EKD-Initiative 2002: "Wohin wollen Sie eigentlich?" (Joh. 6,66-69)

21. Juli 2002

Wohin wollen Sie eigentlich? Eine Frage, die sich ganz selbstverständlich aufdrängt im Gedränge der Menschen auf den Strassen und in den Bahnhöfen in diesen Tagen. Sommerzeit ist Urlaubszeit. Eine Zeit des Unterwegsseins. Zeit des Aufrechens zu unbekannten Ufern und in ungeahnte Höhen. Zeit des Ausruhens, Zeit des Abschaltens. Zeit, um bei sich selbst anzukommen.

Das Juli-Plakat der EKD-Initiative 2002 spielt mit unseren Assoziationen in diesem schönsten Wochen des Jahres. Zwei Seilbahngondeln am Himmel. Für einen kurzen Moment sind sie zu sehen, gleich verschwinden sie am Bildrand in ihrer Abwärts- und Aufwärtsbewegung. Welche Richtung jede der beiden Kabinen nimmt ist aber nicht auszumachen. Wissen Sie, wo es langgeht? Wenn sie in einer solchen Kabine sitzen, wäre es schon gut, zu wissen, in wohin die Reise geht. Dazu ein Himmel voller Bewegung. Ständig verändern sich die Wolkengebilde. Alles ist im Fluss, nichts steht mehr still. Grenzenlose Offenheit zeigt uns dieser aufgerissene Himmel. Nicht einmal Antwortvorgaben zum Festhalten gibt es auf diesem Plakat. Ein weiter Horizont öffnet sich hier, fixiert nur für einen Augenblick, wie bei einem Urlaubsschnappschuss: Wohin wollen Sie eigentlich?
Möglichst weit weg! An einen Ort ohne Handys, ohne Staus, ohne Termine. Weg von den Sorgen des Alltags; seinen Verstrickungen, dem ständigen Entscheidungsdruck, ja auch alles richtig zu machen und es jedem Recht zu machen. Einfach mal Innehalten und Abstand gewinnen. Sich treiben lassen in den Wolken. Der Blick weitet sich. Wir gewinnen dadurch einen neuen Überblick und lassen zugleich die Seele baumeln. Sich endlich frei und ungebunden fühlen. Ein Drahtseilakt der Balance. Für ein paar Tage den Himmel auf Erden genießen. Denn über den Wolken, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Und wir mittendrin: Wohin wollen wir eigentlich? Wohin soll die Reise gehen?

Die Bibel ist voll von solchen Aufbruchsgeschichten. Denken sie an Abraham oder an Mose. Geschichten des Reisens. Es beginnt mit dem sich auf den Weg machen, um in unbekannte Regionen vorzudringen. Zunächst muss der Schritt ins Offene gewagt werden. Auf ein Wort vertrauen und sich mit den Seinen auf den Weg machen. Davon erzählen uns die biblischen Geschichten immer wieder. Und dann unterwegs, dann gilt es sich immer neu zu versichern, ob man noch auf dem richtigen Weg ist oder ob man sich schon verirrt hat. Ist es der rechte Weg, den ich eingeschlagen habe? Wohin wird die Reise gehen? Was erwartet mich dort am Ende? Wenn dann langsam die Zweifel kommen, ob dieser Weg zum Ziel führt, wenn der Blick dann sehnsüchtig zurückgeht zu den vermeintlich goldenen Zeiten, weil die Unsicherheit des Reisens doch nicht mehr auszuhalten ist, denn kriecht die Unsicherheit langsam herauf. Ein unangenehmes Kribbeln wie wir es fühlen, wenn mitten in der Bewegung die Seilbahn plötzlich stockt, nichts mehr vor oder zurück geht. Und unter uns ein tiefer Abgrund, der schöne helle Himmel mit seiner weiten Aussicht tröstet uns dann auch nicht. Und zum Schluss das Ankommen, oft überraschend, weil man sich das Ziel so ganz anders vorgestellt hat. Oder wie Mose, es selbst gar nicht mehr erreicht, es nur von Ferne erahnen kann.

Solche Reisegeschichten sind zugleich immer Geschichten des Zweifels und des Vertrauens. Geschichten, die davon erzählen, wie Menschen das Leben wagen, weil sie sich von Gott begleitet wissen und sich mit allem was sie haben, darauf verlassen. Verlässlichkeit und Wagnis gehören zusammen. Davon erzählt uns die Bibel immer wieder. Wohin wollen wir eigentlich zwischen Zweifel und Wagnis, zwischen Vertrauen und Verlässlichkeit? Wohin mag die Reise unseres Lebens gehen?

Immer wieder taucht sie dann auf, diese Frage: Wohin willst Du eigentlich? Schon beim Losgehen. Wer aufbricht, der braucht ein Ziel, eine Richtung, in der er gehen möchte. Ist es überhaupt sinnvoll, das Vertraute zu verlassen? Die eigene Trägheit gilt es zu überwinden, und das nicht nur zur Ferienzeit. Denn wer aufbricht, bricht auch mit bisherigen Sicherheiten. Da gehört schon eine ganze Portion Mut und Vertrauen dazu, mitzugehen, einzusteigen, wenn die Reise losgeht. Abraham, Mose und auch die Jünger um Jesus wissen um die Schwere einer solchen Entscheidung. Ihr Aufbruch ist etwas anderes als eine Urlaubsfahrt mit Reiserücktrittsversicherung. Wer aufbricht, und schaut ängstlich zurück, der wird wohl nie heil ankommen. Frei hängen die Gondeln der Seilbahn am dünnen Draht. "Aussteigen während der Fahrt verboten" lesen wir über der Kabinentür, als bedürfe es noch dieses Verbotes. Wir sind ja schließlich nicht lebensmüde. Und dennoch hat es immer wieder Menschen gegeben, die eingestiegen sind, die sich ohne wenn und aber auf die Zusage Gottes eingelassen haben, er werde sie auf rechter Strasse führen. Einsteigen und die gewonnene Freiheit genießen.

Aber nur wenn wir wirklich wissen, wohin wir wollen, werden wir diesen schwankenden Kabinenboden betreten. Darauf vertrauend, dass nicht nur auf der Ausgangsstation das Stahlseil fest verankert ist, sondern auch an der Zielstation. Und dass das Seil fest genug ist, um nicht zu reißen. Damit wir sicher ans Ziel kommen. Allein in diesem Vertrauen machen sich Menschen auf, gehen mit Jesus. Sie lassen alles Vertraute hinter sich, lassen los, weil sie wissen, wohin sie wollen an seiner Seite. In seiner Nähe finden sie die Antwort auf ihre eigene Frage: Wohin will ich eigentlich?

Und dann unterwegs: Immer wieder suchen die Augen nach Halt, wenn wir frei über dem Abgrund schweben. Mit festem Griff umklammern wir die Haltestangen in der Seilbahn. Vorsichtig geht unser Blick in den freien Himmel; möglichst nicht zurück oder nach unten schauen. Da können mitten auf unserer Reise einem schon mal die Knie weich werden. Und an der ersten Zwischenstation überkommt uns dann doch die bange Frage: Wollen wir eigentlich wirklich dahin? Oder ist das Risiko nicht doch zu groß? Ein verzagtes Hin-und-Her bemächtigt sich uns. In der Geschichte des Volkes Israels gab es immer wieder solche Augenblicke der Angst, des Zurückblickens, der Verzagtheit. Ebenso in der Geschichte der Kirche. Auch manche, die anfangs voller Begeisterung mit Jesus zusammen von Ort zu Ort gezogen sind und seinen Wort begeistert gelauscht und seine Taten bewundert haben, überkommt nun doch noch das große Zittern und Zagen. Nun wissen sie, wohin die Reise geht; und sie geht ihnen zu weit. Das Risiko ist ihnen zu groß. Voller Furcht steigen sie aus, sobald sich eine dazu Gelegenheit bietet. Von da an wandten sich viele seiner Jünger ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm, heißt es im Johannesevangelium nachdem Jesus seine Weg offenbart hat. Last exit. Jetzt steht die Entscheidungsfrage an. Und Jesus stellt sie den Seinen in aller Offenheit und Härte: Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt ihr auch weggehen? Ihr wisst nun, wohin die Reise geht, auf was ihr euch eingelassen habt. Auf einer solchen Zwischenstation, in lichter Höhe, herrscht plötzlich Klarheit. Die Wolken haben sich verzogen, das Ziel ist deutlich zu sehen. Die Jünger wissen nun, woran sie sind. Klare Entscheidungen sind jetzt gefragt. Bleiben oder gehen. Da hilft kein verstecken mehr. Da antwortete Simon Petrus: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast das Wort des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes. Wer unterwegs aussteigt, wird alles verlieren. Dann war aller Aufbruch umsonst. Glauben und Erkennen, Vertrauen und Entscheiden, gehören zusammen. Dies macht Petrus mit seinem Bekenntnis deutlich. Nur wer sich vorbehaltlos, ohne Netz und doppelten Boden auf die Zusage Jesu einlässt, wird die Weiterfahrt wagen. Einzig in der Sicherheit, das dieser Jesus ihn nicht verlassen wird. Darauf kann er sich verlassen.

Erst mitten auf dem Weg finden also die Jünger eine klare Antwort auf die Frage: Wohin wollen wir eigentlich? Ohne vorherigen Aufbruch, ohne sich auf den Weg zu machen, findet diese Frage keine Antwort, bleibt alles graue Theorie, bloße Illusion, reine Hirngespinste. Das Lesen eines noch so guten Reiseführers ersetzt eben nicht das wirkliche Erleben. Erst als sich die Jünger mit diesem grenzenlosen Vertrauen auf Jesus auf den Weg machen, gewinnen sie dann auch wieder sicheren Boden unter ihre Füße. Sie wissen im Vollzug, was sie wollen und wo sie es finden werden. Du hast die Worte des ewigen Lebens. Nirgendwo anders werden wir sie finden. Keine Reise ins Nichts, kein entschweben in den Wolken. Die Seilbahn hat eine Zielstation.

Wohin wollen wir eigentlich? Nutzen wir die nun anbrechende Ferienzeit, das Unterbrechen des Alltagstrotts, um mitten in aller schönen Entdeckerfreude, Momente der Ruhe zu finden. Zeit zu finden, um in der Spannung zwischen Angst und Vertrauen, zwischen Wagnis und Verlässlichkeit Haltepunkte für unser einmaliges, weil unverwechselbares, eben unser eigenes Leben zu finden. Dann werden wir sicher etwas von der Aufbruchsstimmung der Urlaubszeit in den Alltag mit hineinnehmen. Denn egal wo wir sind, ob an unbekannten Ufern oder in ungeahnten Höhen, oder einfach nur zu Hause: Wenn wir uns ganz auf Jesus von Nazareth, diesen Heiligen Gottes verlassen, dass er uns leite und begleite, dann erledigt sich das Beängstigende dieser Kontrollfrage für in die Irre Gegangene. Wohin wollen Sie eigentlich?. Dann sind wir nämlich schon angekommen, weil wir aufgebrochen sind. Weil Jesus uns begleitet. Und fröhlich, ohne angstvollen Blick zurück, können wir dann singen: Vertraut den neuen Wegen ... (EG 395,1-3)

Amen.

OKR Klaus-Dieter Kaiser