Der menschliche Embryo - ein embryonaler Mensch?

Klaus Tanner

Anläßlich des Bioethik-Kongresses in Berlin

Vortrag von Prof. Dr. Klaus Tanner beim Kongress der EKD „Zum Bild Gottes geschaffen. Bioethik in evangelischer Perspektive“ am 28./29. Januar 2002

In unserer Rechtskultur gilt noch immer die Geburt als ein Einschnitt, der für die Bestimmung von Rechten und Pflichten für den Umgang miteinander eine entscheidende Rolle spielt. In Dokumenten, mit denen wir unsere Identität ausweisen, steht „geboren am ...“. Es steht dort nicht „Verschmelzung von Ei und Samenzelle am ...“. Und die Taufe wird bis auf weiteres wohl auch nach der Geburt stattfinden.

Die bis heute gültige herausgehobene Bedeutung der Geburt impliziert keineswegs, dass das vorgeburtliche Leben als schutzlos galt. In rechtshistorischen Studien wurde gezeigt: Die Ausdehnung des Lebensschutzes auf das ungeborene Leben steht in engem Zusammenhang mit dem Einfluss des christlichen Denkens auf die Rechtsentwicklung (1). Diese schutzerweiternde Tendenz führte zugleich aber zu neuen Abgrenzungsproblemen: Ab wann gilt ein noch nicht geborener Mensch als „lebendig“, in alter Terminologie als „beseelt“? Auf diese Frage sind in der christlichen Tradition unterschiedliche Antworten gegeben worden (2) .

Die mit dem Christentum einhergehende Ausweitung des Lebensschutzes führte nicht zu einem „absoluten“ Lebensschutz. Die wird mindestens an vier Punkten deutlich. Die Tötung von sog. „Missgeburten“ galt noch bis in den Beginn der Neuzeit hinein durchaus als legitim. Das Töten und Sterben im Krieg galt im Hauptstrom des Christentums nicht als moralisch verwerflich. Die Todesstrafe wurde nicht nur von dem in gegenwärtigen Debatten viel zitierten Immanuel Kant bejaht. Auch die Mehrzahl der Theologen waren noch in der Strafrechtsreform im Nachkriegsdeutschland keineswegs Verfechter eines „absoluten Lebensschutzes“. In den Auseinandersetzungen um die Regelung für Schwangerschaftsabbrüche haben die evangelischen Kirchen anerkannt, dass es Konfliktfälle geben kann, die dazu führen, dass der Lebensschutz eingeschränkt werden kann.

Die moderne Reproduktionsmedizin und molekulare Zellbiologie haben uns einen neuen Schub von Abgrenzungsproblemen in Fragen der Schutzwürdigkeit vorgeburtlichen menschlichen Lebens beschert. Sind die ersten Zellentwicklungsstadien „Mensch“ im vollen Sinn des Wortes wie der Geborene?

In den Versuchen, die Grenzen neu zu definieren, lässt sich in der Gegenwart eine Diffundierung der Begrifflichkeit beobachten. Mit dem deutschen Embryonenschutzgesetz wurde z.B. eine neue normative Definition von „Embryo“ festgelegt. Bewusst wird abgewichen von der fachwissenschaftlichen Terminologie. Was in der Embryologie in der ersten Woche nach der Fertilisation als „Zygote“ bezeichnet wird, wird zum „Embryo“ umdefiniert. Das Interesse ist dabei klar benannt worden. Der Einsatz juristischer Definitionsmacht in § 8 EschG dient dazu, den Schutzbereich des Gesetzes möglichst weit zu fassen (3) . In englischen Stellungnahmen, z.B. im Warnock Report von 1984 wird dagegen der Begriff „preembryo“ verwendet. Im Bericht der amerikanischen „National Bioethics Advisory Commission“ zu den ethischen Problemen der Stammzellforschung wird ausdrücklich auf diese unterschiedlichen Verwendungsweisen von Begriffen hingewiesen (4). Dabei geht es nicht um Begriffsklauberei. Über die Definitionen werden die Weichen gestellt für ethische Urteile. In einem vom Europäischen Parlament herausgegebenen Bericht bemerkt der Verfasser Tony McGleenan, weil es solche Unterschiede gebe, „erfordert der Umgang mit diesen Begriffen (Embryo, Zygote, Präembryo) bei der Erarbeitung verbindlicher Normen einiges an Fingerspitzengefühl“( 5).

Fingerspitzengefühl ist notwendig, weil die unterschiedlichen Verwendungsweisen ein Indiz für tiefer sitzende Probleme sind. In der uneinheitlichen Begrifflichkeit spiegeln sich die Unterschiede der ethischen Kulturen und historischen Erfahrungen. In den Mütterländern des Menschenrechtsdenkens, in England, den USA und Frankreich wird - auch in den Kirchen - nicht in gleicher Intensität wie in Deutschland in der Embryonenforschung ein Angriff auf "Würde des Menschen“ gesehen (6). Es sind die Erfahrungen mit der von Deutschen zu verantwortenden Missachtung und Verletzung elementarer Freiheitsrechte in der Zeit des Nationalsozialismus, die bei uns nach wie vor einen Resonanzboden für die bioethischen Diskussionen bilden. Diese Tendenz zu einem deutschen Sonderweg steht in Spannung zu allen Bemühungen, auf europäischer Ebene Rahmenregelungen für die Biomedizin zu entwickeln. Etwas vermessen wäre es, zu glauben, vor allem in Deutschland hätte man eine Sensibilität für „Würdeverletzungen“, die andernorts fehlt.

Auch die deutschen Kirchen beteiligen sich gegenwärtig an der interessegeleiteten Diffundierung der Begrifflichkeit. Die führenden Repräsentanten der evangelischen und katholischen Kirche haben anlässlich der Debatte und Entscheidung über den Import von humanen pluripotenten Stammzelllinien an alle Bundestagsabgeordneten geschrieben. In ihrem Brief verwenden sie den Ausdruck „embryonaler Mensch“. Diese Semantik zielt darauf, die Unterschiede zwischen den frühesten Stadien menschlichen Lebens in utero oder in vitro und dem Leben eines Geborenen einzuziehen. Dementsprechend wird „Menschenwürde“ schon der einzelnen befruchteten weiblichen Eizelle zugesprochen.

Die Behauptung, die Verschmelzung von Ei und Samenzelle sei der Beginn „menschlichen Lebens“ und eines absoluten Würdeschutzes, ist zum neuen ökumenischen Dogma der Kirchenleitungen geworden.

Immer wieder wird in kirchlichen Papieren vom unbedingten Schutz „menschlichen Lebens“ gesprochen. Unterschiede werden dabei schnell verwischt. Jede menschliche Zelle ist „menschliches Leben“. Manche dieser Zellen werden tagtäglich gezielt zerstört z.B. bei der Krebsbehandlung. Offensichtlich ist nicht jede Zelle, jedes „menschliche Leben“ schützenswert. Soll „menschliches Leben“ eine individuelle Lebensgeschichte, eine Biographie bezeichnen, dann bewegen wir uns in einer Dimension, die mit biologischen Beschreibungen nicht mehr zu erfassen ist. Beginnt die Geschichte eines Menschen wirklich erst mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle? Die biochemischen Informationen in Ei und Samenzelle sind vor diesem „Beginn“ da und gehören doch wohl mit in diese Geschichte? Anfänge sind wohl schwieriger zu definieren als es auf den ersten Blick erscheint. Gehört der Entschluss eines Paares, Kinder zu bekommen, nicht ebenfalls mit zu dieser Geschichte? Gerade an Paaren, die sich einer IFV-Behandlung unterziehen, lässt sich studieren, welche wirklichkeitsprägende Macht der scheinbar „bloße Gedanke“ haben kann, ein Kind zu wollen. Wer meint, Anfänge in Lebensgeschichten punktgenau definieren zu können, reduziert kräftig die Vielfalt und Komplexität menschlicher Lebensdimensionen und Lebensbezüge. Naturwissenschaftlich gesehen ereignen sich am Beginn eines neuen Lebens immer wieder die gleichen biochemischen Vorgänge. Wenn wir vom Beginn einer individuellen Lebensgeschichte sprechen, bezeichnen wird etwas Neues, das sich mit der biologischen Beschreibungssprache nicht zureichend erfassen lässt.

Mit der Zusammenziehung von Lebensschutz, Würdeschutz und Fertilisation auf einen genau datierbaren Punkt wird auch die im Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anzutreffende Unterscheidung zwischen „Würdeschutz“ (Art. 1 Abs. 1 GG) und „Lebensschutz“ (Art. 2 Abs. 2 GG) weitgehend für ethisch bedeutungslos erklärt. Damit gerät zugleich jeder, der anders votiert, in den „Geruch“, die „Menschenwürde“ nicht ernst genug zu nehmen und bewusst oder unreflektiert die Tötung von „kleinen Menschen“ zu legitimieren.

Auf die problematischen Folgen solcher Begriffsstrategien hat Jürgen Habermas hingewiesen. Er warnte, wie vor ihm schon wiederholt Juristen (7) , vor der „kontraintuitiven Überdehnung ... moralisch gesättigter juristischer Begriffe“ wie „Menschenwürde“. Sie könnten dadurch „ihre Trennschärfe“ und ihr „kritisches Potential“ verlieren (8). „Kontraintuitiv“ können solche Überdehnungen deshalb bezeichnet werden, weil im Alltagsverständnis viele Bürgerinnen und Bürger doch einen Unterschied machen zwischen geborenem und ungeborenem Leben. Das Gespür für Unterscheidungen spiegelt sich auch in der kirchlichen Ritualpraxis. Embryonen werden bislang noch nicht beerdigt.

Die Debatten um die Reichweite und konkrete Ausgestaltung des vorgeburtlichen Lebensschutzes haben sich verdichtet unter dem Stichwort „Status des Embryos“. In der Gegenwart wird immer wieder betont, dass die Frage der ethischen Zulässigkeit der Forschung mit humanen ES-Zellen zu unterscheiden sind von der Abtreibungsdiskussion. Begriffe und Argumente in der Debatte zeigen allerdings, welcher Zusammenhang doch besteht. Der Begriff „Status des Embryo“ erlebte seine Karriere in der Abtreibungsdiskussion. Die am häufigsten zitierten Texte des Bundesverfassungsgerichtes sind die beiden sog. „Abtreibungsurteile“ (9) . Mit diesen Entscheidungen wird die Bedeutung eines anderen Einschnitts in der vorgeburtlichen Entwicklung unterstrichen, die der Nidation. Über die Zeit vor der Nidation gibt es keine letztinstanzliche Entscheidung, sondern nur Extrapolationen und Vermutungen, wie das Gericht wohl entscheiden würde.

Konsens in der Debatte ist mittlerweile, dass alle „Statusdefinitionen“ vom Menschen zu verantwortende Zuschreibungen sind. In diesen Zuschreibungen spielen kulturelle Wahrnehmungsmuster, Hintergrundüberzeugungen und sog. „biologische Fakten“ eine Rolle. Der Mensch existiert nur leibgebunden. Insofern gehören die biologischen Fakten notwendig mit zu seiner Existenz. Sie sind aber keineswegs hinreichend zu seiner angemessenen Erfassung. Wie die Faktoren im einzelnen zu gewichten und ins Verhältnis zu setzen sind, ist umstritten. Beobachten lässt sich immer wieder die Tendenz, den sicheren Boden für die Urteilsbildung in naturwissenschaftlich erhebbaren und deshalb „objektiven“ Fakten zu suchen. Jede solche Heranziehung von biologischen Fakten verdankt sich jedoch einem interpretierenden und wertenden Zugriff. Die kulturelle Dimension hat deshalb solch ein Gewicht, weil es eben nicht um den Schutz des Mäuseembryo, sondern um den Schutz menschlichen Lebens geht. Alle Definitionsversuche des spezifisch menschlichen, ob nun „homo sapiens“, „zoon politikon“, animal rationale“ oder „animal symbolicum“ haben eines gemeinsam: Sie kennzeichnen den Menschen als jemanden, der mehr ist als seine biologische Ausstattung. Alle mit naturwissenschaftlichen Methoden feststellbaren Sachverhalte können den Begriff „Mensch“ nicht zureichend erfassen. Zur „Natur“ des Menschen gehört seine Kulturbezogenheit.

Keinen Konsens gibt es darüber, welche Beschreibungssprache wir brauchen, um diese über das Biologische hinausgehende, für das Menschsein konstitutive Dimension zu erfassen. Begriffe wie Geist, Vernunft, Person, Freiheit, Würde indizieren diese andere Dimension. Die lange Geschichte der Reflexion über das spezifisch Menschliche hat immer wieder dazu geführt, dass Denker auf die Grenzen der Möglichkeiten unseren adäquaten Selbsterfassung hingewiesen haben. Exemplarisch sei Ernst Cassirers „Versuch über den Menschen“ aus dem Jahr 1944 zitiert: Das, was der Mensch ist, „sperrt sich gegen jeden Versuch, es auf eine einzige schlichte Formel zu bringen ... Der Mensch besitzt kein „Wesen“ - kein einfaches in sich geschlossenes Sein“ (10).

Die Dauerdiskussion um das „richtige“ Verständnis der Menschenwürde in Art. 1 GG hat diese Einsicht auf ihre Weise bestätigt. Bis heute ist es nicht gelungen, den Sinn dieses Begriffs positiv umfassend zu formulieren. Vor allem von den Würdeverletzungen her und in einem geschichtlichen Prozess kontinuierlicher Auslegung lässt sich der Sinn immer wieder nur fragmentarisch präzisieren. Diese Auslegungsgeschichte hat immer wieder gezeigt, was Theodor Heuss im parlamentarischen Rat bei den Beratungen über Artikel 1 formulierte: der Begriff sei zu verstehen als eine „nicht interpretierte These“ (11).

Zunehmen deutlich geworden ist, dass alle Statusdefinitionen ein dezisionistisches Element (12) beinhalten, das durch keine „logische“ Ableitungen oder den Rekurs auf biologische Tatsachen aufgelöst werden kann. Die Vertreter der These, Lebens- und Würdeschutz beginne mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle behaupten, die Setzung aller anderen Einschnitte sei „willkürlich“, nur ihre nicht. Die Strategien der Gleichsetzung von vorgeburtlichem und geborenem Leben operieren mit den sog. Kontinuitäts- Identitäts- Potentialitätsthesen. Den Ausgangspunkt für alle diese Thesen bildet immer unser Bild vom geborenen Menschen. Von seiner Wirklichkeit aus werden rückschließend Wertungen über den Anfang des Prozesses der Menschwerdung vollzogen. Niemand kann dabei sinnvoll bestreiten, dass sich vom Einzellstadium bis zu dem Menschen, der jeder von uns heute ist, ein allumfassender Wandel vollzogen hat. Gerade biologisch betrachtet ändert sich alles bis auf einen Punkt, die genetische Ausstattung. Wer an der Verschmelzung von Ei und Samenzelle die Identität festmacht, wählt jedenfalls den genetischen Code als Schlüsselmerkmal des Menschen. Gegen eine solche Engführung wurde schon in einem Papier des Weltkirchenrats 1982 argumentiert: „The fertilized egg has indeed, with one qualification, the chemical individuality (the DNA or genetic code) of a potential person. ... But what crass materialism to equate the chemical individuality of a person with the person“ (13).

Mit dem Potentialitätsargument wird die Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit verwischt. Ein „potentieller“ Mensch ist noch kein „wirklicher“ Mensch. Den Begriff der Möglichkeit unterscheidet vom Begriff der Wirklichkeit eben dies, dass er das mögliche Nichtrealisieren seiner Potenz mit umfasst. Für mehr als 50 % der befruchteten Eizellen gilt, dass sie ein Potential zum Absterben realisieren. Eine Gewissheit, die sich nur von der gelungenen Realisierung her einstellen kann, wird rückprojiziert auf einen Anfangszustand, der voller Kontingenz ist. Das dezisionistische Element wird an diesem gezielten Übergehen der Kontingenz deutlich. Das lässt sich auch an der Regelung von § 8 Abs. 2 EschG ablesen. Über das Entwicklungspotential einer befruchteten Eizelle lässt sich in den ersten 20 Stunden keine sichere Aussage machen. Ein Telos, das dieser Zellen immanent sein soll, wird auf dem Hintergrund eines aristotelisch gefärbten Naturverständnisses einfach postuliert. Deshalb soll die Zelle in den ersten 24 Stunden so behandelt werden, als ob sie entwicklungsfähig ist, auch wenn es dafür keine sicheren naturwissenschaftlichen Anhaltspunkte gibt. Das dezisionistische Element des Potentialitätsarguments läßt sich weiter daran beobachten, dass ein Prozess, den die Verschmelzung darstellt, zu einem Zeitpunkt umdefiniert wird. Teile des Prozesses, die sog. Vorkernstadien, werden aus legitimen medizinischen Gründen, dem Interesse an der Kryokonservierung, aus dem Schutzbereich ausgeschlossen. De facto ist nach dem Eindringen des Spermiums in die Eizelle aber die Information, die wenig später nach gelungener Kernverschmelzung für die weitere Entwicklung als notwendig unterstellt wird, bereits in der Zelle.

Auf die Probleme und argumentativen Schwächen der Statusdefinitionen ist mittlerweile wiederholt hingewiesen worden. Carmen Kaminsky etwa spricht davon, dass die Statusdiskussion „gescheitert“ sei (14). Für Jürgen Habermas bietet die Statusfrage keinen Lösungsansatz, weil jede Statusbestimmung „nur auf der Grundlage weltanschaulich imprägnierter Beschreibungen“ möglich sei, und eben diese Imprägnierungen „vernünftigerweise umstritten bleiben“ (15). Auch wenn die Statusfrage offensichtlich zu keiner für alle akzeptablen Lösung führen kann, wird doch von verschiedenen Seiten anerkannt, dass sie eine wichtige „symbolische Funktion“ (16) hat. Der „embryonale Mensch“ bzw. das vorgeburtliche Leben haben eine Platzhalterfunktion. Mit ihnen würden entscheidende ethische Fundamente unseres Zusammenlebens verteidigt. Diese Platzhalterfunktion der Sorge um den Embryo hat Habermas klar formuliert: „Unsere Auffassung von - und unser Umgang - mit vorpersonalem menschlichem Leben bilden sozusagen eine stabilisierende gattungsethische Umgebung für die vernünftige Moral der Menschenrechtssubjekte - einen Einbettungskontext, der nicht wegbrechen darf, wenn nicht die Moral selbst ins Rutschen kommen soll“ (17).

In die Auseinandersetzungen um die angemessene Beschreibungssprache haben sich die Kirchen mit ihrer religiösen Semantik gemischt. In Deutschland konnte man den Eindruck gewinnen, als handele es sich bei der religiösen Sprache vor allem um eine moralische Appellsprache, die ihren Sinn darin hat, „eindeutige“ Verbote zu formulieren. Ein Blick über die Grenzen zeigt allerdings schnell, dass diese Eindeutigkeit keineswegs so eindeutig ist. In einem Bericht der American Association for the Advancement of Science heißt es zutreffend: „Religious traditions vary quite considerably in their views on the status of the human embryo and on the question of whether the embryo is to be regarded as a fully human person from the moment of conception“ (18).

Eine zentrale Rolle spielt in der deutschen Diskussion der Topos von der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen. In ihr sei die Würde „begründet“ und sie sei mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle gegeben. So vollmundig und gleichsam empirisch identifizierend kann im Protestantismus aber nur geredet werden, wo die eigene Tradition abgeblendet wird. In der Tradition gab es keineswegs ein so großes Einvernehmen über den Stellenwert und den Sinn des Redens von der Gottebenbildlichkeit. Der Theologe Friedrich Karl Schumann stellte fest: „Die Lehre von der imago dei im Menschen ist zu allen Zeiten ein sehr verschieden gewendetes und unter stark wechselnden Antrieben stehendes Stück christlicher Lehrbildung gewesen“ (19). Gründe für dieses Schwanken und die Unsicherheit liegen schon in den exegetischen Grundlagen. Claus Westermann hat in seinem Genesiskommentar mit Nachdruck herausgearbeitet, dass es sich bei Gen. 1,26 vorrangig um eine Aussage über das Handeln Gottes und nicht über eine Beschaffenheit des Menschen handelt. Wer das in diesem Text Gemeinte auf die Art des Anfangs eines Lebens, die wir kennen, Zeugung und Geburt, bezieht, verfehle den „wesentlichen Charakter“ dieser Aussagen. Mit dem „Gott schuf den Menschen ...“ werde „ein Anfang des Menschen ausgesagt, der unserem Verstehen nicht zugänglich ist“ (20). In den Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirchen, in Artikel II der Apologie gilt die imago Dei als verloren (21). Vermutlich durch Einflüsse des Renaissance-Humanismus wird später dann die imago-Lehre umgebildet zu einem Topos, der etwas aussagt über eine schöpferische potentia des Menschen, die er gleichwohl aber als ein Geschenk erlebt (22). Diesem Verständnis zufolge realisiert der Mensch seine Würde, wenn er diese geschenkte kreative Kraft schöpferisch einsetzt. Bei Johann Gottfried Herder ist diese Transformation vollzogen. Er kann schreiben, die Gottheit sprach „Sei mein Bild, ein Gott auf Erden! Herrsche und walte“ (23). Auch Herder gilt die Ebenbildlichkeit nicht als etwas, was einfach vorhanden ist wie eine menschliche Eigenschaft. Sie gilt als eine Zielbestimmung, die es in einem geschichtlichen Prozess erst zu realisieren gilt. Diese Zukunftsdimension einer werdenden Gottebenbildlichkeit ist dann unter dem Stichwort „eschatologische Bestimmung“ zunehmend stärker herausgearbeitet worden (24).

Alle theologischen Redeweisen von der „Gottebenbildlichkeit“ haben bei allem „Schwanken“ zwei Dinge immer festgehalten. Zum einen wurde betont, dass „Mensch“ etwas bezeichnet, was entscheidend durch Relationen geprägt ist, nicht nur durch die Relation der Selbstbezüglichkeit wie sie mit Selbstbewußtsein, Personalität und Vernünftigkeit und der Beziehung auf den eigenen Leib gegeben ist, sondern auch durch die Beziehungen auf das, was Jenseits seiner selbst liegt. Dieses Andere seiner Selbst sind das „Du“ und die soziale Gemeinschaft, ohne die der Mensch nicht zu Menschen werden kann. Die zum Reduktionismus tendierenden Statustheorien blenden diese lebensnotwendigen Beziehungen ab. Mancher Streit erweckt den Eindruck, als sei eine Mutter eine vernachlässigbare Randbedingung für das Ablaufen eines genetischen Programms. Im französisch-sprachigen Protestantismus wurde schon 1990 von dem Theologen Jean-Marie Thevoz eine Position formuliert, die dieser relationalen Grundstruktur menschlichen Lebens stärker Rechnung trug. Thevoz vertrat keine abstrakte Statustheorie, die einen intrinsischen Wert des Embryos behauptet, ohne das soziale Beziehungsgefüge mit zu bedenken in dem Embryonen in vitro entstehen. Gerade die Beziehungen der Eltern zum Embryo, ihre Hoffnungen und Erwartung sind es, welche entscheidend seien für die Bestimmung des Status eines Embryos. Wo dieses Beziehungsnetz wegfalle, weil die Eltern ein Kind bekommen haben, oder keines mehr wollen, zeige der Embryo zwar weiter „Zeichen des zellulären Lebens“. Aber ohne die Zukunft, die ihm nur die Mutter gewähren kann, sei er bereits „menschlich tot“ (25). Da für einen solchen Embryo eine Lebenschance im Rahmen einer Schwangerschaft nicht mehr gegeben sei, könne er für die Forschung verwendet werde.

Ein zweites Motiv durchzieht das christliche Reden von der Gottebenbildlichkeit. Es war ein Reden, das sich der Grenzen seiner Definitionsmacht bewusst war. F. K. Schuhmann formulierte das folgendermaßen: „Die Imago Dei in homine besteht aber nicht in irgend etwas am Menschen ... sondern sie liegt als etwas nicht Aufweisbares, Unanschauliches, Nichtbeschreibbares ... auf dem Ganzen des menschlichen Wesens“ (26). Dieser Grundton klang auch exemplarisch bei Cassirer oder Heuß schon an. Der Anfang einer „geschichtlichen Existenz eines Individuums“ (27) läßt sich offenbar nur sehr begrenzt mittels biologischer Zäsuren erfassen. Der angemessene Ausdruck für dieses Undefinierbare des Menschen ist „Geheimnis“. Augustin kam in seinen Meditationen über die Zeit, die durch den biblischen Satz „Am Anfang schuf Gott ...“ ausgelöst waren, zu der Überzeugung, dass das hier gemeinte „Beginnen“ ein „aenigma“ für den Menschen bleibt (28). Solches Reden ist kein Mystizismus, für den unter modernen Erkenntnisbedingungen kein Platz mehr ist. Kant hat immer wieder in seinen Analysen darauf hingewiesen, dass der Grund unserer Freiheit unserem Erkennen unzugänglich bleibt. Er sprach von der „unerforschlichen Weisheit, durch die wir existieren“, bzw. von der „unbegreiflichen Eigenschaft der Freiheit“ (29). Solches Wissen um die Grenzen der eigenen Definitionsmacht im Hinblick auf das menschliche Leben hat einen ganz praktischen Sinn. Es begrenzt die Verfügungsmacht unserer definitorischen Zugriffe. Vielleicht entspricht es der Würde mehr, dient es der Freiheit mehr, wenn wir auf eine biologisch und juristisch exakte Definition des Lebensbeginns verzichten, die Kontingenz des Anfangs offen halten. Schutzkonzepte für das werdende Leben lassen sich auch ohne solche vermeintlich sicheren, fixen Zeitpunkte erarbeiten.

Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von Wilhelm Humboldt, das auch durch die neuere biologische Forschung nicht überholt ist: Was der Individualität zugrunde liegt, ist „etwas an sich Unerforschbares, Selbständiges, seine Wirksamkeit selbst Beginnendes, und aus keinem der Einflüsse, welche es erfährt Erklärbares“ (30).


Fußnoten:

  1. Eser, Ablin: Zu Wandlungen im strafrechtlichen Lebensschutz, in: Tradition und Fortschritt im Recht. Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1977, 377-414.
     
  2. Vgl. die Übersicht von Heike Schmoll: Wann wird ein Mensch ein Mensch? In: FAZ 31. Juni 2001.
     
  3. Vgl. Keller, Rolf; Günter, Hans Ludwig; Kaiser, Peter: Kommentar zum Embryonenschutzgesetz, Stuttgart u.a. 1992, A II, 32 § 8 1ff
     
  4. Ethical Issues in Stem Cell Research Vol I, Rockville 1999, 4/5.
     
  5. Ethische Aspekte der Forschung an menschlichen Embryonen. Arbeitsdokument für das STOA-Panel, Luxemburg 2000 (PE 289.665/Fin.St).
     
  6. Vgl. den Überblick in Friele, Minou Bernadette (ed.): Embryo Experimentation in Europe, Bad Neuenahr-Ahrweiler 2001 und den Zweiten Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der Modernen Medizin“ Bundestagsdrucksache 14/7546, 21 ff, 69 ff.
     
  7. Vgl. den Überblick bei Schmidt-Jortzig, Edzard: Systematische Bedingungen der Garantie des unbedingten Schutzes der Menschenwürde in Art. 1 GG - unter besonderer Berücksichtigung der Probleme am Anfang des menschlichen Lebens, in: Die öffentliche Verwaltung 54 Jg. (2001) 925-932.
     
  8. Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur, Frankfurt a.M. 2001, 68.
     
  9. BVerfGE, 39 und BVerfGE 88
     
  10. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen, Hamburg 1996, 30.
     
  11. Jahrbuch des öffentlichen Rechts, NF. Bd, 1 (1951) 49
     
  12. Siemons, Mark: Würde? Mit dem Embryo schützt der Staat sich selbst, FAZ v. 25.5.2001, 41
     
  13. Statement von Prof. Charles Hartshorne, in: Manipulating Life, World Council of Churches, Geneva 1982, 32.
     
  14. Kaminsky, Carmen: Embryonen, Ethik und Verantwortung, Tübingen 1998, 188; Knoepffler, Nikolaus: Forschung an menschlichen Embryonen, Stuttgart, Leipzig 1999; John A. Robertson, Ethics an Policy in Embryonic Stem Cell Research, in: Kennedy Institute of Ethics Journal, Vol 9 (1999), 109-136; Shannon, Thomas A. u Wolter, Allan B.: Reflections on the moral status of the pre-embryo, in: Theological Studies: 51 (1990), 603-626.
     
  15. Habermas, a.a.O. 61/62 u. 92.
     
  16. Vgl. Roberston, a.a.O., 126 f., van den Burg, Wibren: Legislation on Human Embryos: From Status Theories to Value Theories, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 82 (1996), 73-87.
     
  17. Habermas, a.a.O. S. 115.
     
  18. Franke, Mark S. u. Chapman, Audrey R.: Human Inheritable Genetic Modifications. Assessing Scientific, Ethical, Religious and Policy Issues, September 2000, 29.
     
  19. Schumann, Friedrich Karl: Imago Die, in: Dornkamm, Heinrich: Imago Die. Beiträge zur theologisschen Anthropologie (Festschrift für Gustav Krüger), Giessen, 1932, 167-180. Die Mühen und Windungen der Theoriebildung hat Emil Brunner in seiner Anthropologie „Der Mensch im Widerspruch“, Zürich 1937 nach-gezeichnet (81 ff und 519 ff); Scheffczyk, Leo: Der Mensch als Bild Gottes, Darmstadt 1969 (WdF CXXIV).
     
  20. Westermann, Claus: Genesis 1. Teilband, Neukirchen-Vluyn 1974, 215.
     
  21. BSLK, 150 ff.
     
  22. Buck, August: die Rangstellung des Menschen in der Renaissance: dignitas et miseria hominis, in: Archiv für Kulturgeschichte 42 (1960), 61-75.
     
  23. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Dritter Theil, in: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1909, 213.
     
  24. Vgl. Pannenberg, Wolfhart: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 40 ff.
     
  25. Thevoz, Jean Marie: Entre nos Mains L’Embryon, Geneve 1990, „Meme si L’embryon livre des signes de vie celulaire, il est humainement mort"(309).
     
  26. Schumann, a.a.O. 178.
     
  27. BVerfG 39, 1(37).
     
  28. Augustinus: confessiones XI Buch, 22 ed. Joseph Bernhart, München 1955.
     
  29. KdpV A 266; KdpV A 80.
     
  30. Gesammelte Schriften Berlin 1903 ff. Bd. III, S. 365.