"Wir sind Lots Kinder"

Hanjo Kesting über die Bibel im kulturellen Gedächtnis

Nichts anderes habe unsere Kultur so grundlegend geprägt wie die Bibel. Zu diesem Schluss kommt Hanjo Kesting, Leiter der Hauptredaktion Kulturelles Wort beim Norddeutschen Rundfunk, in seinem Vortrag auf der Synodentagung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am Montag, 3. November, in Trier. "Wir sind Lots Kinder", so Kesting. Wenn auch viele biblischen Inhalte mittlerweile nur noch unbewusst gegenwärtig wären, seien sie doch nie ganz vergessen.

Wahrscheindlich sei noch keine Zeit so bibelfern gewesen wie die heutige, so Kesting in seiner Auseinandersetzung mit dem Schwerpunktthema der Synodentagung "Bibel im kulturellen Gedächtnis". Aber die Vielfalt an biblischen Motiven in allen Bereichen der Kunst zeige, dass die Menschen die "Bibel kennen, ohne sie gelesen zu haben". Sodom und Gomorra, der Turmbau zu Babel, Kain und Abel - an Beispielen aus Literatur, Theater und Musik zeichnete Kesting die biblischen Einflüsse auf die Kultur nach.

Dabei sei es unerheblich, ob man die Bibel als Wort Gottes oder als Mythensammlung versteht. Kesting rief dazu auf, auch eine literarische oder "genießende Annäherung" an die Bibel zuzulassen. Die Bibel als Leseerlebnis: diese Erfahrung stelle sich am ehesten ein, wenn im Hintergrund keine religiösen Botschaften warten oder "didaktische Absichten drohen".

Zum Wesen des kulturellen Gedächtnisses gehöre das Vergessen, aber auch die Veränderung und Neuinterpretation des Erinnerten. Das kulturelle Gedächtnis sei nicht statisch, es deute unentwegt und korrigiere ältere Lesarten, wenn sie sich als falsch erwiesen. Daher könne man auch nicht von der "Bibel an sich" sprechen. Verschiedene Bibelinterpretationen beeinflussten unsere Kultur, die dann wiederum auf unser Verständnis der Bibel rückwirkten.

Auch das scheinbar Vergessene könne mit Wucht zurückkehren, so Kesting. Apokalyptische Vorstellungen, die am Ende des ersten Jahrtausends aktuell waren, seien am Ende des zweiten Jahrtausends wieder aufgetaucht: "als ökologische Bedrohung in den Siebzigern, durch die Nachrüstungsdebatte in den Achtzigern, die Entwicklungen in der Biotechnologie in den neunziger Jahren und den - potentiell allgegenwärtigen - Terrorismus heute.

Es komme zunächst darauf an, die biblischen Geschichten in "ihrer reinen Stofflichkeit", ohne Deutungen und Interpretationen, weiterzuvermitteln - "im Vertrauen darauf, dass ihre Kraft und Schönheit und damit vielleicht auch ihre verborgenen Bedeutungen sich ins Innere des Lesers einsenken werden."

Trier, 3. November 2003
Pressestelle der EKD
Silke Fauzi

Text im Wortlaut