Predigt im Wochenschlußgottesdienst (Johannes 1, 43-51)

Wolfgang Huber (Erlöserkirche, Bad Godesberg)

I.
Zu den biblischen Texten, die uns in diesen Tagen zu Beginn des neuen Jahres und um das Epiphaniasfest begleitet haben, gehört das erste Kapitel des Johannesevangeliums. Am Ende dieses Kapitels wird von der Begegnung zwischen Jesus und Nathanael berichtet. Dieser Bericht soll unsere Überlegungen an diesem Abend leiten.

Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa gehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus aber war aus Bethsaida, der Stadt des Andreas und Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh es! 

Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres als das sehen.

Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.

II.
Was kann aus Nazareth Gutes kommen? So fragt der Skeptiker Nathanael aus Bethsaida. Mit einer positiven Antwort rechnet er nicht. In Bonn, so habe ich mir erzählen lassen, gibt es manche Skeptiker, die fragen: Was kann aus Berlin Gutes kommen? Der Zweifel ist meistens unüberhörbar. Nun ist nach wie vor der Pendelverkehr zwischen Bonn und Berlin intensiv genug, um solche Skepsis Schritt für Schritt aufzulösen. Für mich jedenfalls sage ich fröhlich: Ich bin gern von Berlin nach Bonn gekommen. Ich freue mich auch über die Nachricht, dass Bonn jünger geworden ist, seit es nicht mehr Bundeshauptstadt ist. Merkwürdigerweise ist es umgekehrt genauso: Auch Berlin hat die Blutzufuhr gut getan. Kurzum: Skepsis zu überwinden und miteinander Zuversicht zu entwickeln: das ist die Absicht, die mich heute von Berlin nach Bonn geführt hat. In diesem Geist grüße ich Sie herzlich am Tag nach dem Epiphaniasfest.

Dieses Fest hat es damit zu tun, dass die Finsternis vergeht und das wahre Licht jetzt scheint. Es handelt davon, dass der Himmel über uns offen steht, weil Gott uns nahe kommt. Diese Botschaft verbindet Weihnachten und Epiphanias miteinander. Das eine Fest handelt davon, dass Jesus inmitten der Hirten geboren werden, das andere davon, dass das Licht der Weihnacht auch von den Weisen aus dem Morgenland erkannt wird. Die Finsternis vergeht, und das wahre Licht scheint jetzt.

Nicht nur von der Finsternis ist da die Rede, die dann weicht, wenn das Licht des Morgens kommt, und die wieder einkehrt, wenn die Abenddämmerung sich über die Erde senkt. Sondern die Rede ist von einer Finsternis, die sich auch am hellerlichten Tag ausbreiten kann, von einer Finsternis, die unser ganzes Leben verdunkelt. Und ein Licht wird verheißen, das nicht auf den Tag beschränkt ist, sondern unserem ganzen Leben die Richtung weist, vom Licht der Wahrheit. Wenn dieses Licht aufstrahlt, dann steht der Himmel über uns offen, dann hat die Trennung von Himmel und Erde ein Ende.

Darum hat die große Vision vom offenen Himmel die Menschheit immer begleitet. Auch die biblische Botschaft wird von ihr umspannt. An ihrem Anfang steht der Traum Jakobs, der Traum von einer Leiter, die sich zu seinen Häupten erhebt und bis zum Himmel reicht. Gottes Boten steigen auf dieser Himmelsleiter hinauf und herab. Und am Ende der Bibel steht die Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt; das Meer aber, von dem man nach dem Weltbild der Alten dachte, dass es Himmel und Erde voneinander trennt, dieses Meer ist nicht mehr.

Zwischen der Vision des Anfangs und der Verheißung des Endes aber steht die Person Jesu. Er tritt in die Kluft hinein, die Himmel und Erde voneinander trennt. Er tritt in diese Kluft, indem er die Versuchungen abweist, durch die er vom Himmel, also von seiner Zugehörigkeit zu Gott, getrennt werden soll. Nachdem er der dreifachen Versuchung widerstanden hat, treten die Engel zu ihm und dienen ihm. Der Himmel steht offen.

Auf dem Berg der Verklärung ergreift das Licht, das Himmel und Erde miteinander verbindet, Jesus so, dass sein Angesicht leuchtet wie die Sonne und seine Kleider weiß werden wie das Licht. Die Stimme aber, die mit diesem Licht kommt, sagt: Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören.

Das Neue Testament beschreibt uns Jesus als den Bürgen dafür, dass Himmel und Erde nicht mehr getrennt sind, weil uns nichts mehr von Gottes Liebe trennen kann. Der Himmel steht über uns Menschen offen, weil Gott in seinem Sohn in unsere Welt kommt. Er kommt uns so nahe wie ein Kind; er kommt so bedürftig zu uns wie ein Neugeborener, dessen Obdach ein Stall und dessen Wiege ein Futtertrog ist. Auch dort erreicht Gottes Wohlgefallen die Menschen.

Das ist der tiefste Grund für das weihnachtliche Staunen, aus dem heraus wir in das neue Jahr gegangen sind. In dieses Staunen wird auch Nathanael hineingezogen, der Freund des Philippus, der Skeptiker aus Bethsaida, der fragt, was aus Nazareth wohl Gutes kommen kann. Manche Skepsis wird schon durch eine vergleichsweise oberflächliche Überraschung in die Schranken gewiesen. So auch hier: Jesus, von dem Nathanael nichts Gutes erwartet – weil er ja nur aus Nazareth stammt – erkennt Nathanael, bevor dieser auch nur ein Wort gesagt hat. Er hat ihn schon gesehen, bevor Nathanael das bemerken konnte. Da schlägt auch schon die Skepsis in Bewunderung um: Du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel.

Doch Jesus lässt sich nicht einmal durch ein so überschwängliches Bekenntnis blenden. Denn es kommt auf etwas anderes an. Es kommt darauf an, dass die große Hoffnung in Erfüllung geht. Himmel und Erde sind nicht mehr voneinander getrennt. Die Wirklichkeit Gottes kommt in der Wirklichkeit dieser Welt an. Und Menschen öffnen sich für diese Wirklichkeit. Denn sie sind schon erkannt, bevor sie zu erkennen beginnen.

III.
Der Himmel steht offen. Ihr könnt aus der Gegenwart Gottes leben. Ihr dürft euch vor dem einen Gott beugen, der größer ist als ihr. Eben deshalb könnt ihr erhobenen Hauptes durch dieses Jahr gehen. So heißt die Botschaft des Epiphaniasfests. In den letzten Jahren hieß eine weit verbreitete Diagnose, diese Botschaft interessiere die Menschen nicht mehr. Sie seien mit dieser Erde zufrieden. Am Himmel interessiere sie nur noch dessen befahrbarer Teil. In einer Zeit, in der die bemannte Raumfahrt möglich wird, braucht man sich, so war die herrschende Auffassung, um den offenen Himmel nicht mehr zu scheren, der die Nähe Gottes verbürgt. Für das menschliche Leben galt nur noch als wichtig, was wir jetzt hier erleben können. Erlebe dein Leben jetzt: so hieß die Botschaft, Jahr für Jahr. Daraus sollte sich der Sinn des Lebens speisen, so hieß die Annahme. Davon erwartete man das Gute, nicht aus Nazareth.

Um diese platte Diesseitigkeit ist es stiller geworden. Denn die Erlebnisgesellschaft kann die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht beantworten kann. Die Parole, dass man das Leben jetzt ohne Rest erleben muss, weil über dieses Leben hinaus nichts zu hoffen bleibt, erscheint wie ein Placebo. Denn der Sinn unseres Lebens erschöpft sich nicht in der bloßen Gegenwart und in der platten Diesseitigkeit. Wir brauchen mehr Tiefe, wenn wir die Höhen unseres Lebens wahrnehmen und für sie dankbar sein wollen. Wir brauchen festeren Grund unter den Füßen, wenn wir auch den Abgründen unserer Welt standhalten wollen. Wir finden uns auf dieser Erde nur zurecht, wenn wir sie im Licht des geöffneten Himmels sehen, im Licht der Wahrheit Gottes, der es gut mit uns meint und der deshalb auch noch das Böse zum Guten wenden will. Wir werden den Unwägbarkeiten unseres Lebens nur standhalten, wenn wir unser Leben nicht an Werte binden, die gewogen und zu leicht befunden werden. Wir brauchen Halt an den Werten, die Himmel und Erde miteinander verbinden: am Glauben, an der Liebe, an der Hoffnung.

Eine solche Ausrichtung des Lebens findet neue Aufmerksamkeit. Menschen schauen wieder danach aus, ob der Himmel über ihnen offen steht. Sie fragen nach dem Heiligen. Sie suchen Heimat in großen Riten. Sie vertrauen sich einer Wahrheit an, die größer ist als sie selbst; sie stören sich deshalb nicht mehr daran, wenn sie diese Wahrheit nur zum Teil verstehen. Dann wollen sie wenigstens den Zipfel festhalten, der sich ihnen zeigt, das Fragment begreifen, in der sich ihnen diese Hoffnung erschließt – in der Hoffnung, eines Tages doch zu erkennen, wie das Ganze gemeint ist.

Viele große Beispiele des vergangenen Jahres haben das deutlich gemacht. Von ihnen ist wieder und wieder gesprochen worden – vom Papst in Rom bis zur Frauenkirche in Dresden. Ich will heute nur ein kleines Beispiel aus meinem eigenen Bereich anführen, aus Brandenburg.

Jahr für Jahr wird in Brandenburg ein anderer Aspekt der Schönheiten dieses Landes in einer „Kulturlandkampagne“ vor Augen gestellt, seien es seine Schlösser, seine Herrensitze oder seine Gärten. Im letzten Jahr hatte man sich dazu entschlossen, die Prägung Brandenburgs durch tausend Jahre Christentum zum Thema der Kulturlandkampagne zu machen. Der Himmel auf Erden – so hieß erstaunlicherweise der Titel dieses Vorhabens. Im ganzen Land waren die unterschiedlichsten Ausstellungen und Veranstaltungen diesem Thema gewidmet. Das könne ja nur ein Flop werden, sagten die Skeptiker. Was kann vom Glauben schon Gutes kommen, danach fragt doch niemand mehr – so spotteten sie. Doch es kam anders. Seit es diese jährlich wiederkehrende Initiative gibt, hat noch kein Thema so viele Besucher angelockt wie dieses. Die Resonanz hat dazu beigetragen, dass die Atmosphäre sich verändert.

Wie der christliche Glaube unsere Kultur bestimmt hat und unsere Gegenwart prägt, findet neues Interesse. Menschen suchen nach einem Halt, der ihnen dabei hilft, auch bei stürmischem Wetter fest auf dem Boden zu stehen. Sie suchen nach einer Orientierung, durch die sie auch bei widrigem Wind klaren Kurs behalten. Sie sehnen sich danach, dass der Himmel über ihnen offen steht, dass sie die Nähe Gottes spüren und sich dadurch auch füreinander auf neue Weise öffnen. Die Liebe Gottes und der barmherzige Umgang miteinander werden wieder zu einem Leitfaden für das Leben. Unsere Erfolge rücken wir wieder in den größeren Zusammenhang der Hoffnung darauf, dass unser Leben gelingt.
Enttäuschungen und Schwierigkeiten fügen wir ein in die Gewissheit einer unverlierbaren Würde, mit der Gott uns beschenkt.

Was kann aus Nazareth Gutes kommen, fragt Nathanael. Die Antwort heißt: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. Das wünsche ich uns allen – in Bonn wie in Berlin und anderswo – in diesem Jahr 2006. Amen.