Kindertagesstätten sind Markenzeichen evangelischer Gemeinden

Huber: Bildungsauftrag ernst nehmen

Kindertagesstätten bilden nach Ansicht des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ein Markenzeichen evangelischer Gemeinden. Dies hat der Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, in einem Grußwort zur Fachtagung "Kirchliche Bildungsverantwortung für Kinder und die Zukunft der Kindertageseinrichtungen" der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder e.V. in Berlin hervorgehoben. "Die Zukunft von Kirche und Gesellschaft wird nach Auffassung des Rates unter anderem von der Nachhaltigkeit der Bildungsprozesse abhängen, die sich täglich in den rund 9.000 evangelischen Kindertagesstätten ereignen", sagte Huber zur Eröffnung der Tagung.

In einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft seien Kindertageseinrichtungen auch ein politischer Faktor. Durch die Vermittlung von Werten und ethischen Normen trügen sie zu einer "ganzheitlichen Erziehung zu Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit" bei und dienten damit letztendlich auch einer Kultur des Friedens. In evangelischen Einrichtungen müsse dabei das christliche Profil nicht nur gewahrt bleiben, sondern "als der Ermöglichungsgrund von Freiheit, interkultureller Begegnung und Toleranz erkennbar" werden, forderte der Ratsvorsitzende.

In den Kindertagesstätten konkretisiere sich die kirchliche Bildungsverantwortung für eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung, betonte Huber. Die Tageseinrichtungen dürften nicht nur "als Betreuungs- oder gar Aufbewahrungsmöglichkeiten" gesehen werden, vielmehr seien sie als Bildungseinrichtungen ernst zu nehmen. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz werde das Verhältnis von Bildung, Erziehung und Betreuung nicht systematisch geklärt, in den Institutionen der evangelischen Kirche seien diese drei Aspekte "in qualifizierter Weise" miteinander verbunden.

Huber machte deutlich, dass Tageseinrichtungen für Kinder "immer auch etwas von einem Schutzraum für das behütete Aufwachsen von Kindern beinhalten sollten". Auch die Familie stelle einen solchen Schutzraum dar, "der nur schwer durch anderes zu ersetzen" sei. Der Ratsvorsitzende plädierte dafür, beides zu fördern: "die Familien und die besonderen Tageseinrichtungen für Kinder."


Hannover, 2. März 2004
Pressestelle der EKD     
Silke Fauzi


Im Wortlaut (es gilt das gesprochene Wort):

EKD-Ratsvorsitzender Bischof Dr. Wolfgang Huber

Grußwort zum BETA-Kongress am 3. März 2004 in Berlin

Unsere Gesellschaft befindet sich in einem epochalen Umbruch. Er fordert uns alle heraus. Auch für die Kirchen ist er von einschneidender Bedeutung. Es ist wichtig dass die Kirche in dieser Zeit die ihr gemäße Rolle in Staat und Gesellschaft bewusst und konsequent annimmt und wahrnimmt. Sie tut das übrigens nicht von außen, sondern als Teil dieser Gesellschaft. Sie bildet auch nicht einen "Staat im Staate", sondern stellt eine intermediäre Institution in der Zivilgesellschaft dar. Die Kirche hat ein eigenes Handlungsfeld von hohem Rang: Gottesdienst und Seelsorge, Gemeinschaftsbildung und Mission, Bildung und Diakonie beschreiben dieses eigene Handlungsfeld der Kirche. Aber sie wirkt zugleich in die Gesellschaft hinein. Dabei begegnet sie drei vorrangigen Herausforderungen. Sie setzt sich ein für ganzheitliche Bildungsprozesse, die zum Teil auch das öffentliche Bildungswesen betreffen. Sie nimmt ethisch-politische Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit wahr. Und sie trägt bei zu einer Kultur des Helfens in unserer Gesellschaft wie auch weltweit. Sie trägt mithin eine wesentliche Bildungsverantwortung für das Gemeinwesen; sie hat ein ethisches Mandat gegenüber der Politik wahrzunehmen; sie hat schließlich eine diakonische Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft.

Die kirchlichen Bildungseinrichtungen für Kinder, in aller erster Linie die Kindertagesstätten, sind ein Feld, auf das sich alle drei Aspekte zugleich beziehen. Denn in den Kindertagesstätten konkretisiert sich die kirchliche Bildungsverantwortung für eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung "von Anfang an". Darin liegt auch ein Beitrag zu unserem Bildungswesen im Ganzen. Einrichtungen für Kinder nicht nur als Betreuungs- oder gar Aufbewahrungsmöglichkeiten zu sehen, sondern als Bildungseinrichtungen ernst zu nehmen, sollte heute im Grundsatz unumstritten sein. Doch diesen Ansatz mit Leben zu erfüllen, bleibt eine große Aufgabe. Tageseinrichtungen für Kinder sind aber auch ein politischer Faktor. Sie tragen durch Vermittlung von Werten und ethischen Normen zu einer ganzheitlichen Erziehung zu Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit bei und dienen damit letzten Endes auch einer Kultur des Friedens. Dies muss sich gerade unter den multikulturellen und multireligiösen Bedingungen der Gegenwart zeigen und bewähren. In evangelischen Tageseinrichtungen für Kinder muss das in einer Form geschehen, in der das christliche Profil der Einrichtungen nicht bloß gewahrt bleibt, sondern als der Ermöglichungsgrund von Freiheit, interkultureller Begegnung und Toleranz erkennbar wird. Von bleibendem Gewicht ist schließlich auch der diakonische Aspekt: In der Wahrnehmung ihrer Bildungsverantwortung unterstützt unsere Kirche Kinder und berät Familien auf ihrem Weg durch das Leben. Sie hilft insbesondere auch Frauen, denen in verstärktem Umfang Freiräume für gesellschaftliche und berufliche Partizipation erschlossen werden müssen.

Ein Blick auf die Geschichte zeigt: Derartige kirchliche Einrichtungen für Kinder gab es nicht schon immer. Sie sind also keine Selbstverständlichkeit. Weder kannte man sie in der frühen Christenheit noch im Zeitalter der Reformation. Dabei hätte die über Jahrhunderte unbestrittene Praxis der Kindertaufe ihre Einrichtung durchaus nahe legen können. Auch von Martin Luthers Eintreten für ein öffentliches Bildungswesen her wäre die Begründung von Kindertagesstätten denkbar gewesen. Tatsächlich aber sind kirchliche Kindergärten ihrer allgemeinen Idee, faktischen Gestalt und tatsächlichen Ausbreitung nach eine Erfindung des „diakonischen" 19. Jahrhunderts. Erste Anfänge der kirchlichen Kindergartenidee finden sich bei den sog. "Mährischen Brüdern", bei Pastor J.F. Oberlin im Elsass sowie bei Theodor Fliedner (Kaiserswerth). Wesentlichen Einfluss hatte das pädagogische Konzept Friedrich Wilhelm August Fröbels (1782-1852). Von ihm stammt ja auch der Begriff des Kindergartens, der von ihm bewusst der Natur- und Pflanzenmetaphorik entlehnt wurde, nicht zuletzt wegen der gleichnishaften Anklänge an biblische Sprachbilder - bis hin zum Garten Eden. Christliche Erzieher(innen) gleichen nach dieser frühen Vorstellung von Elementarpädagogik liebevollen und verantwortungsbewussten Gärtnern, die nur einige wenige, gleichwohl notwendige Bedingungen für gelingendes Wachstum bereitstellen müssen. Heutige Konzeptionen von Elementarpädagogik sind wesentlich umfassender und komplexer. Sie gehen etwa von der Gleichursprünglichkeit von Selbst- und Fremdbildung aus und verstehen das frühkindliche Bildungsgeschehen im sozialen Zusammenhang der multikulturellen Gesellschaft als Gefüge von Ko-Konstruktionen. Das ist ein Wort, das andeutet, wie die Komplexität unserer Lebenswelt schon in die frühesten Lebensphasen hineinragt - obwohl ich manchmal denke, dass man, es damit auch nicht übertreiben sollte. Der „Kindergarten" bleibt darin eine überzeugende Metapher, dass Tageseinrichtungen für Kinder auch immer etwas von einem Schutzraum für das behütete Aufwachsen von Kindern behalten sollten. Und die lange Tradition, die ohne solche Schutzräume auskam, erinnert im übrigen daran, dass auch im Wandel der Familienformen die Familie ein solcher Schutzraum bleibt, der nur schwer durch anderes zu ersetzen ist. Mein Plädoyer wird deshalb auch immer heißen, dass wir um des Aufwachsens von Kindern beides zu fördern haben: die Familien und die besonderen Tageseinrichtungen für Kinder.

Eine Affinität der frühesten, christlich inspirierten Konzepte zu den modernen Einsichten der Elementarpädagogik besteht wohl in dem hervorragenden Stellenwert des Bildungsgedankens. Zwar ist auch im staatlichen Kinder- und Jugendhilfegesetz von der Trias von Bildung, Erziehung und Betreuung die Rede. Das Verhältnis dieser drei Eckpunkte wird jedoch nicht systematisch geklärt. Die evangelische Kirche betont heute in besonderer Weise den Aspekt der ganzheitlichen Bildung, der jedoch die beiden anderen Gesichtspunkte nicht aus-, sondern vielmehr in qualifizierter Weise einschließt.

Schon im 19. Jahrhundert war die Einrichtung von Kindergärten und ihre allmähliche, nahezu flächendeckende Verbreitung nicht ausschließlich sozial motiviert. Im Gegenteil spielte der Bildungsgedanke von Anfang an eine tragende Rolle. "Kleinkinderschulen" hießen die Kindergärten weithin im 19. Jahrhundert. Sie waren freilich keine Vorschulen in dem Sinne, dass Kinder dort auf das Rechnen, Lesen, Schreiben oder das Erlernen einer Fremdsprache vorbereitet werden sollten. Sie waren vielmehr "Vorschulen des Glaubens", und als solche wurden sie zu Markenzeichen vieler evangelischer Gemeinden.

Der Rat und die Kirchenkonferenz der EKD haben sich in den vergangenen Monaten ausführlich mit der Frage der Zukunft der kirchlichen Kindertagesstätten beschäftigt. Der Rat versteht diese Einrichtungen im eben skizzierten Sinn als Markenzeichen evangelischer Gemeinden. Er sieht in ihnen einen weithin noch verborgenen Schatz, der gehoben, geborgen und weitergegeben werden will. Die Zukunft von Kirche und Gesellschaft wird nach Auffassung des Rates unter anderem von der Nachhaltigkeit der Bildungsprozesse abhängen, die sich täglich in den rund 9.000 evangelischen Kindertagesstätten ereignen. In ihnen arbeiten etwa 61.000 Personen, und es tummeln sich darin mehr als 540.000 zur Bildung fähige und Bildung erwartende Kinder.

Den Erzieherinnen und Erziehern, aber auch allen anderen Personen, die sich für die Kindertageseinrichtungen in den Gemeinden einsetzen oder auf vielfältige Weise in ihnen engagieren, danke ich für diesen wichtigen Dienst an den Kindern und Familien, an Kirche und Gesellschaft. Ihnen allen wünsche ich eine gute Tagung, intensive Beratungen und erfreuliche, zukunftsweisende Ergebnisse!