EKD-Initiative 2002: "Sind Fußballer unsere wahren Götter?"

Fußballhimmel und Teufelstechnik

Liebe Gemeinde,

Gott ist rund, die Kurie trägt das kleine Schwarze mit der Thrillerpfeife und die Diakone stehen abseits vom Heiligtum, um auf`s Abseits zu achten. Fußball ist Pseudoreligion, echte Konkurrenz also, denn die Epiphanie des Heiligen geschehen hier in Zeit und Raum, in der Regel samstags zwischen 15.30 und 17.15 Uhr, gedrängt auf bummeligen 120 x 55 Metern, allerdings unter freiem Himmel, mit begeisterten Gesängen aus der Gemeinde. Die Kulthandlungen haben festgelegte Zeremonien, Rituale des Ankommens, der Einstimmung, der Gebetskonzentration durch das Erklingen von national bedeutsamer Musik. Erst dann ist die Gemeinde reif für diese geheimnisvolle Verwandlung der Leiber in ein größeres, anderes ihrer selbst, die Transsubstantiation der Körper in ein Ganzes aus Schönheit und Funktionalität. Ein gelungener Spielzug, ein gekonnter Doppelpass, ein begnadet vorgetragener Konter aus der Tiefe des Raumes, das erfüllt den Tatbestand des Wandlungswunders: Durchschnittlich begabte Jungs zwischen 20 und 30 werden durch Zeichen und Wunder zu Heiligen, zu Gesandten der Götter, zu Botschaftern eines Friedens, der höher ist als alle fußballerische Vernunft. Auch diese Religion hat Fest- und Feiertage, die die Jünger in Andacht, Gebet und Hoffnung versammeln: Welt- oder Europameisterschaft, Champions-League, Pokalfinale, Bundesligaendspiele, das sind Feiertage, die das Leben rhythmisieren und den Alltag unterbrechen, die die Sinnfrage neu formulieren und die Antwort in die Hände des Torwarts oder auf die Füße des Schützen legen. Denn existentiell, also auf dem Rasen, helfen dann auch nicht die Priester, diese charismatisch begnadeten `Ballologen`, deren Rang zwischen Engel und Teufel pendelt. Die Trainerpriester sind der öffentlichen Gerichtsbarkeit freigegeben, sie sind entweder genial oder blind, blöd und begrenzt, sie tragen alle Schuld und sind die hochbezahlten Sündenböcke dieser Religion, die stellvertretend geopfert werden, wenn der runde Gott unversöhnlich scheint. Sie können von Glück sagen, das andere Hochreligionen die Kreuzigung als Todesstrafe abgeschafft haben.

Und natürlich gibt es beim Fußball - wie in jeder Hochreligionen - Konfessionen, kenntlich durch ihren `Sonntagsanzug`, mal schwarz-gelb, mal blau-weiß, kenntlich auch an ihren spezifischen Gesängen, an ihren Heiligen und an ihren Feindbildern, die in der Regel bei den anderen Vereinen zu finden sind. Und es gibt natürlich auch Abspaltungen unter den Gläubigen, emotionale Ausreißer, Sektenbildungen:

Denn was den Christen die Endzeitpropheten sind, sind dem Fußball seine Hooligans, also missbrauchte Begeisterung, fehlgeleitete Gewissensbildung, die sich in Gewalt, Hass und Selbstzerstörung ausdrückt. Aber ein wahrhaft Gläubiger der härteren Sorte beweist allwöchentlich seine vorbildliche Frömmigkeit: Denn in welcher Religion sonst würden die Menschen bei idiotisch schlechtem Wetter eine mittelmäßig kickende Mannschaft ohne Torerfolg zusehen, und dafür auch noch Eintritt zahlen? Kein Papst, kein Pastor, auch kein Charismatiker könnte sich solch einen miserablen Service leisten.

Aber zu unserer großen Verwunderung gibt es auch Ungläubige, 'Thomasse', Zweifler und Nörgler: Zuerst natürlich und wie immer die Intellektuellen, die Skepsis zu ihrem Beruf machen und mit Ironie ihr Geld verdienen. Aber dass es keinen Roman gibt wie `Die Suche nach dem verlorenen Ball` oder `Match ohne Eigenschaften`, das demonstriert letztlich die Niveaulosigkeit der schreibenden Zunft. Und der einzig vermeintlich große Fußballtext, Peter Handkes `Die Angst des Tormanns beim Elfmeters`, illustriert auf seine Weise die tiefe Ahnungslosigkeit der `Klugis', denn natürlich hat nicht der Tormann, sondern der Schütze die Angst vor dem Elfmeter.

Schlimmer aber, weil sozusagen nur privat zu handhaben, ist aber die andere Gruppe von Zweiflern, die sich zumeist - das muss man ganz wertfrei feststellen - in Gestalt des weiblichen Geschlechtes zusammenrotten, ergänzt nur durch einige versprengte, fehlgeleitete Männern. Hier muss man m.E. schöpfungstheologisch argumentieren: Solange es noch Frauen gibt, die mit leicht entrüstetem Unterton mitten in einem Endspiel den Hinweis geben, von ihnen aus könne jeder der Jungs einen eigenen Ball haben, solange plädiere ich für die Wiedereinführung eines Vorhofes im Heiligtum. Fußball ist eine Männerkirche, nicht weil es die Offenbarungsschriften forderten, auch nicht, weil die Tradition der heiligen, fußballspielenden Gemeinschaft dies so will, sondern weil es offenbar aus schöpfungsbiologischen Gründen vielen Frauen und manchen Männern verwehrt ist, die Abseitsregel zu verstehen. Fußball ist Männerreligion, denn nirgends sonst darf der Mann so unverblümt von Angriff und Verteidigung, von Torjäger und Bomber reden, nirgends sonst darf der Mann so ungeniert von diesem "glitschigen, nassen Ding reden, das einem durch die Hände rutscht", nirgends sonst darf er so ungeschoren schreien: `Schiebt das Ding doch rein, Klinsi`, nirgends sonst kann er noch öffentlich fachsimpeln über die Latte, die getroffen ist, und über Beckenbauer, der von hinten gedeckt wird. Kurz: Nirgends sonst darf der Mann so sexistisch und militaristisch sein wie beim Fußball; ich plädiere für Artenschutz.

Soweit zur Phänomenologie dieser Religion, liebe Gemeinde; nun müsste eigentlich - theologisch korrekt - die Sündenlehre kommen, ich müsste als protestantischer Prediger mit der Dauersorgenfalte in der Halskrause nun die kritischen, missratenen, gottfernen Seiten des Fußballs benennen. Und da gäbe es ja manches zu sagen: Ich hätte über die gnadenlose Leistungsausbeutung von Körper, Kopf und Knorpel zu reden; ich müsste über die vollendete Kommerzialisierung reden, über die Käuflichkeit eines jeden Menschen, ab einer bestimmten Dollarhöhe, versteht sich.

Ich müsste von dem totalen Besitzanspruch der Medien über diese intellektuell und sprachlich nicht immer ausgereiften Jungstars reden: und ich müsste über den für eine freie Gesellschaft beschämenden moralischen Druck reden, der auf den Kicker lastet: Matthäus hat eine Freundin! das erfüllt fast den Tatbestand des Landesverrates! Die Wohlverhaltenserwartung, die früher auf dem Lebenswandel der Pastoren ruhte, wird heute auf die Kicker projiziert: Nirgends wo sonst sind so junge Menschen so früh so bieder verheiratet!

Aber all dies will ich nur andeuten, liebe Gemeinde, denn wichtig ist mir die Erlösungslehre dieser Religion. Welche Verheißung, welchen Trost, welchen Segen bietet sie? Ein kluger Kopf hat einmal geschrieben, Fußball sei "die Inszenierung von Zufall in einem nichtzufälligen Rahmen". Und darin ist das Spiel Spiegel und Abbild des wirklichen Lebens, das wir alle kennen: Denn es geht in unserem Leben ja wirklich nur zum Teil um Leistung, Kraft und Können, gerade unter gleichstarken Bedingungen gewinnen keineswegs immer die Besseren, sondern eher die Glücklicheren. Deutschland nimmt an der WM teil, das auch nicht unverdient, aber eben auch nicht herausgespielt, die Niederlande hätten eine Teilnahme ebenso verdient. Und genauso ist es im wirklichen Leben: Viele Menschen haben Kraft und Können, Verstand und Einsatzbereitschaft, aber dazu muss noch jenes Quäntchen Glück kommen, das wir als Kinder den Schutzengeln zugetraut haben und das wir als Erwachsene hoffentlich einem unerzwingbaren Segen zubilligen. Im Fußball inszeniert sich nicht der `homo faber`, der Machermensch, sondern der `homo ludens`, der Spielermensch, und deswegen übt  Fußball ein in den rechten Umgang mit Glück und Segen:

Allzu oft rechnen wir uns selbst jeden Erfolg zu, wir haben gewonnen, sagen wir, dabei hatten wir nur Glück gehabt. Kahn, Ballack, Bode und Deisler, für die Verwegenen auch Völler, sie sind unsere Helden, wir klopfen uns auf die Schultern und halten uns und die Unseren für bravouröse Kerle. Aber im Kern schmücken wir uns mit geliehenen Federn, denn was wie Leistung aussieht, ist oft nur blindes Glück. Da macht das Bekreuzigen, das man bei manchen Spielern sieht nach einem gelungenen Torschutz, schon mehr Sinn: Als Zeichen des Dankes, des Empfangens, als Schutzzeichen vor dem ungedeckten Größenwahn, der alles Glück dem eigenen Konto gutschreibt.

Und diese geistlich bescheidene Haltung bewährt und bewahrheitet sich dort, wo der Segen ausbleibt. Denn Fußball ist ja zugleich die inszenierte Reduktion des Körpers auf atavistische Grobmechanik. Jede Hand kann sich sensibler, feiner, präziser bewegen als Beine und Füße. Fußball lebt von der Benutzung der zweitbesten Möglichkeit; es ist so, als wenn die Schnecken Schnelllauf oder die Elefanten Hochsprung zu ihrem Lieblingssport auserwählten. Deswegen ist Fußball auch Erinnerung an die Grenzen des Menschen: An für sich kann Fußball nur enttäuschen, Spieler sind `Heroen des Scheiterns`, Leute, die in aller Öffentlichkeit zu tun versuchen, was sie eigentlich nicht können, nämlich Meister der Materie, Beherrscher der Physik, Konkurrenten der Ballbeweglichkeit zu werden. So aber mutet der Fußball sich selbst und den Fans immer wieder die Einübung ins Versagen zu.

Die Grenzen, Unmöglichkeiten, Vergeblichkeiten sind - aufs Ganze eines Fußballspieles gesehen - ungleich höher als das Gelingen und Können. Wenn unsere moderne Technik in Auto, Flugzeug und Fahrrad auch nur annähernd die Fehlerquote aufweisen würde wie ein durchschnittliches Fußballspiel, würden wir längst alle wieder zu Fuß laufen. Fußball übt ein in das Leiden und Mitleiden, in die Solidarität mit dem Scheitern, Niederlagenbewältigung und Trauerarbeit ist die Grundform der Gemeindebeteiligung: Man weint und klagt, zetert und schimpft, Fremde fallen sich in die Arme und trösten sich, tapfer werden anfeuernde Siegesgesänge zelebriert, obwohl der Rückstand beträchtlich ist. Wer mit seinem Lieblingsverein schon einmal in die 2. Liga abgestiegen ist, dem muss man nichts mehr erzählen von Verzweiflung, Ohnmacht und Sinnleere, der hat eine lebenslange Vorstellung davon, was Spott, Angst und Hohn ist. Wenn irgendwo, dann wird beim Fußball die Erlösungsbedürftigkeit auch des modernen Menschen regelmäßig erinnert, und das ist nicht das Schlechteste an diesem Sport.

Doch hinter diesem beiden, dem Umgang mit Fluch und mit Segen, taucht als Drittes die symbolische Verdichtung der grundsätzlichen Lebensverheißung auf, die uns aus dem Alltag reißt und uns befreit aus unserer durchrationalisierten Normalität. Wer einmal eine Verlängerung miterlebt hat, weiß, was gemeint ist: Innerhalb jener 30 Minuten Nachspielzeit kann mehr über Glück und Angst, Hoffnung und Verzweiflung, über Scheitern und Aufbruch erfahren werden als in manchen Lebensjahren zusammen. Dass wir in unserer verwalteten Welt, in der die Existenzdimensionen nur noch in dosierter 'Scheiblettenform' dargereicht und alle Lebensabenteuer locker vom gepolsterten Sessel aus wahrgenommen werden können, in dieser Welt hat das Fußballspiel eine Existenzdichte, eine Dramatik, die uns daran erinnert, dass unser Leben eigentlich weder langweilig noch rationalistisch gemeint ist. Hier schlummert die letzte religiöse Tiefenschicht des Spieles, das Geheimnis des Fußballsportes: Die wohl seltene, aber doch immer wieder eintretende Epiphanie des Schönen vor dem Hintergrund der Lebensdramatik, das ist das religiöse Urgestein des Spiels. Bei den alten Griechen war Sport eine Form von Gottesdienst, eine Feierstunde der Schönheit in einer hässlichen Welt. Und tatsächlich, dass unsere Welt Teil eines Kosmos ist, also als eine Mischung aus Ordnung, Schönheit und Schmuck gemeint ist, dass unsere rationalistisch leere und gnadenlose langweilige Welt doch voller Sinn und Schönheit, voller Größe und Gelingen sein kann, das erahnen wir manchmal auf dem Rasen. Große Fußballspiele erinnern daran, dass die Frage nach Gott dort anfängt, wo ein gelungenes Spiel aufhört: Bei dem Staunen darüber, dass es neben Zweck und Berechnung, neben Funktion und Verwaltung immer auch Schönheit, Vollendung, eben Kosmos gibt, der uns geschenkt wird, auch wenn wir manchmal ganz schön dafür laufen müssen. Amen