Freiheit und Verantwortung. Ökumenischer Gottesdienst im Berliner Dom (Mk. 10)

03. Oktober 2002

1.

„Dein Glaube hat dir geholfen“. Junge Menschen von heute überrascht diese Antwort Jesu genauso wie den blinden Bartimäus. „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“: diese Antwort liegt ihnen schon näher. Als „Egotaktiker“ pflegt man die Jugendlichen von heute zu bezeichnen. Die neuste Shell-Jugendstudie hat diese Bezeichnung gewählt. Schmeichelhaft klingt der Ausdruck nicht gerade: Egotaktiker. Aber er trifft ins Schwarze, übrigens nicht nur bei jungen Leuten.

In der Shell-Jugendstudie hört sich das so an: „Egotaktikerinnen und Egotaktiker fragen die soziale Umwelt ständig sensibel nach Informationen darüber ab, wo sie selbst in ihrer persönlichen Entwicklung stehen.“ Denn für sie kommt es darauf an, „das Beste aus der Situation zu machen und vorhandene Chancen so wahrzunehmen wie sie sich anbieten. Zur egotaktischen Grundeinstellung  gehört ein Schuss Opportunismus ebenso wie eine Portion Bequemlichkeit, eine abwartende und sondierende Haltung ebenso wie die Fähigkeit, im richtigen Moment bei einer sich bietenden Gelegenheit zuzugreifen.“

Und die Jugendforscher fügen hinzu, das sei doch die angemessene Haltung in einer Gesellschaft, in der ungewiss ist, wie der Übergang in ein verantwortungsvolles Erwachsenenalter gelingen kann. Wer da nicht auf das eigene Fortkommen achtet, zieht leicht den Kürzeren. Und wer die Hoffnung aufgegeben hat, seinen Ort zu finden, driftet leicht ab. Junge Menschen stehen heute vor allzu ungleichen Zukunftschancen. Uns alle muss das herausfordern. Aber auch heute brauchen Junge wie Ältere zugleich eine innere Haltung, in der sie vor Ungewissheit nicht kapitulieren.


2.

„Dein Glaube hat dir geholfen“? Es ist schwerer geworden, sich an Werte zu halten, die verpflichten. Doch wenn es auch schwerer geworden ist: es ist weder überflüssig noch unmöglich. Junge Leute wollen heute die Lebensbereiche mitgestalten, die ihren Alltag prägen; sie wollen eigene Interessen einbringen, aber zugleich Verantwortung für ein größeres Ganzes wahrnehmen. Für junge Frauen gilt das übrigens noch stärker als für junge Männer.

Werte, die verpflichten, erfinden wir nicht einfach selbst. Sie treten uns entgegen, manchmal sogar ganz unvermittelt: „Dein Glaube hat dir geholfen“. Sie sind manchmal wie Schuhe, die uns zu groß erscheinen; und trotzdem fangen wir an, in ihnen zu laufen. Die Einheit Deutschlands – dieses größte Geschenk unserer Geschichte seit dem Ende der Hitler-Diktatur - , werden wir nur gestalten, wenn wir den Mut haben, in solchen Schuhen zu laufen. Freiheit zu genießen reicht nicht, wir müssen die Freiheit auch verantworten.

Die Bereitschaft dazu gibt es. Unter denen, die beim Hochwasser dieses Sommers anpackten, haben mich die jungen Leute besonders stark beeindruckt. In Wittenberge habe ich sie getroffen, wie sie Sandsäcke füllten. Eigentlich wollten sie ein Musikfestival vorbereiten; aber daraus würde nun nichts, so sagten sie. Jetzt gebe es Wichtigeres zu tun, fügten sie hinzu, und packten an. In Herzberg traf ich sie am späten Abend, wie sie denen beistanden, die in eine Sport- und Festhalle evakuiert waren. Schlapp machen galt nicht; nun waren sie gefragt. Aus der Sehnsucht nach Freiheit wächst der Wunsch nach Verantwortung: Wer sehen wollte, konnte es in diesem Sommer sehen. Nun kommt es darauf an, dass dieses Grundgefühl von solidarischer Verantwortung bleibt.


3.

„Dein Glaube hat dir geholfen“. Die Schülerinnen und Schüler haben uns gezeigt, wohin das führen kann: zu den Fischern am See, zu den Entwurzelten in den Metropolen, dorthin, wo Hilfe gebraucht wird, an der Elbe und anderswo. Doch der Glaube fängt nicht mit unserer Leistung an, nicht mit unserem ersten Schritt. Es ist nicht so, als wäre uns Gott in Christus nur neun von zehn Schritten entgegen gekommen und den einen, entscheidenden müssten wir nun von uns aus allein auf ihn zugehen. Sondern alle zehn Schritte kommt Gott uns entgegen, damit wir nun jeden unserer Schritte mit ihm zusammen gehen können, im Glauben eben. „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen“. Amen.