftiger Patienten zu verbessern, erscheint tatsächlich als ein Rückfall in ein Verständnis, das Opfer für die Bewältigung der vorliegenden Ängste für nötig erachtet. Dass dazu u.U. weder Eltern noch Vormünder, geschweige denn wissenschaftlich Interessierte berechtigt sind, hat der Göttinger Philosoph Günter Patzig formuliert: Es besteht die Pflicht Interessen der Schutzbefohlenen wahrzunehmen und es besteht ein Verbot das anvertraute Leben aufzuopfern oder unter Gemeinschaftsinteressen aufzugeben – seien die Überlegungen auch noch so einleuchtend. Aus diesem Grund sei es legitim u.U. wissenschaftlichen Fortschritt einzuschränken, zumindest jedoch eine Verlangsamung des Fortschritts in Kauf zu nehmen.

Das hat nichts mit einer vermeintlichen Fortschrittsfeindlichkeit zu tun, denn der Sinn der Dinge liegt im Voranschreiten wie oben bereits erwähnt. Nicht das Berechenbare, sondern das Unerwartende öffnet die Möglichkeit der Veränderung und Verwandlung und es wird jedem Einzelnen von uns nicht erspart bleiben, sich diesem Unerwarteten zu stellen. Wie heißt es dazu in einem der Jugendbücher, die über das Werden und den Abschied des Menschen Aufschluss geben sollen: „Ich sage dir, es gibt keine göttliche Gnade, die es dir erspart, zu werden. Du möchtest sein. Du wirst in Gott zum Sein gelangen. Er wird dich bei deinem Namen rufen, wenn du langsam geworden bist, wenn du aus deinen Taten geformt wurdest; denn der Mensch, siehst du, bedarf einer langen Zeit für seine Geburt.“