Manieren als Kultur der Achtsamkeit

Was trägt der Protestantismus zu einem guten Umgang miteinander bei?

Als Kern der Manieren erweise sich eine Kultur der Achtsamkeit im Umgang miteinander, schreibt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, im Vorwort des am 1. Juni erschienenen Buches „Die Manieren und der Protestantismus. Annäherungen an ein weitgehend vergessenes Thema“. Auf 176 Seiten sind Beiträge der diesjährigen Begegnungstagung zwischen Rat der EKD und Leitenden Geistlichen zusammengestellt. Neben zwei Kapiteln des Bestseller-Autors Asfa-Wossen Asserate steht eine weit gespannte Darstellung von Professor Jan Rohls (München) über „Der Prozess der Zivilisation und der Geist des Protestantismus“. Ergänzt wird dies durch eine Bibelarbeit über einen Abschnitt aus dem biblischen Buch Jesus Sirach vom Vizepräsidenten des Kirchenamts der EKD, Hermann Barth, und eine Morgenandacht des Bischofs der Kirchenprovinz Sachsen, Axel Noack.

Das Thema "Manieren" ist "in". Die Deutschen studieren Manieren-Fibeln und besuchen Etikette-Kurse. Im Unterhaltungsprogramm des Fernsehens läuft die "Große Benimm-Show". In den Schulen wird diskutiert, ob ein "Benimm-Unterricht" eingeführt werden soll. Ein weithin vergessenes Thema findet wieder Beachtung. Aber Manieren sind weit mehr als ein Set von äußerlichen Verhaltensregeln, die man lernen und einüben kann. Sie sind Ausdruck einer inneren Haltung. Als Kern der Manieren erweist sich eine Kultur der Achtsamkeit, ein Umgang miteinander, in dem sich die Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst spiegelt.

Aber gute Manieren fallen nicht vom Himmel, und sie wachsen nicht auf jedem Boden. Eine Kultur der Achtsamkeit braucht Quellen, aus denen sie sich speist, und Kräfte, von denen sie lebendig erhalten wird. Was trägt das Christentum, was trägt speziell der Protestantismus heute dazu bei, den Boden zu bereiten, auf dem gute Manieren wachsen?“

Dies ist die leitende Fragestellung der Beiträge, die in der jetzt veröffentlichten Broschüre "Die Manieren und der Protestantismus. Annäherungen an ein weithin vergessenes Thema" abgedruckt sind. Sie gehen auf eine Tagung zurück, auf der sich der Rat der EKD und die Leitenden Geistlichen der Gliedkirchen mit dem Thema "Manieren" beschäftigt haben. Gast dieser Tagung war unter anderem Asfa-Wossen Asserate. Sein Buch über "Manieren", aus dem zwei Kapiteln in der Broschüre abgedruckt sind, hat zu der neuen Aufmerksamkeit für das Thema beigetragen. Vizepräsident Hermann Barth in seiner Bibelarbeit über einen Text aus Jesus Sirach und Bischof Axel Noack in seiner Andacht über einen Abschnitt aus dem Philipperbrief lassen spüren, in welcher Intensität biblische Texte der "Kultur des Alltags" zugewandt sind und wie viel sich daraus für ein heutiges Nachdenken über das Thema lernen lässt.

In einer theologiegeschichtlich-systematischen Betrachtung widmet sich der Münchener Theologieprofessor Jan Rohls (München) der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Geist des Protestantismus und dem Prozess der Zivilisation. In seiner groß anlegten Darstellung schlägt er einen weiten Bogen von der 1530 veröffentlichten Schrift des Erasmus über die Eingewöhnung der Jugend in die Umgangsformen bis hin zur aktuellen US-amerikanischen Diskussion über Zivilität.

Der Ratsvorsitzende, Bischof Wolfgang Huber, formuliert in seinem Beitrag erste Folgerungen:

1. "Wenn Formlosigkeit oder Formenarmut als ein Kennzeichen des (gegenwärtigen) Protestantismus angesehen werden muss, dann kann dieses Kennzeichen nicht zu den Stärken des Protestantismus gezählt werden. Die verbreitete Warnung vor Äußerlichkeiten erscheint vielmehr - angesichts von deren offenkundigem Fehlen - eher als hohl ... Eine Balance zwischen Innen und Außen, zwischen Haltung und Form, zwischen Glauben und Ritus zu erreichen bildet vielmehr eine große, keineswegs gelöste Aufgabe. Denn auch die evangelische Freiheit verträgt sich mit Formen, ja sie verlangt nach Formen."
2. "Manieren gibt es auch im Gottesverhältnis ... Allein Gott die Ehre zu geben, auf sein Wort zu hören, die Gemeinschaft mit ihm zu feiern und dem Heiligen mit Ehrfurcht zu begegnen - diese Grundhaltungen des Glaubens sind nicht formlos und deshalb nicht ohne Manieren."
3. Es hat einen "guten inneren Sinn, wenn man die Liturgie als Schule der Manieren bezeichnet ... Im christlichen Gottesdienst sind die Sakramente ein besonders wichtiges Bewährungsfeld der Manieren. Die Feier von Taufe und Abendmahl sollte von sakramentaler Achtsamkeit geprägt sein."
4. "Es gibt ein bleibendes und unaufgebbares Recht zur Rebellion gegen Manieren ... Aber wenn eine solche Rebellion in der Formlosigkeit endet, ist sie noch nicht am Ziel."
5. "Die Formensprache des Glaubens wie der Nächstenliebe weiterzugeben gehört zum Bildungsauftrag der Kirche. Allein schon in diesem Sinne bilden die Manieren ein wichtiges Thema kirchlicher Bildungsarbeit."

Hannover/Berlin, 1. Juni 2004

Pressestelle der EKD
Christof Vetter

Hinweis:
Zu beziehen ist das Buch „Die Manieren und der Protestantismus. Annäherung an ein weitgehend vergessenes Thema“ zum Preis von 2,50 Euro, Kirchenamt der EKD, Versand, Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, Telefax: 0511/2796-457; Email: versand@ekd.de

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