„Reform ist um der Menschen willen da“

In seiner Sozialrede fordert der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber einen regelmäßigen Armuts- und Reichtumsbericht, eine gerechte Steuerreform sowie den Verzicht auf Gebühren für Kindertagesstätten

„Reform muss sein, weil sie um der Menschen willen nötig ist“. Dies betont der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, in seiner heutigen Sozialrede in der Berliner Friedrichstadtkirche. Die Reform müsse eine „atmende“ Reform sein, die auf neue Entwicklungen, aber auch auf die Erkenntnis von Fehlern reagieren könne. Es sei „ebenso verkehrt, eine Reform an den Menschen vorbei durchzusetzen, wie es verkehrt ist, die um der Menschen notwendige Reform gar nicht anzugehen“, so Huber weiter. Sinn der Reform müsse es sein, „für die nach uns Kommenden die Freiheiten zu bewahren, die wir selbst für uns in Anspruch nehmen. Sie soll sich daran ausrichten, dass heute und morgen Armen geholfen wird und Kranke versorgt werden. Aber sie soll auch Bildung ermöglichen und den Zugang zu Arbeit eröffnen, Familien fördern und das Verhältnis der Generationen in den Blick rücken.“

„Wenn wir einen an Gerechtigkeit und Solidarität orientierten Sozialstaat erhalten wollen, müssen wir jetzt um seine Zukunftsfähigkeit kämpfen", appelliert Huber. Gerechtigkeit impliziere mehr als Verteilungsgerechtigkeit; auch „Beteiligung und Befähigung“ seien bestimmende Kategorien. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit müsse unseren Vorstellungen von Würde entsprechen. Die Würde eines Menschen begründe die Erwartung, dass er „als ein Wesen betrachtet wird, das um seiner selbst willen da ist“ ebenso wie die Erwartung, dass er sich „selbstbestimmt entfalten, von seinen Gaben Gebrauch machen und seine Freiheit in Anspruch nehmen kann“. „Sozialpolitik muss auf Beteiligungsgerechtigkeit ausgerichtet sein“, folgert der Ratsvorsitzende. Die Ermöglichung von Arbeit habe dabei eine Schlüsselbedeutung; wichtige Formen von aktiver Beteiligung seine aber auch bürgerschaftliches Engagement sowie Familien- und Erziehungsarbeit.

Huber warnt davor, den Bildungsbereich zu vernachlässigen: „Sozialpolitik, die nicht auf Bildungspolitik als einem tragenden Pfeiler aufruht, greift zu kurz.“ Gefördert werden müsse auch die Bildung im Kindesalter. Da Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen im Elementarbereich sind, plädiert Huber dafür, Gebühren für diese Einrichtungen abzuschaffen.

„Reformen, die diesen Namen verdienen, müssen auf einer Solidarität der Verantwortung beruhen“, unterstreicht der Bischof. Ohne auf „Gleichmacherei“ zu zielen, werde in einer solidarischen Gesellschaft eine Balance gesucht zwischen Reichen und Armen, Starken und Schwachen. Dabei „gilt es, einen vernünftigen Mittelweg zwischen sozialer Nivellierung und dem Verzicht auf jeden Ausgleich zu finden“. „Wer die Abfindungen für entlassene Vorstandsmitglieder von Großkonzernen mit der Mindestwitwenrente oder dem Arbeitslosengeld II vergleicht, muss fragen, welche Unterschiede unsere Gesellschaft akzeptieren will.“ Huber plädiert in diesem Zusammenhang für einen regelmäßigen nationalen Reichtums- und Armutsbericht. Die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland dürfe nicht zu weit auseinander gehen. Deshalb sei auch eine Diskussion über Struktur und Höhe der Erbschaftssteuer, als auch über die Wiedereinführung der Vermögenssteuer „an der Zeit“. Außerdem gehöre eine „gerechte und wirksame Steuerreform“ zu den dringenden Desideraten des derzeitigen Reformprozesses.

Mit Blick auf die aktuellen Arbeitsmarktreformen kritisiert Huber, dass das Fordern höher gewichtet werde als das Fördern. Dies betreffe besonders die Zuverdienstmöglichkeiten; auch Ein-Euro-Jobs förderten die Eigeninitiative nicht. Er kündigt an, dass Kirche und Diakonie sich dafür einsetzen werden, dass diese Jobs „nicht nur besser benannt, sondern auch besser gestaltet werden“. Der EKD-Ratsvorsitzende spricht sich in diesem Zusammenhang dafür aus, an die Idee des Kombilohnes anzuknüpfen. Unter „missbrauchsfesten Bedingungen“ sollte die Grundsicherung des Arbeitslosengeldes II mit einer zusätzlichen Entlohnung aus Arbeitsgelegenheiten verbunden werden.

Auch zu den derzeit diskutierten Neustrukturierungen der Pflege- und Krankenversicherung bezieht Huber in seine Rede Stellung. Er bezweifle, so der Bischof mit Blick auf die Reform der Pflegeversicherung, dass der `konstitutive Beitrag`, den Eltern für das Versicherungssystem leisten, „tatsächlich unabhängig von der Zahl der Kinder mit einem Viertel Prozent Beitragssatz angemessen ausgeglichen ist“. Für die Konzepte der „Bürgerversicherung“ bzw. „Gesundheitsprämie“ gelte, dass es weder ethisch noch ökonomisch zu vertreten sei, gerade Besserverdienenden die Möglichkeit einzuräumen, sich einem Sozialausgleich zu entziehen. Huber spricht sich dafür aus, diesen nötigen Sozialausgleich statt über unterschiedliche Beitragshöhen durch eine steuerfinanzierte Kompensation zu vollziehen. Allerdings müsse der Solidarausgleich unabhängig von etwaigen Haushaltsnöten funktionieren.

Soziale Gerechtigkeit, betont der EKD-Ratsvorsitzende, ist wesentlich auch Generationengerechtigkeit. Für die Generationengerechtigkeit unter den jetzt Lebenden geht es dabei vor allem um die „Familiengerechtigkeit“. Dass die Geburtenrate in Deutschland an der fünftletzten Stelle der Welt liegt, habe seine Ursache auch darin, dass „wir nicht genug Vorkehrungen für die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsarbeit“ schaffen. „Die Kinderbetreuung muss ebenso verbessert werden, wie es bessere Chancen für Eltern geben muss, Erziehungsverantwortung auch selber wahrzunehmen.“ Die Förderung von Familien sei eine zentrale Herausforderung für die heute nötige Reform. Die Kirchen sieht Huber dabei in der Pflicht, „für einen sachlichen Blick zu werben und für gerechte, solidarische und nachhaltige Lösungen einzutreten“.

Berlin, 30. September 2004

Pressestelle der EKD
Karoline Lehmann