Eingangsstatements der Podiumsdiskussion

"Deutscher Sonderweg? Nationale Entscheidungen in einem globalen Kontext"

Bioethik-Kongress in Berlin

Moderatorin Petra Bahr:  Dieses Podium ist mit einer provokanten Frage überschrieben. Mit dem geschichtspolitischen Leitbegriff des Sonderwegs verbindet sich die Vorstellung von der "verspäteten Nation" und dem anhaltenden Widerstand der Deutschen gegen Demokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - und damit gegen das große Projekt Westeuropas. Die Metapher vom Sonderweg hat daneben eine lange religionsgeschichtliche Tradition. Auf Sonderwegen gehen die Geweihten, die Auserwählten, die geistlichen Eliten. Diesen Hintergrund, um nicht zu sagen Abgrund des Leitbegriffes "Sonderweg", sollten wir nicht vergessen, wenn nun wir den nationalen Moraldiskurs vor einem gesamteuropäischen Horizont führen.

Dr. Rainer Gerold:  Zunächst einmal zu dem provokanten Titel "Deutscher Sonderweg", der ja sicher bewusst in dieser Form gewählt worden ist. Ich sehe es als völlig normal an, dass jedes Land versucht, seinen eigenen Weg zu gehen. Das tut Großbritannien, das tut Frankreich, das tun die USA, das tun auch kleinere Staaten, und warum soll das Deutschland nicht auch tun. Allerdings glaube ich, dass man sich auch mit den Meinungen der anderen Staaten auseinandersetzen sollte und diese bei der Erarbeitung des eigenen Standpunkts in die Überlegungen mit einbeziehen muss. Denn schließlich leben wir in einem gemeinsamen Europa und müssen auch miteinander handlungsfähig bleiben. Das ist mein erster Punkt.

Mein zweiter Punkt: Wie steht es mit einer einheitlichen europäischen Regelung? Es ist auf den ersten Blick etwas verwunderlich, dass in der Tat eine einheitliche europäische Regelung in Deutschland nun immer öfters gefordert wird. Dabei ist man in vielen anderen Bereichen ja gegen einheitliche Regelungen und eher für eine landesspezifische. Da kann der Verdacht aufkommen, dass man sich um die eigene klare Entscheidung drücken will und sie sozusagen auf die europäische Ebene schieben möchte. Das ist jetzt bewusst etwas provozierend ausgedrückt.

Wie sieht die Situation bei den ES-Zellen auf der Europäischen Ebene nun tatsächlich aus?

Zunächst zu den Mitgliedsländern. Man kann verschiedene Blöcke unterscheiden. Ich kann in der Kürze der Zeit nicht auf die einzelnen Unterschiede im Detail eingehen. Es gibt auf der einen Seite sehr liberale Positionen wie die des Vereinigten Königreichs und dagegen auch völlig restriktive wie z.B. Irland. Die gefährlichste Situation scheint mir aber dort zu liegen, und das ist leider die Mehrheit der Länder, die keine rechtliche Regelung für die Forschung an embryonaler Stammzellen haben, wo somit alles, zumindest rechtlich, erlaubt erscheint. Und diese Länder könnten uns im europäischen Forschungsrahmenprogramm, Schwierigkeiten bereiten, weil die Mittelvergabe im europäischen Forschungsrahmenprogramm sich weitgehend auf die nationalen Regelungen stützen wird.

Zweitens: Das europäische Parlament. Es hat den heroischen Versuch unternommen, zu einem einheitlichen Standpunkt zu kommen. Es hat sich dabei, trotz sehr intensiver und guter Arbeit offensichtlich übernommen. Es hat zu viele Themen auf einmal angefasst und ist damit nach einem Jahr harter Arbeit gescheitert. Dies ist unglücklich, weil natürlich ein misslungener Versuch immer belastet.

Der Versuch, eine "große" und schnelle Regelung aller mit der Humangenetik verbundenen Fragen herbeizuführen, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sehr wohl auch Bereiche der Ethik gibt, die auf europäischer Ebene geregelt wurden. Aber eher als ein Nebenprodukt für notwendige Marktregeln. Ich kann Ihnen drei Beispiele zitieren, in denen ethische Fragen geregelt worden sind: In der Patentrichtlinie für biotechnologische Erfindungen, in der Richtlinie zur guten klinischen Praxis, und schließlich auch im Forschungsrahmenprogramm, wo die Entscheidung zum 6. Forschungsrahmenprogramm in der ersten Hälfte des Jahres ansteht. Auch hier bin ich überzeugt, dass eine Entscheidung fallen wird.

Beim Forschungsrahmenprogramm hat das Parlament in erster Lesung bereits Position bezogen, die etwa auf der Mittellinie dessen liegt, was in den Mitgliedsstaaten besteht, soweit sie über gesetzliche Regelungen in diesem Bereich verfügen. Für eine Förderung von Forschung an embryonaler Stammzellen soll es einen Ausschluss geben für die Interventionen an der Keimbahn, für die Herstellung von Embryonen zum Zwecke der Forschung und für das menschliche reproduktive Klonen. Für alle weiteren Details werden die jeweils gültigen nationalen Regelungen zur Anwendung kommen.

Drittens, die letzte Frage, die vielleicht die interessanteste ist. Wie geht es weiter? Ich glaube nicht, dass wir kurzfristig eine einheitliche übergreifende europäische Lösung anstreben sollten. Nicht nur deshalb, weil es wahrscheinlich unmöglich ist, sondern auch, weil zunächst einmal eine breite Debatte geführt werden muss. In diesem Sinne gilt es den Dialog auch auf europäischer Ebene, also nicht nur auf nationaler Ebene wie jetzt in Deutschland, sehr intensiv zu führen. Dazu bieten sich verschiedene Ansatzpunkte.

  1. Sehr viele Mitgliedsstaaten und auch die EU haben einen Ethikrat. Liegt es da nicht nahe, dass ein Dialog zwischen diesen Ethikräten initiiert wird? Dies liegt umso näher, als etwa für Deutschland Herr Simitis, der dem deutschen Ethikrat vorsitzt, gleichzeitig auch Mitglied im europäischen Ethikrat ist.
     
  2. Gleichfalls sollten wir auch einen intensiven Erfahrungsaustausch der lokalen ethischen Komitees fördern. Viele dieser lokalen ethischen Komitees arbeiten sehr isoliert ohne Kontakt mit anderen Komitees, die die gleiche Arbeit tun, vor allem in den Kandidatenstaaten. Ein europäischer Kontakt und Austausch wäre sehr zu begrüßen.
     
  3. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass wir sehr hoch angesiedelte Debatten führen, in der Praxis aber häufig die Dinge nicht gut umsetzen, wenn es darum geht, Forschungsprojekte, Experimente an Mensch und Tier zu genehmigen oder auch nicht. Bei der ethischen Überprüfung, die wir (Europäische Kommission) in allen ethisch sensiblen Forschungsprojekten unternehmen, stelle ich immer wieder fest, dass Wissenschaftler sich häufig zu wenig mit den ethischen Grundsätzen ihrer Arbeit auseinander gesetzt haben.
     
  4. Wir müssen miteinander eine öffentliche Debatte auch auf europäischer Ebene führen. Das muss aber organisiert werden, denn diese wird durch die Sprachenvielfalt nicht von alleine entstehen.

Wir haben im Dezember letzten Jahres - wenn ich "wir" sage, ist es die Kommission - einen Aktionsplan über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft mit 38 Aktionen veröffentlicht. Er betrifft Wissenschaftsmedien, Wissenschafterziehung, Ethik, es betrifft aber auch die Frage, wie man die wissenschaftliche Beratung als Vorlauf für politische Entscheidungen verbessern kann. Ich würde mich freuen, wenn dieser Aktionsplan, der jetzt auch vom Ministerrat diskutiert werden wird, zumindest in einigen Punkten umgesetzt werden könnte. Bitte verstehen Sie mich nicht miss. Aber ich glaube, es sollte in der nächsten Zeit nicht um große gesetzliche Regelungen aus Brüssel gehen, sondern darum, mehr (in unserem Jargon:) "offene Koordinierung" anzustoßen, d.h. die Bereitschaft über anstehende Probleme auch mit den Mitgliedsländern gemeinsam zu diskutieren und dabei auch voneinander zu lernen.

Prof. Dr. Dr. Günter Stock:  Ich möchte gern fünf kurze Anmerkungen machen.

  1. Es ist, glaube ich, unbestritten, dass moderne Molekularwissenschaften, so wie wir sie heute erleben, international einen nie da gewesenen Aufschwung erfahren. Dieses gilt für die Ausbildung, es gilt für die wissenschaftliche Tätigkeit und es gilt auch für die Berufungspraxis an unsere wissenschaftlichen Institutionen. Es gibt praktisch kein Laboratorium mehr, sei es im akademischen Bereich oder in der Wirtschaft, in dem es nicht international zuginge. Von daher ist es sehr schwierig sich vorzustellen, dass alle sich von ein und derselben ethischen Grundhaltung leiten ließen.
     
  2. Wir sollten nicht unterschätzen, wie vernetzt Wissenschaft heute im Bereich der Molekularwissenschaften funktioniert. Wenn wir glauben, wir könnten Genomik, Proteomik, klassische Zellforschung betreiben und dabei das Thema Stammzellforschung ausblenden, dann irren wir. Die Gebiete sind sehr stark miteinander vernetzt, die einzelnen Themen ganz eng miteinander verwoben - einfaches Ausblenden funktioniert da nicht.
     
  3. Haben Stammzellen und die Stammzellforschung unmittelbare wirtschaftliche Bedeutung? Zunächst nicht. Es ist aber so, dass wenn wir regenerative Medizin wollen - d. h. die Wiederherstellung gestörter Funktionen, in einer alternden Gesellschaft, wo es auch um die Würde des Alterns geht, nicht um längeres, sondern um besseres Leben - dann werden wir nicht umhinkommen, intensiv über regenerative Medizin nachzudenken. Wir setzen ja bereits Zelltherapie ein. Wir können heute mit normalen Körperzellen Versuche machen, sie implantieren, um dadurch verlorene Funktionen zu ersetzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses gelingt, ist eher gering. Das bedeutet, wir werden aller Voraussicht nach auch Stammzellen brauchen. Ich schließe nicht aus, dass wir auf dem Weg zu einem Erfolg dazu auch embryonale Stammzellen werden brauchen müssen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir uns bemühen werden, - soweit es geht - adulte Stammzellen einzusetzen. Übrigens arbeiten wir in der Krebstherapie bereits mit adulten Stammzellen, die wir zur Regeneration der Blutbildungsfähigkeit brauchen. Das Thema ist also aus medizinischer Sicht nicht restlos fremd. Dennoch ist der Weg noch weit, aber möglicherweise auch voll von Überraschungen.

    Was die akademische Forschung, aber vor allem auch die industrielle Forschung angeht, so kann ich Sie beruhigen: Es gibt keinen Bereich, der so stark kontrolliert ist wie gerade dieser. Die Regularien, die bei der Entwicklung eines Medikaments zu beachten sind, gehen, glaube ich, in die Hunderte; es gibt keinen Schritt, den wir ohne Transparenz, ohne rechtliche Regelung durchführen können.
     
  4. Wie stehe ich zu der Frage der Güterabwägung? Halte ich eine Güterabwägung für legitim? Es wird ja sehr viel darüber gesprochen, dass das, was ich Morula, viele aber Embryo nennen, die Potentialität zum Leben hat, wobei dann häufig dieses mit Leben gleichgesetzt wird. In der Forschung ist es schwierig, eine ähnlich gewichtige Güterabwägung zu erkennen, weil wir ja von einer Hoffnung reden, die auf eine ferne Zukunft gerichtet ist. Aber die "Potentialität", dass Forschung erfolgreich sein wird, ist mindestens ebenso gegeben wie im anderen Fall. Denn die befruchtete Eizelle hat eine maximal 30 %ige Chance sich einzunisten. Ohne Implantation in den Uterus aber gibt es kein wirkliches Leben. Die Verschmelzung der Kerne, also der Gentransfer als solcher - ohne Zutun des mütterlichen Uterus - schafft unmittelbar noch kein Leben. Was mich überhaupt irritiert an der ganzen Diskussion ist, wie biologistisch Geisteswissenschaftler an dieser Stelle argumentieren. Die Verschmelzung zweier Genome macht noch keine Person und macht noch kein unmittelbares Leben.
     
  5. Wie stehe ich zum Sonderweg? Natürlich kann man einen solchen gehen. Die Frage ist: Dürfen wir, sollen wir, wollen wir ihn gehen? Ich will ihn nicht gehen. Ich würde mir wünschen, dass wir uns zumindest im europäischen, vielleicht aber sogar im weltweiten Kontext wiederfinden. Ich spreche von einer zivilisierten Welt, in der ich mich gerne gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern – und nicht außerhalb der internationalen Wissenschaftlergemeinde – wiederfinden möchte. Ich bin dafür, dass wir den Dialog auf europäischer Ebene führen. Aber ich bin dagegen, jetzt zu warten, bis alle Länder dasselbe Grundverständnis gefunden haben. Ich halte die Zeit für gekommen. Die Diskussion war seriös, sie war solide, sie war ausführlich. Ich sehe wenig Argumente, die noch nicht ausgetauscht worden sind. Wir müssen jetzt entscheiden. Ich wünsche mir eine Mehrheit zumindest für den Import von Stammzellen und die Freigabe der Forschung an ihnen. Wir brauchen dieses in der modernen Wissenschaft, und wir brauchen es auch im Namen der Medizin, die wir in Zukunft betreiben wollen.

 

Dr. Hermann Barth:  Ich konzentriere mich in der zur Verfügung stehenden Zeit auf einen einzigen Gesichtspunkt. Nämlich auf den im Raum stehenden Vorwurf, es sei Doppelmoral und Heuchelei, wenn wir in Deutschland zusehen, wie andere Länder Forschung mit embryonalen Stammzellen betreiben, uns selbst davon fernhalten, aber am Ende, wenn daraus nutzbringende Ergebnisse zustande gekommen sind, natürlich - und das sei Doppelmoral - diese Ergebnisse auch in Deutschland übernehmen. Nun bin ich heute morgen ein wenig irritiert worden, Herr Ganten, durch Ihre Bemerkung, in der Sie die Prognose abgegeben haben, in fünf Jahren würden wir erkennen, dass das Potenzial, das in der embryonalen Stammzellforschung liege, gar nicht so groß sei, wie heute manchmal dargestellt wird. Vielleicht erledigt sich das Problem also von selbst. Aber einmal unterstellt, es würde tatsächlich so kommen, wie manche versprochen haben, dass die embryonale Stammzellforschung sehr wichtige Ergebnisse zustande bringt, ist es dann - das ist meine Frage - eine verlogene Doppelmoral, wenn wir in Deutschland diese Ergebnisse übernähmen?

Dazu sage ich erstens: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Auch diejenigen, die den Vorwurf der Doppelmoral erheben, sind hineinverwoben in den Verwertungszusammenhang historischer Entwicklungen. Es ist in der Kulturgeschichte, in der politischen Geschichte, in der Wissenschaftsgeschichte ständig geschehen, dass wir von Ergebnissen profitieren, dass wir sie uns zu Nutze machen, dass wir uns an kulturellen Gegebenheiten erfreuen, deren Zustandekommen wir zugleich aus moralischen Gründen ablehnen oder gar verabscheuen. Gestern ist von Herrn Professor Nagel ein Beispiel aus der medizinischen Wissenschaftsgeschichte genannt worden. Ich lasse es als exemplarisches Beispiel hier stehen: die Ergebnisse, die im Nationalsozialismus im Blick auf Impfprogramme in verbrecherischer Weise gewonnen worden sind. Wir profitieren von diesen Ergebnissen, obwohl wir ihr Zustandekommen ablehnen.

Zweitens: Moralisch entscheidend ist für mich die Frage, ob jemand an diese Sache herangeht sozusagen mit dem Hintergedanken: Lass die anderen mal, wir machen uns die Finger nicht schmutzig, aber am Ende werden wir ja aus dem von mir beschriebenen Prozess dann den Nutzen auch selbst haben können. Ich gehöre zu denen - und ich kenne sehr viele andere -, die diesen verlogenen Hintergedanken nicht haben, sondern die sagen: Es geht hier um einen Prüfstein unserer Glaubwürdigkeit für die internationale Diskussion über Rechtsnormen. Etwa im Blick auf die Grundrechtecharta in der EU, etwa im Blick auf die früher sogenannte internationale Bioethikkonvention. Es ist ein Prüfstein auf unsere Glaubwürdigkeit, dass wir das, was wir in die internationale Diskussion über Rechtsnormen als Standard einbringen wollen, in unserem Land auch selbst nicht praktizieren. Insofern halte ich es nicht für Doppelmoral, sondern für einen legitimen und notwendigen Ausdruck unserer besonderen Möglichkeit eines Beitrags zur internationalen Rechtsentwicklung, wenn wir den deutschen Sonderweg in dieser Frage weitergehen.

Ulrike Riedel:  Ich möchte zunächst etwas zu dem Wort "Sonderweg" sagen. Ich weiß nicht, ob wir sagen sollten, dass wir einen Sonderweg beschreiten. Zum einen gibt es in Europa etliche Staaten, die ähnlich strenge Vorschriften in Bezug auf den Embryonenschutz haben wie wir, z.B. die Schweiz, Österreich, Norwegen, Irland. Zum anderen ist die Debatte im Ausland durchaus ähnlich, wenn man sich die Einzelheiten anschaut. Wenn man z.B. betrachtet, wie gerade wieder letzte Woche in Frankreich über die Frage der Forschung mit überzähligen Embryonen diskutiert wurde, so stellt man fest, dass die Argumente sehr nah an dem sind, was auch hier diskutiert wird. Das gilt auch für die USA - dort hat die Debatte massiv im letzten Sommer begonnen. Also die Wertekonflikte und die in anderen Staaten in der Debatte im einzelnen ausgetauschten und kontroversen Argumente sind die gleichen wie hier, wenngleich zum Teil mit anderen Mehrheitsergebnissen. Aber das heißt doch nicht, dass es darüber dann dort überhaupt keine Wertekonflikte mehr gibt. Seit längerem heißt es, dass in Frankreich demnächst eine gesetzliche Regelung erlassen wird, mit der die Stammzellforschung an überzähligen Embryonen zugelassen wird. Aber zunächst ist der Gesetzentwurf trotz intensiver parlamentarischer Debatte aufgeschoben und auf Eis gelegt worden, da im Frühjahr eine neue Nationalversammlung gewählt wird, so dass die Entscheidung wieder offen ist.

Weiter zum Sonderweg. Herr Stock hat daran appelliert, dass wir international wettbewerbsfähig bleiben müssen. Ich kann dazu nur sagen: Deutschland ist in der Biotechnologie die Nr. 1 in Europa und zwar trotz des Embryonenschutzgesetzes. Deutschland ist in der Biotechnologie im europäischen Vergleich insgesamt wirtschaftlich sehr stark. Die Frage ist nun, ob man ausgerechnet im Bereich der embryonalen Stammzellforschung, der wirtschaftlich zurzeit keine Rolle spielt, sagen sollten, wir wollen den Anschluss an die Forschung in anderen Staaten oder ob wir nicht eher sagen sollten, wir wollen hier eine alternative Forschung, wo wir dann auch die ersten sein werden, z.B. in der adulten Stammzellforschung. Es könnte ja auch gerade ein Vorteil sein, wenn wir es anders machen, wenn wir andere Schwerpunkte setzen, gerade damit könnten wir konkurrenzfähig sein. Ethisch hohe Standards sind m.E. ein Standortvorteil und kein Standortnachteil.

Ich denke, wir haben überhaupt keine andere Wahl, als die Debatte intensiv bei uns selbst zu führen, statt ins Ausland zu schauen, wenngleich wir natürlich unsere Entscheidungen im Einklang mit dem geltenden europäischen Recht treffen müssen. Aber orientieren  müssen wir uns an unseren eigenen verfassungsrechtlichen Maßstäben und nicht an denjenigen anderer Staaten. Denn das Problem ist einerseits, dass Wirtschaft und Wissenschaft zunehmend globalisiert sind, aber andererseits hat, solange es Nationalstaaten gibt, sich jeder Nationalstaat an seiner eigenen Verfassung, an seiner grundlegenden Werteordnung, auszurichten. Wir können uns nicht an anderen Staaten ausrichten. Denn dies würde darauf hinauslaufen, dass dann immer nur das ethische Minimum, auf das sich alle einigen können, als Wertmaßstab gilt. Ich glaube, dass niemand hier im Saal will, dass das ethische Minimum zum europäischen Wertekonsens wird. Nein, wir müssen unsere ethischen Prinzipien in die Debatte in Europa einbringen und versuchen, soviel wie möglich davon durchzusetzen. Natürlich müssen wir auch die anderen Rechtsordnungen, denen andere Entscheidungen zugrunde liegen, respektieren. Aber der Respekt vor anderen Rechtsordnungen verlangt nicht die Billigung oder gar die Übernahme dieser Rechtsordnungen. Respekt vor anderen Rechtsordnungen ist etwas anderes als diese Rechtsordnungen zu übernehmen.

Ich möchte noch kurz etwas sagen zu dem jetzt anstehenden Konflikt im Bundestag. Der Bundestag wird eine gesetzliche Regelung, das zeichnet sich ab, zum Stammzellimport treffen. Das ist ja ein Gebiet, wo ausländisches und innerstaatliches Recht direkt miteinander zusammenhängen, und die Entscheidungskonflikte, was im Ausland gemacht werden darf und was wir nicht machen wollen, sind hier in der Sache selbst unmittelbar miteinander verbunden. Ich denke, wenn wir eine Regelung treffen, die den Stammzellimport beschränkt oder ausschließt, dass dies für die europäische und auch für die weltweite Debatte um ethische Grundlagen der Forschung eine große Bedeutung und Auswirkungen haben wird. Das darf man m.E. nicht unterschätzen.

Prof. Dr. Dr. Trutz Rendtorff:  Wie geht es weiter? Herr Gerold hat die Frage schon gestellt und es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch die richtige und wichtige Frage. Das Ende des heutigen Vormittags hat dafür ein sehr schönes Ergebnis gebracht. Herr Ganten und Herr Bischof Huber haben sich darauf verständigt, dass diese Diskussion notwendig ist, dass sich die unterschiedlichen Meinungen gegenseitig befruchtet haben und insofern der gesellschaftliche Diskurs eine wesentliche Bedeutung auch für unsere politische Kultur hat. Das festzustellen, halte ich schon für ganz wichtig. Wobei nicht zu vergessen ist, dass gerade einer der oft geschmähten Leute wie Ernst-Ludwig Winnacker für diese Diskussion ganz entscheidende Anregungen und Impulse immer wieder gegeben hat. Unter dieser Voraussetzung habe ich mich gefragt, wie das Thema des Podiums "Deutscher Sonderweg" im Blick auf die EKD zu verstehen ist. Es ist gestern da vom "ökumenischen Dogma" gesprochen worden. Die EKD legt großen Wert auf ihre ökumenische Einheit innerhalb der Bundesrepublik. Aber in der Frage "Wie geht es weiter?" wird man darauf achten müssen: Es muss auch ökumenisch diskutiert werden mit der französisch-reformierten Kirche, der schottischen Kirche usw. Die EKD sollte ernst nehmen, dass es nicht nur einen innerdeutschen protestantischen Pluralismus gibt, sondern auch einen ökumenischen protestantischen Pluralismus, der hier noch nicht präsent war. Diese ökumenische Diskussion sollte geführt werden. Das spricht nicht dagegen, das ist mein zweiter Punkt, dass zunächst erst einmal innerhalb eines gegebenen Kontextes, wie wir das getan haben, diskutiert worden ist. Aber das ist jetzt geschehen. Nun sollte die Ökumenisierung der Diskussion im protestantischen Sinne für die EKD als eine wichtige Herausforderung aufgenommen werden.

Ich will jetzt keine Argumente zum Import von ES-Zellen wiederholen, die hinlänglich und erschöpfend ausgetauscht worden sind. Man muss die Fragen stellen, das ist mein zweiter Punkt, wie es weitergeht gerade bei bleibenden unterschiedlichen Standpunkten, und nach einer politischen Entscheidung. Ich habe dafür drei ganz einfache Regeln anzubieten, die dabei eine Rolle spielen sollten. Die erste lautet "Unterscheiden": Man sollte sich bemühen - alle sollten sich bemühen - zu unterscheiden zwischen dem, was entschieden werden kann, und dem, was unentscheidbar ist. Es ist sehr vieles und z.T. sehr Verschiedenes gleichzeitig im Spiel. Gerade nach dem, was Herr Ganten vorgetragen hat und jetzt Herr Stock, muss man dabei festhalten: Es stehen eben nicht grundsätzliche weltanschauliche Differenzen letzten Endes zur Entscheidung, sondern ganz konkrete Handlungen, Vorgehensweisen, Verfahren, die konkret kontrolliert, begründet und begrenzt werden sollen und können.

Neben dem Unterscheiden ist die zweite wichtige Regel "Begrenzen". Was eigentlich will die Forschung, was kann sie tatsächlich tun und erreichen, nämlich gegenüber all dem, was an Erwartungen, teilweise sinnlosen Erwartungen, und Befürchtungen in der Diskussion mit der Forschung verbunden wird? Begrenzen bedeutet z.B. - gerade ist das Stichwort "regenerative Medizin" gefallen -: Nicht die Biologen haben die Macht über die Menschen, d.h. zu Eingriffen in den Menschen. In der konkreten Anwendung sind es die Ärzte, geht es also um das, was im ärztlichen Handeln unter Wahrung der Patientenautonomie verantwortet werden kann.

Meine dritte Regel lautet "Einordnen". Alle Einzelforschungen, wie revolutionär sie auch daher kommen, müssen eingeordnet werden in die Gesamtheit unserer Lebensführung, wenn sie für die Gesellschaft relevant werden sollen, sie müssen zuvor aber vor allem auch eingeordnet werden in den weiteren größeren Zusammenhang der wissenschaftlichen Forschung. Das kann sich nur über Stadien der Normalisierung und Minimierung im Konkreten vollziehen. Das gilt auch für die großen, durch Freiheit und freies Interesse bestimmten Erwartungen, die die Bürger in diesem Lande hegen. Diese drei Kriterien - unterscheiden, begrenzen, einordnen - sind m.E. hilfreich dafür, um einen Korridor zu bilden, ein Geländer, an dem man sich für die Frage "Wie geht es weiter?" orientieren kann. Auch wo die Frage aufgeworfen wird, ob es ums Ganze geht, muss man weitergehen und sich klarmachen, worum es denn in concreto gehen soll. Wenn diese Diskussion eine Zukunft haben soll und nicht nur den parlamentarischen Entscheidungen überlassen werden soll - das können wir nicht wollen, wir können nicht wollen, dass der Staat alle diese Dinge entscheidet -, dann muss der freiheitliche Umgang mit diesen Fragen den vielen, die daran beteiligt sind, gewährleistet sein. Dazu gehören dann z.B. die Ethikräte, sie sind genannt worden; die vielen Kontrollinstanzen, die bereits bestehen, müssen gestärkt werden in der ihnen zukommenden Eigenverantwortung. Es wäre schlecht, wenn wir zu einer Verstaatlichung unserer ethischen und religiösen Diskussionen kommen würden. Und darum also: Wie geht es weiter? Ökumenisierung und Differenzierung nach einfachen Regeln der praktischen Vernunft in diesen Diskussionen. Die Grundfragen werden uns ja treu bleiben. Dafür werden die Kirchen sorgen, dafür werden die, die ihnen widersprechen, auch sorgen. Darüber müssen wir uns keine Sorge machen. Aber dass es in allem Widerstreit doch um eine für alle akzeptable Form im Umgang damit geht, die konkrete Problemlösungen erlaubt, auch wenn nicht alles gelöst werden kann, dafür gibt es eine eigene Verantwortung auch der evangelischen Kirche.