Gesundheitspolitische Stellungnahme "Solidarität und Wettbewerb"

Statement des EKD-Ratsvorsitzenden, Präses Manfred Kock, auf der Pressekonferenz in Berlin

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wenn sich Christinnen und Christen mit der Frage nach Krankheit und Heilung beschäftigen, so wissen sie sich den biblischen Berichten verpflichtet. Jesus zeigt eine ganz besondere Nähe zum leidenden Menschen. Darin gründet sich auch der Impuls der Kirche, sich den Kranken zuzuwenden.

Diese Zuwendung hat verschiedene Formen: Da ist die seelsorgerliche Betreuung von kranken Menschen, da ist die diakonische Hilfe zur Heilung und da ist das anwaltschaftliche, öffentliche und politische Eintreten für die Schwachen und Kranken. Alle drei Elemente christlichen Engagements - Seelsorge, Diakonie und öffentliche Verantwortung - sind untrennbar miteinander verbunden.

In vielen Bereichen unserer Gesellschaft sind Tendenzen der Entsolidarisierung sichtbar. Um so wichtiger ist es an die solidarische Grundorientierung eines humanen Gesundheitswesens zu erinnern. Der kranke Mensch bedarf in besonderer Weise der Hilfe durch die Gemeinschaft. Mitverantwortlichkeit ist die sozialethische Grundlage eines jeden Solidarsystems, sie kann jedoch nur durch Eigenverantwortlichkeit aller Mitglieder der Solidargemeinschaft zum Tragen kommen.

Das Diakonische Werk der EKD hat 1999 einen Ausschuss „Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen und Sozialbereich“ eingesetzt, dessen Abschlussbericht der morgen in Dresden tagenden Diakonischen Konferenz vorliegt. Auch zu anderen Einzelbereichen des Gesundheitswesens haben sich Kirche und Diakonie bereits sachkundig geäußert und Veränderungsvorschläge gemacht, etwa zur integrationsorientierten Gesundheitsreform aus Sicht chronisch kranker und behinderter Menschen.

Veränderung ist nötig, weil die Strukturen des Gesundheitswesens nicht nur uneffektiv, sondern auch ungerecht geworden sind. Lassen Sie mich nur einige der markantesten Beispiele benennen:

  • Es wird behauptet, wir hätten ein solidarisches Modell der gesetzlichen Krankenversicherung, weil in ihr zum Beispiel Kinder beitragsfrei mitversichert sind. Aber gerade diejenigen, welche die finanziellen Möglichkeiten haben, in den Solidartopf einzuzahlen, verabschieden sich aus dieser Gemeinschaft, indem sie in eine private Krankenkasse wechseln. Die Solidarität findet nur innerhalb des ärmeren Teils der Bevölkerung statt.
  • Die strikte Aufteilung in Pflegekassen und Krankenkassen, ambulante und stationäre Versorgung führt schon heute in vielen Fällen zu einer "Drehtürbehandlung", bei der Patienten möglichst schnell aus dem Krankenhaus entlassen werden, zu Hause aber nicht sorgfältig gepflegt werden, Komplikationen entstehen und eine erneute Einweisung ins Krankenhaus nötig ist.
  • Die Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen verfügen über eine große Macht im Gesundheitswesen, die aber nicht zur Besserung der Lage führt. Seit Jahren wird mit kleinen Schritten versucht, die Strukturen zu verändern, ohne dass eine nachhaltige Verbesserung in Sicht wäre. Besonders beunruhigt uns daran, dass das System für die Patienten, Beitragszahler und Bürger völlig undurchsichtig geworden ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese drastische Analyse und ihre niederschmetternde praktische und ethische Bewertung sind nicht neu. Auch viele unserer Lösungsvorschläge, die Ihnen Prof. Krupp sogleich vorstellen wird, sind in Fachkreisen längst bekannt. Es hat aber bisher der Politik an Mut gefehlt, gegen die gerade in diesem Bereich mächtigen Verbände die notwendigen Schritte zu gehen. Mit der Stellungnahme, die von unserer Kammer für Soziale Ordnung erarbeitet und die der Rat der EKD in großer Einmütigkeit beschlossen hat, wollen wir allen Beteiligten Mut machen, nun endlich gemeinsam die notwendigen Strukturveränderungen anzugehen. Ich richte die dringliche Bitte an Parlament und Regierung, die offensichtlich notwendigen Reformen durchzuführen und ich richte die ebenso dringliche Bitte an alle, die sich einzeln oder organisiert an der öffentlichen Diskussion beteiligen, sehr genau zu prüfen, wie sie die aus unserer Sicht unvermeidbaren Reformen fördern können.

Ich möchte nun Prof. Krupp, den Vorsitzenden der Kammer der EKD für soziale Ordnung, bitten, die Stellungnahme im Einzelnen vorzustellen und tue dies mit einem ausdrücklichen Dank für die vorzügliche Arbeit der Sozialkammer.

Pressestelle der EKD
14. Oktober 2002