Statement bei der Pressekonferenz der "Woche für das Leben" in Berlin, Presseclub

EKD-Ratsvorsitzender, Präses Manfred Kock

"Menschen würdig pflegen"

Rund zwei Millionen Pflegebedürftige gibt es in unserem Land.

Ich möchte ihnen von einem 45-jährigen Mann erzählen, der plötzlich, ohne Vorankündigung, durch einen Schlaganfall aus seinen bisherigen Lebensbezügen herausgerissen wird. Die Erinnerung ist weg, die Sprache auch. Fast bewegungslos liegt er in seinem Bett, schon mehrere Wochen lang. Das Pflegepersonal kennt jeden Handgriff und führt ihn routiniert aus. Es mangelt ihm nicht an medizinischer Versorgung. Seine Frau, auch gute Freunde, wechseln sich darin ab, oft stundenlang an seinem Bett zu sitzen, einfach nur so. Sie nehmen sich Zeit, vom Alltag zu erzählen, ohne zu wissen, was er bewusst mitbekommt. Sie können es sich leisten, seine Hand einfach nur so zu halten und zu streicheln. Nur ganz langsam ist eine Besserung seines Zustandes in Sicht.

Menschen würdig pflegen - das geschieht Tag für Tag in den Krankenhäusern, in Alten- und Pflegeeinrichtungen, in Hospizen und vor allem zuhause in unseren Familien. Pflegepersonal, Ärzte und Angehörige setzen sich dabei, oft genug über ihre Kräfte hinaus, für die Pflegebedürftigen in unserem Land ein.

Wenn sich in diesem Jahr die Woche für das Leben der evangelischen und der katholischen Kirche mit dieser Situation beschäftigt, dann gehört an die erste Stelle der Dank für diesen hohen Einsatz im Dienst an den pflegebedürftigen Menschen.

Pflege ist entscheidend mehr als die Summe kalkulierbarer Handgriffe, und sie ist mehr als die bloße Anwendung von medizinisch-therapeutischen Möglichkeiten. Zur Pflege gehören Zuwendung und sensible Begleitung. Darum muss es ein Standard professioneller Pflege bleiben, dass Pflegende sich Zeit zum Zuhören nehmen können, so dass die zu pflegenden selber und deren Angehörige Gelegenheit bekommen, von ihren Ängsten und inneren Nöten zu erzählen. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen müssen erfahren, dass sie in einem schweren Abschnitt ihres Lebens nicht alleingelassen sind.

Jedoch gehört zum Alltag in der Pflege leider auch, dass statt der persönlichen Zuwendung die Optimierung wirtschaftlicher Faktoren eine immer größere Rolle spielt. Steigende Kosten im Gesundheitswesen, Rationalisierung und Rationierung bestimmen immer mehr den Arbeitsalltag professionell Pflegender in verschiedenen Bereichen: In Krankenhäusern werden Bettenkapazitäten abgebaut mit dem Ziel, Personal einzusparen. In der Altenpflege wird dem tatsächlichen Pflegezeitaufwand bei der Berechnung der Planstellen kaum Rechnung getragen. Die Vergütung in der ambulanten Pflege erfolgt nicht leistungsgerecht.

Wenn Pflegende gezwungen werden, ihr Handeln fast ausschließlich unter den Gesichtspunkten von Effizienz und Leistungssteigerung zu verstehen, weil ihre Arbeit überwiegend nach den Gesichtspunkten von Ökonomie und messbarer Pflegedienstleistung bewertet wird, dann wird Pflege längerfristig reduziert auf eine Minimalversorgung. Zahlreiche Bedürfnisse von Kranken und Behinderten werden mehr und mehr ignoriert bis dahin, dass die Würde des Menschen von jenen hintangestellt werden muss, die eigentlich von ihrem beruflichen Ethos her Helfen, Lindern und Trösten als höchste humane Leitwerte ihres Berufs definieren.

Der Ökonomisierungsdruck beginnt bereits sich auszuwirken. Den Tendenzen zu einer bloßen Minimalversorgung müssen wir entgegentreten.

Auf dem Hintergrund dieser Beobachtungen ergeben sich für uns Schlussfolgerungen, die wir mit der Woche für das Leben in diesem Jahr besonders unterstreichen wollen:

1. Wenn sich die Träger von Pflegeeinrichtungen aufgrund des zunehmenden Ökonomisierungsdruckes gezwungen sehen, statt ausgebildetem Pflegepersonal immer mehr Hilfskräfte einzusetzen, dann ist damit auch ein Verlust an Qualität und eine Minderung von Pflege-Standards verbunden. Wer Menschen würdig pflegen will, braucht dazu qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Angesichts dieser Entwicklungen und weil sich die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten Jahren noch erhöhen wird, setzen wir uns als Christen in diesem Land dafür ein, dass die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft die Ausbildung von qualifiziertem Pflegepersonal in genügender Zahl mit der Gestaltung entsprechender Rahmenbedingungen verstärkt fördern. Dabei muss auch im Blick bleiben, dass die notwendige Fort- und Weiterbildung gewährleistet ist.

2. Im Bereich der Pflege soll der Mensch mit seiner ihm von Gott geschenkten und deshalb unverlierbaren Würde uneingeschränkt im Mittelpunkt stehen. Darum fordern wir eine verstärkte Vernetzung der Versorgungsangebote. Dies kann durch eine bessere Zusammenarbeit von Ärzten und Seelsorgern, sozialen und karitativen Diensten, Beratungsstellen, Helfergruppen, stationären Einrichtungen der Kranken-, Alten- und Behindertenhilfe, sowie Ämtern und Behörden erreicht werden.

3. Frauen und Männer, die zuhause einen Angehörigen pflegen, brauchen spürbare Unterstützung und Anerkennung. Wir dürfen diese Familien nicht im Stich lassen. Sie brauchen sozialpolitische Rahmenbedingungen, die ihren zusätzlichen Belastungen Rechnung tragen und gesetzliche Vorgaben, die ihre Entlastung regeln. Dazu gehört die Ermöglichung von regelmäßigen Erholungs- und Ferienzeiten genauso, wie die kompetente Beratung und Unterstützung im Pflegealltag. Hier haben auch die Pfarr- und Kirchengemeinden einen wichtigen seelsorgerlichen und diakonischen Auftrag.

4. Menschenwürdige und kompetente Pflege muss auch weiterhin bezahlbar bleiben. Es ist eine vordringliche gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die sozialen Sicherungssysteme so zu gestalten, dass niemand aufgrund der eigenen Pflegebedürftigkeit oder aufgrund der Pflege von Angehörigen in Armut gerät. Dass heute die Pflegesituation in nicht wenigen Fällen zu einem Armutsrisiko geworden ist, bleibt ein Skandal. Ich verweise dazu auf die einschlägigen Passagen im ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der heute veröffentlicht wird.

5. Das Thema der diesjährigen Woche für das Leben ist auch ein Plädoyer für die menschenwürdige Begleitung von Sterbenden. Wir sagen als Kirchen ein entschiedenes Nein zur aktiven Sterbehilfe. Hinter dem Ruf nach der erlösenden Todesspritze steckt ja nicht selten ein Hilfeschrei nach Nähe, Beratung und Begleitung. Wir setzen uns für eine Verbesserung der Möglichkeiten einer Schmerztherapie ein, die der Menschenwürde der Sterbenden Rechnung trägt. Und wir setzen uns dafür ein, dass die Rechte von Patienten stärker in den Mittelpunkt gerückt werden, zum Beispiel mit der "Christlichen Patientenverfügung". Wir Menschen sind nicht die Herren über Leben und Tod. Aber wo immer Menschen leiden, gehören wir an ihre Seite als die, die begleiten und trösten, die Not und Schmerzen lindern, aber nicht als die, die das Ende des Lebensweges vorgeben.

Für mich zeigt sich gerade bei diesem Thema, ob wir wirklich verstanden haben, wie Jesus auf Menschen zugegangen und mit ihren elementaren Bedürfnissen umgegangen ist. Die Heilungsgeschichten der Bibel schildern ja, wie er sich den Kranken und ihren Angehörigen zugewandt hat, die in ihrer Not von den anderen übersehen, von den scheinbar Gesünderen an den Rand gedrängt und zum Schweigen gebracht wurden.

Wir stehen in einer guten biblischen Tradition, wenn wir auch heute auf Missstände aufmerksam machen und Not konkret beim Namen nennen und uns als Christen einmischen.

Die Woche für das Leben 2001 will dazu ermutigen, dass das Motto nicht nur eine schöne Überschrift ist, sondern dass es auch in der Praxis gelingen kann: Menschen würdig pflegen. Daran wollen wir die Menschlichkeit unserer Gesellschaft und damit auch unser eigenes Handeln messen lassen.

Berlin/Hannover, 25. April 2001
Pressestelle der EKD