Predigt im Festgottesdienst zum 50-jährigen Bestehen der Johanniter Unfall-Hilfe im Dom zu Berlin (Johannes 12, 32)

10. Mai 2002

Liebe Festgemeinde!

Heute gedenken wir der Gründung der Johanniter-Unfall-Hilfe vor 50 Jahren. Wir sind zum Gottesdienst versammelt, um zu danken für den Segen, der von der Johanniter-Unfall-Hilfe ausgegangen ist. Wir sagen Dank für die Menschen, die gearbeitet haben, dass diese Institution des Dienens sich entfalten konnte.
Das Wort der Heiligen Schrift, das wir für diesen Tag hören, steht im Evangelium des Johannes, im 12. Kapitel. Christus sagt:

„Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.“

I.
Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten
, liebe Festgemeinde, feiern wir diesen Gottesdienst. Es ist das Wort ‚Erhöhen‘, weshalb der Spruch dieser Zeit des Kirchenjahres zugeordnet wurde. Das Symbol der Auffahrt wird mit diesem Wort unterstrichen. „Wenn ich erhöht werde“, sagt Jesus.

Wir verbinden mit dem räumlichen Bild des Wortes die Vorstellung von Macht und Ruhm. Der Herrscher auf dem hohen Thron, der gefeierte Künstler auf dem Podium, die Stars im Rampenlicht, die Sportler auf dem Siegerpodest. All die, die unsere Blicke nach oben ziehen.
Auch die Politiker und die Wirtschaftsführer gehören dazu, die an den Hebeln der Macht sitzen. Nicht immer ernten „die da oben“ Ehrfurcht und Bewunderung. Oft genug gelten sie als weltfern und abgehoben von den Sorgen der Menschen.
Wer aufsteigt zu Positionen der Macht - wer sich erhöht oder erhöht wird, löst bei der Menge oft Gefühle der Ohnmacht aus.
Die Bibel spricht von Heerführern und  Königen die ihre Macht nach ihren Vorstellungen gebrauchen: Verantwortlich bisweilen, aber oft egoistisch – behutsam bisweilen, aber oft brutal; umsichtig oder rücksichtslos. Oft genug mal so, mal so.

Jesus sagt: „Wer sich erhöht, der wird erniedrigt werden.“ Maria singt: „Die Mächtigen stößt Gott vom Thron und erhebt die Niedrigen.“
Der Ruhm ist vergänglich, irdische Macht steht auf tönernen Füßen. Beispiele in der Geschichte gibt es genug, in den Erzählungen der Heiligen Schrift und in der Geschichte bis in unsere Zeit. Menschen, die eben noch die Führer waren, die mächtigsten Menschen im Lande, stehen plötzlich da wie obdachlose Bettler. Einst konnten die Massen auf sie ihre Sehnsucht nach Größe projizieren. Dann wurden ihre Untaten offenbar und sie wurden die Sündenböcke, die auch noch die Schuldgefühle derer aufgeladen bekommen, die ihnen gefolgt waren.

II.
 „Erhöhen“, wie kann ein solches Bild uns helfen, einer Institution gerecht zu werden, die zum Dienen da ist – nämlich dieser Johanniter-Unfall-Hilfe?
Jesus sagt: „Wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich alle zu mir ziehen.“ Das Wort ‚Erhöhen‘ ist das Schlüsselwort. Es ist ein doppeldeutiges Wort: Aufgerichtet, erhöht wird das Kreuz, in die Höhe gehängt wird der Verurteilte auf dem Schafott.

Karfreitag - die Paradoxie auf eine Königskrönung. Das Wort ‚Erhöhen‘, ein paradoxes Wortspiel: das Heil der Welt durch das Kreuz. So sieht unser Glaube das Heil: Erniedrigung und Erhöhung in einem. Und das Symbol der Himmelfahrt macht deutlich: Erniedrigung landet nicht unten, sondern oben.
Wer das in Kopf und Herz kriegt, begreift auch das Werk der Johanniter-Unfall-Hilfe in seinem eigentlichen Sinn. Der Dienst steht im Mittelpunkt, die Nähe zu den Menschen, die Nähe zu den Menschen in Not.
Oft genug wird diese Not hervorgerufen durch Überheblichkeit und durch Machtspiele, die keine Spiele bleiben. Ob es ein Dienst ist im Kosovo oder an irgendeiner Autobahn. Oft genug ist es die nötige Hilfe für die, die das Opfer der Großmannssucht anderer oder ihrer eigenen geworden sind.
Erniedrigen, erhöhen, dienen, helfen und damit dem menschlichen Leben wieder den Adel verleihen, den Gott dem Menschen zugesprochen hat. Das ist Nachfolge, wie sie die Johanniter zu verstehen und zu leisten suchen.

Erhöhen – wenn ich erhöht werde von der Erde. Lassen Sie uns noch ein wenig nachdenken über die Paradoxie: Der Einzug in Jerusalem, die Szene kennen wir gut. Der Herr in merkwürdiger Gestalt, das stolze Ross stände ihm gut, aber er reitet auf dem Esel. Ein Todgeweihter zieht in die Stadt. Die Augen der Menge, nach Imposantem Ausschau haltend, sehen auch beim zweiten Hinsehen nichts.
Kein Wunder, dass die Szene dann schnell wechselt. Aus Hosiannarufen wird der Schrei: „Lasst ihn kreuzigen. Wir haben keinen König als den Kaiser.“
Erst im Nachhinein, auf den dritten Blick wird deutlich: Aus der Niedrigkeit erwächst das Große. Es fällt wie Schuppen von den Augen. Es ist wahrhaftig Gottes große Menschenliebe.

Gottes Wirklichkeit ist nicht durch weltliche Macht zu gewährleisten. „Stecke dein Schwert in die Scheide“, sagt Jesus bei der Gefangennahme. Weder Geld noch Waffen, weder körperliche Drohung noch moralischer Druck können die Herrschaft sichern.
Amok-Attentate sind die Bilder der hilflosesten Versuche, durch Gewalt zu Bedeutung zu kommen. Gottes Macht ist anders, sie ist verhüllt, sie ist die Macht der Demut und der Menschlichkeit, die Macht der Liebe, die ja sagt auch zu den Armen und Elenden. Sie ist die Macht derer, die darauf verzichten im Zeichen des Kreuzes Macht zu erweitern, sondern den Dienst zu vertiefen.
Das müsste in unserem Lande besser akzeptiert werden. Helfende Berufe und Hilfe im Ehrenamt haben leider nicht die Anerkennung, die sie verdienen.

III.
Was bleibt? Es bleibt das Wort.
Im Anfang war das Leben schaffende Wort: die Liebe. Am Anfang war das Wort, und jetzt geht es uns auf. Alle Kräfte, die diese kranke Gesellschaft beherrschen, sollen von dieser Liebe überwunden werden: die Lüge und die Gemeinheit, der Hass und die Machtgier und die Unterdrückung. Der Gekreuzigte ist der Erhöhte, der die wahre Natur der menschlichen Machtspiele offenbart.
Er nimmt sein Wort – das Wort der Liebe – nicht zurück. „Ich will sie alle zu mir ziehen“ sagt er.

Das Wörtchen „alle“ klingt überschwänglich. Ich kann es nicht fassen. Wirklich alle – auch die, die nichts erwarten? Auch die den Namen missbrauchen, in seinem Namen Gewalt und Terror verbreiten? Auch die ihren Gott beschwören, um das Auslöschen von Menschenleben zu rechtfertigen?
Ich weiß es nicht. Wir stehen ja mit den Jüngern auf dem Berg und schauen in die Ferne und sehen nichts außer Wolken. Die Wolken unserer Unkenntnis, die Wolken unserer Sorgen, die Wolken unserer Ängste und Wünsche, unserer Zweifel. Was bleibt, was wird aus uns? Werden wir bleiben?

Er wird uns zu sich ziehen, nicht ohne die Schritte auf dem Weg des Kreuzes. Das halten wir aus eigener Kraft nicht durch. Aber wir haben Gaben empfangen, die wir entfalten können. Sie, die Verantwortlichen für die Unfall-Hilfe der Johanniter spricht das an. Die Arbeit ist oft schwer. Wer sich einsetzt für die Anderen, für die Niedrigen, erntet nicht nur Anerkennung. Darum ist es gut, wenn sich die, die sich einsetzen wollen, zusammen tun. Natürlich haben Institutionen – auch die Johanniter-Unfall-Hilfe – ihre Schwerfälligkeiten, wie die Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Verbände, sie alle haben die Schwächen des Institutionellen. Aber sie haben auch ihre Stärken. Sie haben die Kraft der vielen und bündeln sie.
Nutzen Sie für Ihren Dienst die Verbundenheit untereinander, nutzen Sie das, was man manchmal etwas altmodisch Kameradschaft nennt. Vor allem aber denken Sie: das Johanniter-Kreuz hat nichts Triumphales, sondern es weist auf die Paradoxie dessen, der erhöht und erniedrigt wird und darin an Gottes Macht teilhat.

IV.
„Ich will sie alle zu mir ziehen“. Wie halten wir das durch, wenn der Weg des Kreuzes der einzige ist, um das Ziel des Christus zu erreichen? Wir können immer nur einen Zipfel von ihm erreichen. Hier und da ein Vorbild gelungener Lebensführung. Hier und da Halt und Trost an den Grenzen des Lebens in Leid und Krankheit und Sterben. Hier und da Vorbilder im Kampf um Gerechtigkeit und Frieden. Hier und da ein gewagtes Bekenntnis zu dem Retter des Lebens.
Was bleibt ist Gottes Zusage selbst. Die bleibt bestehen. „Alle werde ich zu mir ziehen.“
Alle! Das Wort ist eine große Last des Glaubens, wenn man es als allgemeine Mengenangabe versteht. Aber es ist ein überwältigender Trost, wenn ich es auf mich beziehen kann. Ich darf dazu gehören – ich habe das Versprechen – er wird auch mich zu sich ziehen. Dies gilt Euch allen, jedem der hier ist, niemand ist vergessen.

Es gibt in unserem Land immer mehr Menschen, die die Leere und die Niedrigkeit spüren inmitten der Fülle von Gütern und Waren. Sie merken, wie man mitten im Leben tot sein kann, wenn alles darauf abzielt, das kurze Glück, die schnelle Mark, den schnellen Euro zu erwischen. Mit Jesus gehen wir den Weg durch Leid und Kreuz, wir gehen mit ihm den Weg des Dienstes.

Lasst uns in diesen Tagen – in den Tagen zwischen Himmelfahrt und Pfingsten darum bitten, dass Gott uns weiterhin begeistern möge für diesen Weg. Johanniter haben ihn, den Christus zum Bruder. Sein Kreuz ist seine Herrlichkeit. Lasst uns glauben an das unerschütterliche Zeichen: Die Liebe bleibt.