Renaissance des Glaubens - Die Säkularisierung und die Zukunft der Kirchen, Frankfurter Gesellschaft

Wolfgang Huber

I. Kirche zwischen Säkularisierung und Wiederkehr der Religion

Was an der Haltung beider Landeskirchen auffällt, ist ihre heraushängende Zunge. Atemlos jappsend laufen sie hinter der Zeit her, auf dass ihnen niemand entwische. Dieses Zitat stammt von Kurt Tucholsky; im Jahr 1930 hat er so über die Kirchen in Deutschland gesprochen. Doch die Gefahr ist einmal mehr akut. Zurzeit bemühen wir uns darum, sowohl mit der Säkularisierung gleichauf zu sein als auch die Zeichen für eine Wiederkehr der Religion nicht zu verpassen. Denn beide Zeitdiagnosen kann man gegenwärtig hören.

Die eine Diagnose heißt: Säkularisierung. Zwar kann man in einer globalen Perspektive nicht von einem Rückgang der Bedeutung von Religion sprechen; vielmehr muss man von einer wachsenden Resonanz aller großen Weltreligionen ausgehen. Aber im Blick auf bestimmte Regionen, zu denen nicht nur die Mitte Europas, sondern beispielsweise auch Australien und Neuseeland gehören, kann man nicht bestreiten, dass sie in den letzten Jahrzehnten durch eine Erosion der Bedeutung von Religion für das persönliche Leben wie für das gesellschaftliche Zusammenleben geprägt waren. In Deutschland haben wir diesen Prozess verstärkt erlebt. Denn als er im Westen Deutschlands auf seinem Höhepunkt angelangt war, verknüpfte er sich infolge der Vereinigung Deutschlands zugleich mit den Folgen der Entkirchlichung im Osten Deutschlands.

Die andere Diagnose heißt: Wiederkehr der Religion. Auch in der deutschen Gesellschaft deuten sich gegenwärtig Verschiebungen an. Es gibt eine Wiederkehr der Religion. Aber sie wirkt sich keineswegs automatisch in einer verstärkten Zuwendung zum christlichen Glauben aus. Menschen verstehen sich wieder als religiös. Aber Klarheit darüber, was sie damit meinen, suchen sie oft nicht in den Kirchen. 85 Prozent der Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren sehen die Frage nach Gott als wichtig an. Aber nur zwanzig Prozent der Erwachsenen haben starke Erwartungen an die Kirchen.

Was ist mit diesen beiden Diagnosen gemeint? Ob sie stimmen, ist schwer zu entscheiden. Was sie bedeuten, ist unklar.

1. Die säkularisierte Welt

Die Diagnose, wir seien Zeugen einer weit fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Säkularisierung, ist oft zu hören. Doch sie ist bei weitem nicht so klar, wie sie klingt. Denn schon der Begriff der Säkularisierung steckt voller Ambivalenzen. Sein Gebrauch ist so weit gespannt, dass es ihm oft an klaren Konturen fehlt.

Selten kennt man den Ursprung eines Wortes so genau wie in diesem Fall. Deshalb will ich Sie zu einem kleinen geschichtlichen Ausflug verlocken. Er führt uns nach Münster in Westfalen; wir sind Zeugen der Verhandlungen, die mit dem Westfälischen Frieden, dem Frieden von Münster und Osnabrück besiegelt wurden. Am 8. Mai 1646 nimmt der Herzog von Longueville, der französische Ambassadeur bei den Friedensverhandlungen in Münster, das Wort. In seinem Vortrag fällt zum ersten Mal der Ausdruck „säkularisieren“. Bis dahin meinte saecularisatio den Übergang eines Mönchs in den Stand des Weltpriesters, seinen Wechsel vom status regularis in den status saecularis. Nun erklärte der Herzog von Longueville, die katholischen Mächte könnten hinsichtlich geistlicher Güter, die der katholischen Kirche entzogen - secularisiret - würden, keinen ewigen Vergleich ohne ausdrückliche Zustimmung des Papstes abschließen. Die Aufhebung geistlicher Fürstentümer und die Einziehung von Kirchengut durch protestantische Reichsstände war also das Thema.

Ähnlich war es bei der großen Säkularisation der Jahre 1802/03. Dabei bezeichnete seit dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 Säkularisation nicht nur die Überführung von Gütern, sondern auch von Regentenfunktionen in weltliche Hände. Beides traf vor allem die katholischen Stände und Bistümer. Die durch den Reichsdeputationshauptschluss vollzogene Säkularisierung führte folgerichtig das Ende des Heiligen Römischen Reiches herbei, das im Jahr 1806 besiegelt wurde. Das war übrigens genau vor zweihundert Jahren. Es ist ein Jubiläum, von dem man vergleichsweise wenig hört. Dabei hat es nachweisbare Auswirkungen bis zum heutigen Tag.

Säkularisierung meint im Gefolge dieser Vorgänge zunächst eine Veränderung der politischen Ordnung. Geistliche Fürstentümer gehören der Vergangenheit an; die Staatsangehörigkeit wird nicht mehr durch die Konfessionszugehörigkeit bestimmt; die Religionsfreiheit gilt für alle in gleicher Weise. Diese Veränderung der politischen Ordnung hat zu einer aufgeklärten Säkularität geführt, die man heute auch aus Gründen des christlichen Glaubens aktiv vertreten und verfechten muss. Denn diese aufgeklärte Säkularität und die mit ihr verbundene kategoriale Unterscheidung zwischen Staat und Religion hat sich als unumgängliche Voraussetzung für die Achtung der gleichen Würde jedes Menschen wie für die Wahrung der Religionsfreiheit erwiesen. Ein aktives Eintreten für aufgeklärte Säkularität ist heute gegenüber muslimischen Gesprächspartnern genauso notwendig wie gegenüber den Verfechtern eines staatlichen Laizismus, der sich unter Umständen sehr gut mit Bestimmungsansprüchen über den Bereich der Religion verbinden kann.

Häufig ist allerdings von einer Säkularisierung in einem viel weiteren und unbestimmteren Sinn die Rede. Es wird von einer Säkularisierung der Gesellschaft gesprochen, die mit einem rasanten Bedeutungsverlust der Kirchen verbunden sei. In diesem Sinne ist Säkularisierung immer wieder zu einem Synonym für die Zukunftslosigkeit des christlichen Glaubens geworden. Er habe, so wird gesagt, keine Zukunft, weil die Menschen nicht nach ihm fragen.

Es gibt eine Betrachtungsweise, die einen solchen Vorgang deshalb mit Gelassenheit sieht, weil dank einer Umbesetzung (Hans Blumenberg) die Gehalte des christlichen Glaubens gleichwohl aufbewahrt werden. Diese Betrachtungsweise versteht unter Säkularisierung vor allem die Umdeutung christlicher Gehalte zu Themen weltlicher Verständigung.

Genau dieser Vorgang ist nun allerdings am allerwenigsten dazu geeignet, aus der Säkularisierung auf eine Zukunftslosigkeit des christlichen Glaubens zu schließen. Dass Gehalte des christlichen Glaubens weltliche Entsprechungen finden, kann vielmehr gerade ein Hinweis auf deren nicht abgegoltene Kraft sein. Dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Vorstellung einer unantastbaren Würde oder die Verheißung einer Gemeinschaft, in der nicht Jude noch Grieche, nicht Mann noch Frau ist, im Gedanken einer herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft wiederkehren, lässt gerade nicht auf die Schwäche der Ursprungsmotive schließen. Sie müssen allerdings immer wieder in ihrem ursprünglichen, jede Säkularisierung überschreitenden Gehalt erkennbar gemacht werden. Gott lässt sich nicht säkularisieren, hat der Theologe Christof Gestrich zu Recht in diesem Zusammenhang festgestellt. Deshalb ist es ein Trugschluss, wenn die Kirche selbst auf die Säkularisierung der ihr anvertrauten Glaubensgehalte mit einer Selbstsäkularisierung antwortet, statt unter der Asche der Säkularisierung die Glut der ursprünglichen Glaubensmotive freizulegen.

Im Blick auf die drei Aspekte der Säkularisierung, die ich unterschieden habe, lässt sich also festhalten: Die Säkularisierung der politischen Ordnung ist eine Bedingung der Freiheit, auch der Religionsfreiheit. Diese Säkularisierung entspricht einem Motiv des christlichen Glaubens selbst: dem Respekt vor der gleichen Freiheit jedes Menschen. Die Säkularisierung im Sinn einer Transformation von Gehalten des Glaubens in Themen weltlicher Verständigung entzieht dem Glauben keineswegs seine Wahrheitskraft, sondern bezeugt sie. Sie sollte zum Anlass genommen werden, das für die Entschlüsselung solcher Vorgänge nötige Glaubenswissen wieder zum Bewusstsein zu bringen. Diese Art der Säkularisierung stellt also eine große Herausforderung wie eine große Chance christlicher Bildungsanstrengungen dar.

2. Wiederkehr der Religion

Die Begegnung mit der Religion steht wieder auf der Tagesordnung. Insbesondere die herausgehobenen religiösen Ereignisse des vergangenen Jahres sprechen eine eigene Sprache. Beispielhaft erinnere ich an das große Interesse, das der Wechsel im Papstamt, aber auch der Weltjugendtag im Bereich der römisch-katholischen Kirche geweckt haben; ich erinnere an den Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover mit den prägenden Bildern vor allem seines Eröffnungsabends oder an das ungeheure Echo, das die Einweihung der Frauenkirche in Dresden gefunden hat; ich habe aber auch viele kleinere Ereignisse und Begebenheiten im Sinn, von denen ich lang erzählen könnte. Sie alle zeigen: Menschen fragen wieder weiter. Auch in unseren Breiten nehmen sie sich wieder wahr als die selbsttranszendenten Wesen, die sie sind. Religiöse Interessen werden lebendig. Kirche wird wieder gefragt.

 Schon wird von einer Renaissance des Glaubens gesprochen. Aber die Religion ist nicht mehr nur die Angelegenheit der christlichen Kirchen, sondern begegnet in vielen individualisierten und privatisierten Formen. Viele Menschen sind fasziniert von der Esoterik mit ihrer bunten Mélange von Lebensbewältigungs- und Welterklärungsmodellen. Wer ein Auge dafür hat, kann leicht Vorgänge religiöser Hingabe in der Musik- und Filmszene beobachten, aber auch im Sport. Nicht umsonst, wenn auch etwas ironisch, heißt ein Fanmagazin des Fußballbundesligavereins Schalke 04 Schalke unser. Und die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht inzwischen eine Fibel für Fußballfreunde mit dem Titel Fußball unser. In unserer Zeit werden viele religiöse Antworten auf die Sehnsucht nach Glück und Ganzheit gegeben. Es gibt kaum einen kulturellen oder gesellschaftlichen Bereich, in dem man nicht Zeichen für eine Wiederkehr des Religiösen beobachten kann.

Gemessen an gängigen Urteilen ist das selbst schon eine Sensation. Über Jahrzehnte war es in unserer Gesellschaft eine Art säkularer Glaubenssatz, dass Glaube und Religion ihre Zeit gehabt hätten. Die Abgesänge auf das Christentum und auf die Religionen insgesamt waren nicht zu überhören.

Ob Sie nun an den neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus denken mit seiner These, mit der Zeit würden Gott und Glauben schlicht überflüssig werden, oder an den Anspruch der Wissenschaften, die Welt auch ohne die Hypothese Gott erklären zu können: inzwischen ist die Fraglichkeit der einen wie der anderen Position offenkundig geworden. Ob Sie sich an die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft erinnern und an die Voraussage, die Religion als Opium des Volkes werde sich von allein erledigen, wenn denn nur die Verhältnisse gerecht geworden seien, oder ob Sie an die pseudowissenschaftlich-darwinistische Weltanschauung der Nazi-Zeit denken mit ihrem Ziel, nicht nur das Judentum auszurotten, sondern auch den schwächlichen Geist des Christentums: solche totalitären Ideologien haben sich selbst widerlegt. Auf andere Weise ist es auch um die Großerzählung des Projektes Aufklärung still geworden; denn auch eine sich selbst überlassene Vernunft, eine ohne Wertebindung existierende Rationalität überschreitet die Grenzen ihrer Zuständigkeit, wenn sie sich selbst absolut setzt. 

Aber zugleich ist richtig: Der christliche Glaube hat gerade in der europäischen Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte seine Selbstverständlichkeit eingebüßt. Zwar wird inzwischen wieder verstärkt nach der Verwurzelung unserer Kultur in der jüdisch-christlichen Tradition gefragt. Aber dazu, diese Verwurzelung in einer europäischen Verfassung auch zu benennen, sind wir noch nicht im Stande. Zwar merken wir, dass menschliche Verantwortung ihre Grenzen anerkennen muss und deshalb Verantwortung vor Gott und den Menschen ist. Aber in der Präambel einer europäischen Verfassung hat das noch keinen Platz.

Dabei sollte eine Überlegung zu der neuen Zuwendung zur Religion ganz bewusst nicht bei der Verbindung von Religion und Gewalt beginnen, obwohl die Anlässe, diesen Zusammenhang zu reflektieren, sich häufen. Der 11. September 2001, die Bombenanschläge in den U-Bahnen und Bussen von London, die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Israel, nicht nur bei der Räumung des Gaza-Streifens, aber auch der gewaltsame Tod Frère Rogers, des Gründers und Priors der Gemeinschaft von Taizé, seien stellvertretend für viele andere Beispiele genannt.

Doch diese Hinweise rücken alle Religionen, nicht nur den Islam, in ein schiefes, militantes Licht, das keiner Weltreligion gerecht wird. Die meisten Anhänger aller Weltreligionen auf unserer Erde sind friedlich gesinnt; die Wiederkehr der Religionen ist darum zuerst kein Sicherheitsproblem, sondern ein Gewissheitsproblem! Natürlich verbinden sich auch Gewalt und Fundamentalismus mit der Wiederkehr der Religionen. Sich von solchem religiösen Fanatismus zu distanzieren, ist eine Grundpflicht aller. Aber es ist eine unzutreffende These selbsternannter Säkularisierungspäpste, wenn allein diese gewaltsame Seite der Religion als Kennzeichen ihrer Wiederkehr ausgegeben wird.

Ins Zentrum dieses Phänomens stoßen wir vor, wenn wir auf die Signale für eine Wiederkehr der Religion in der Sphäre der Kultur und der gelebten Frömmigkeit achten. Wer hätte vorausgesagt, dass es im Jahre 2005 in Deutschland eine Theaterlandschaft gibt, die sich auf Glaubensfragen konzentriert? Bücher mit religiösen Themen erreichen Spitzenplätze auf Bestsellerlisten und werden mit Preisen ausgezeichnet. Die Neue Deutsche Welle in der Musik, so sagen mir Kundige, wendet sich den Themen von Glauben und Vertrauen, von Halt und Sinn zu. Ein rein populär ausgerichteter privater Fernsehkanal wie VOX thematisiert die Frage, wie man in Würde und Anstand mit Tod und Abschied umgeht.

Auch aus der Politik kommen vergleichbare Signale. Bundespräsident Horst Köhler beendete die Ansprache nach seiner Wahl mit den Worten: Gott segne unser Land. Und als er beim Kirchentag in Hannover gefragt wurde, warum er das gesagt habe, antwortete er: Weil ich davon überzeugt bin, dass es unserem Land mit Gottes Segen besser geht also ohne ihn. Zum sechzigsten Jahrestag des 8. Mai 1945 erbaten die Präsidenten des Bundesrats und des Bundestags von den Kirchen einen ökumenischen Gottesdienst. Andere Gottesdienste traten dem zur Seite. Und dass nicht nur die mediale, sondern auch die politische Aufmerksamkeit für den Tod von Papst Johannes Paul II. und die Wahl Benedikts XVI. den Rahmen des bisher Bekannten sprengte, ist mit Händen zu greifen.

Es entsteht ein neues Gespür dafür, dass ein komplett diesseitiges, rein wirtschaftstaumeliges und radikal konsumzentriertes Leben zu banal, zu äußerlich und zu oberflächlich ist. Je unerbittlicher die europäische Welt auf die globalisierte Wirtschaft ausgerichtet wird, je strikter Markt und Finanzkraft, Lohnnebenkosten und Konkurrenzkampf das Leben aller bestimmen sollen, desto stärker wird nach Gegenkräften gefragt. Die meisten spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt, dass Wirtschaft allein nicht Sinn schenkt, dass Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht. Mit der
Rückkehr der Religion rebelliert die Seele der Menschen gegen ihre kommerzielle Reduktion.

Kritiklos kann diese Wiederkehr der Religion nicht hingenommen werden. Allzu triumphale Töne machen für die eigenen Fehler blind. Religion, die nur vertröstet, stellt den prophetischen Impuls der biblischen Botschaft still. Religion, die das Bündnis mit der Aufklärung aufkündigt, verweigert sich einem kritischen Wahrheitsanspruch. Fanatismus und Gewaltbereitschaft, die sich der wiederkehrenden Religion bedienen, fordern Widerspruch heraus.

Aber dazu, dass wir uns gerade in einer solchen Situation als Kirchen auf der Verliererstraße sehen, besteht überhaupt kein Anlass. Die Umgestaltungsaufgaben, die wir in unseren Kirchen gegenwärtig zu bewältigen haben, sind kein Grund zu Kleingeist und Kleinmut. Auch wenn wir unter finanziellem Druck von manchem Abschied nehmen müssen, was uns wichtig und vertraut ist, erleben wir doch auch in unseren Kirchen eine Wiederkehr der Religion, eine Rückkehr der Frömmigkeit, einen Aufbruch zu neuen Ufern.

Unverkennbar ist die Spagatsituation, in die wir als Kirchen dadurch geraten. Sie wird sich noch verstärken: Während die faktischen Handlungsmöglichkeiten der Kirchen zurückgehen, weil ihre finanziellen Spielräume enger werden, wächst zugleich die Nachfrage nach der geistlichen Orientierung, die von ihnen ausgeht. Die Kirchen und Gemeinden müssen darauf antworten mit der Konzentration auf das, was allein sie vertreten können: die Orientierung an der Wirklichkeit Gottes. Entwickeln wir Zutrauen zu den neuen und überraschenden Wegen, auf denen das geschieht.

In den Kirchen bedarf es eines noch stärkeren Bewusstseins dafür, dass das Vertrauen in ihre Kernkompetenz belebt und verstärkt werden muss: nämlich ein Raum für das Heilige zu sein, die Fähigkeit zu Glauben und Gebet zu erneuern, Menschen in der Mitte wie an den Grenzen ihres Lebens beizustehen. In evangelischer Perspektive muss sich das verbinden mit der Offenheit für Freiheit und Mündigkeit, für Säkularität und Wissenschaft. Das schließt die Einsicht in das gerade heute notwendige Grenzbewusstsein ein, also das Bewusstsein dafür, wo den menschlichen Bemächtigungsversuchen Grenzen gesetzt sind. Das eine Licht Jesu Christi soll auch gesehen und bezeugt werden in einer diesseitig gewordenen, wissenschafts-, wirtschafts- und machbarkeitsorientierten Welt, die die Sinnressourcen, die sie braucht, selbst nicht herzustellen vermag. Evangelisches Christsein ist in meinen Augen der stellvertretende Weg, einen aufgeklärten Glauben unter den Bedingungen der modernen Welt zu bezeugen. 


II. Die Aufgabe: den Glauben verstehen

Der deutsche Protestantismus ist nicht erschöpft, sondern er lebt! Er wandelt sich, er zieht aus mancher vertrauten Wohnung aus und benutzt auch wieder einfachere Zelte und Unterstände. Das belastet und macht auch Kummer. Aber wir haben keinen Grund, Trübsal zu blasen.
 
Doch wir brauchen eine neue Konzentration auf die Mitte unseres Auftrags; wir brauchen ein neues Eintauchen in das Zentrum des Glaubens. Uns selbst müssen wir den Geist zusagen lassen, den wir dann auch mit anderen teilen wollen. Von ihm sagt das Neue Testament: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit (2 Timotheus 1, 7). Oder mit den Worten des Psalmisten: Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen (Psalm 18,30).

In der zurückliegenden Generation haben wir die Bedeutung des christlichen Glaubens ganz stark in seiner Zuwendung zur Welt gesehen. Glaube und Handeln war ein zentrales Thema kirchlicher Orientierung. Und Glaube und Handeln war auch ein zentrales Thema des persönlichen Glaubensverständnisses, das sich vor allem andern in gesellschaftlicher Verantwortung bewähren sollte. Die politische Predigt wurde von daher an manchen Orten zur Grundform der Predigt überhaupt.

Von der Zuwendung des christlichen Glaubens zur Wirklichkeit der Welt, die sich in dieser Verbindung von Glaube und Handeln Ausdruck verschafft, ist nichts zurückzunehmen. Auch heute stehen wir für einen Glauben, der seine gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt. Doch zugleich stoßen wir neu auf die spirituelle Dimension des Glaubens. Der Glaube muss empfangen und gefeiert werden. Er hat seinen Ort im persönlichen Gebet und bewirkt zuallererst Vertrauen, bevor er ins Handeln führt. Der Glaube ist eine Lebensform, eine Gestalt des ganzen Lebens, nicht nur ein Handlungsprogramm. Richtig ist auch: Unterschiedliche Menschen ziehen aus ihrem Glauben unterschiedliche Folgerungen für ihr Handeln; und in vielen Fällen haben sie dazu ein gutes Recht. Manchmal trügt der Schein, der meint, dass man die Glaubwürdigkeit der Christen und der Kirchen an ihrem Handeln ablesen könne. Zudem muss man, um das beurteilen zu können, den Glauben selbst verstehen. Deshalb merken wir heute: Das Thema Glauben und Verstehen ist genauso wichtig wie das Thema Glauben und Handeln.

Die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens steht in besonderer Weise für verstandenen Glauben. Schon für das Neue Testament bedeutet zum Glauben kommen so viel wie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. An diese Wahrheitsverpflichtung knüpft die Reformation an. Deshalb ist sie von Anfang an auf das Verstehen des Glaubens gerichtet. Den Glauben zu verstehen, bedeutet, sich seinem inneren Zusammenhang anzunähern. Dass der Glaube uns in unserem Leben ergreift, dass Jesus Christus unser Leben verwandelt, bleibt ein Geheimnis. Wo immer Glaube sich ereignet, ist dies ein Wunder. Aber dieses Wunder drängt auf Verstehen. Wir wollen die Bündigkeit des Glaubens begreifen.

Beim Verstehen des Glaubens geht es nicht anders zu als beim Verstehen eines Menschen. Einen Menschen verstehe ich nicht, wenn ich diese oder jene Tat erklären, diesen oder jenen Satz wiederholen kann. Ich verstehe ihn, wenn ich erfasst habe, was ihn als Person ausmacht; dann kann ich seine Reaktionen einordnen und unter Umständen sogar voraussagen. Meine Sympathie bleibt ihm auch dort erhalten, wo mir manches an ihm rätselhaft ist. Ähnlich ist es mit dem Verstehen des Glaubens. Wenn es mir gelingt, den inneren Kern des christlichen Glaubens zu erfassen, kann ich eigenständig nachvollziehen, was er für die großen Fragen meines Lebens bedeutet. Meine Sympathie für diesen Glauben bleibt auch dort erhalten, wo mir manches an ihm rätselhaft bleibt. Das Verstehen des Glaubens zeigt sich also nicht an der Menge der Glaubenssätze, die ich für mich selbst als richtig anerkenne. Es zeigt sich an der Gewissheit, in der dieser Glaube mein eigenes Leben bestimmt.

Ohne Verstehen gibt es keine Toleranz. Toleranz gehört zu den großen Forderungen unserer Zeit. Wer diese Forderung ernst meint, muss Möglichkeiten zum Verstehen schaffen. Man muss den inneren Kern in den Überzeugungen eines andern begreifen, wenn man wirkliche Toleranz für ihn aufbringen soll. Alles andere ist verschleiertes Desinteresse, nicht wirkliche Toleranz. Im Feld der Religionen gibt es wirkliche Toleranz nur auf der Grundlage gelebter Religion. Denn Religion ist ohne Religiosität nicht zu verstehen. Das hat Auswirkungen bis hin zum Religionsunterricht. Wenn er dem Verstehen von Religion dienen soll, sind Lehrerinnen und Lehrer vonnöten, denen Religion selber wichtig ist. Deshalb ist es ein Irrweg, wenn in meiner Heimatstadt Berlin jetzt ein staatliches Pflichtfach für alle eingeführt werden soll, das dem interreligiösen Lernen so dienen will, dass alle Religionen aus dem gleichen Abstand betrachtet werden. So entsteht kein wirkliches Verstehen. So bildet sich keine wirkliche Toleranz. Beides aber brauchen wir. Deshalb finden wir uns als Kirchen mit den Berliner Plänen nicht ab.


III. Den Glauben leben – die Kirche bejahen

Auf die Wiederkehr der Religion können wir nur aus dem Kern des christlichen Glaubens antworten. Aber worin besteht dieser Kern? Glaube ist in seinem Kern Vertrauen. Er hat es damit zu tun, dass wir in unserem Leben nicht nur auf die eigene Kraft bauen, sondern unseren Ort in der Welt wie unser persönliches Leben als Gabe empfangen. Glaube ist Vertrauen, weil er sich auf Gott richtet, der sich uns in Jesus Christus liebend zuwendet, bevor er etwas von uns fordert. Dieses Vertrauen bestärkt uns darin, mit unserer Gegenwart im Licht der Hoffnung umzugehen und uns die Zukunftsgewissheit nicht durch widrige Umstände aus der Hand schlagen zu lassen. Und schließlich enthält dieses Vertrauen die Kraft zur Umkehr aus den Todesverhängnissen unserer Zeit, aus den Sackgassen unseres Lebens, aus den Haltlosigkeiten der persönlichen Biographie. Schöpfung, Liebe, Hoffnung und Umkehr: so lassen sich die vier zentralen Motive eines Glaubens beschreiben, der in seinem Kern Vertrauen ist. Viele bezeugen es, dass dieses Vertrauen ihnen einen neuen Anfang möglich gemacht hat.

Dass Glaube in seinem Kern Vertrauen ist, entdecken wir in einer Situation, die durch nichts so sehr geprägt ist wie durch gestörtes Vertrauen. Die Erosion des Vertrauens nistet sich in unseren Seelen ein, wie sie auch unsere ganze Gesellschaft durchzieht. Misstrauen entwickeln wir nicht nur gegen die Verhältnisse um uns her. Misstrauen weckt nicht nur eine Welt, in der Gewinninteressen wichtiger sind als ethische Verantwortung, Einschaltquoten wichtiger als die Wahrheit, Machterhalt wichtiger als der moralische Grundkonsens. Die Erosion des Vertrauens vollzieht sich zugleich auf biographischer Ebene.

Das Selbstvertrauen vieler Menschen ist in Frage gestellt. Wie sollen sie Vertrauen in sich und ihre Kräfte entwickeln, wenn sie keine Arbeit haben? Wie sollen junge Menschen Vertrauen entwickeln, wenn ihnen von der vorangehenden Generation kollektiv Schulden für einen Lebensstil aufgehalst werden, den sie selbst kaum werden erreichen können? Wie soll Vertrauen wachsen in einer Gesellschaft, in der die Hoffnung auf Glück nicht mehr am Aufwachsen von Kindern erkennbar sein soll, sondern nur am beruflichen Erfolg oder am materiellen Konsum, am kurzfristigen Erleben oder an haltloser Vordergründigkeit? Dabei wissen wir im Grunde genau, dass all das kein Ersatz ist für ein Vertrauen, aus dem eine Zukunftsgewissheit wächst, mit der wir leben können.

Deshalb ist es so wichtig, im Vertrauen ein Grundwort christlicher Existenz neu zu entdecken. Wenn Jesus die niedergedrückten Menschen, auf die er traf, wieder aufrichtete, so war das Entscheidende das Vertrauen, das er in ihnen wachrief: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden (Lukas 7, 50). Der Glaube, den er den Menschen zusprach, ist in seinem Kern Vertrauen. Jesus weckte das elementare Zutrauen dazu, dass Gott für das Leben Gutes will. Gewiss ist das Gute nicht immer identisch mit dem Erwarteten. Aber der Blick auf das Gute, das Gott will, macht frei für die Zukunft. Biblisches Vertrauen ist in seinem Kern Gottvertrauen, nicht Vertrauen auf das eigene Selbst.

Darum besteht der erste und wichtigste Beitrag, den wir als Kirche zum Gedeihen des Vertrauens in unserer Welt leisten können, in der Stärkung des Gottvertrauens. Wir belassen es nicht dabei, den Verlust an Vertrauen zu beklagen und die Vorgänge zu benennen, die zur Erosion des Vertrauens beitragen – obwohl auch das immer wieder nötig ist, ohne falsche Scheu und Zurückhaltung. Doch Klage und Anklage allein schaffen noch kein Vertrauen. Sie zeigen im günstigsten Fall, warum es fehlt. Stärkung des Gottvertrauens aber geschieht in der Stärkung gelebten Glaubens, in gottesdienstlichen Feiern mit Stil und Qualität, in einer Bildungsarbeit, die auf einen verstandenen und gelebten Glauben zielt. Es geschieht in einer Seelsorge, die Menschen dahin führt, wo sie aus Gottvertrauen zur Freiheit und ins Freie finden, und in einer Diakonie, die den ganzen Menschen in den Blick nimmt.

Es ist gut, dem Glauben einen Ort im eigenen Leben wie in unserer Gesellschaft zu geben, indem wir zeigen: Gottvertrauen, Vertrauen in unsere Mitmenschen und Selbstvertrauen gehören zusammen.

Unter den damit beschriebenen Aufgaben hebe ich eine ganz besonders hervor: die Stärkung eines persönlichen, innigen Glaubens. Manche von uns haben diese Dimension lange vernachlässigt, weil wir, wie ich beschrieben habe, den Glauben so stark mit dem Handeln verknüpft haben. Die öffentliche Meinung hat uns darin bestärkt: Diakonische Werke finden mehr Anklang als Gottesdienste, soziales Engagement ist beliebter als Beten. Aber diese Verengung haben wir verinnerlicht und angenommen, dass sich am Handeln die Glaubwürdigkeit unserer Gottesbeziehung ablesen lasse. Darüber haben wir bisweilen verlernt, in Gott zu ruhen, in seiner Liebe einzukehren und seine Gegenwart zu erahnen. Nun aber fangen viele wieder an, dem Einkehren in Gottes Licht, dem Heimkehren in seinen Geist, dem Staunen vor seinem Geheimnis Raum zu geben.

Nach meiner Überzeugung sollte es nicht länger als typisch protestantisch gelten, dass wir das Innenleben des Glaubens, die spirituelle Landschaft im Herzen, die geistige Tiefe in der Seele vernachlässigen. Vielmehr werden wir gerade aus solcher geistigen Tiefe und theologischen Klarheit, aus dem Miteinander von theologischem Profil und spiritueller Dichte heraus auch in unseren Taten, in unserem Sagen und in unserem Trösten zu Tiefe und Klarheit kommen.

Ich bin davon überzeugt, dass neben kritischer Aufklärung und dialogischer Toleranz, neben sozialem Engagement und diakonischem Tun auch eine gereifte Innerlichkeit, auch eine an Bibel und Bekenntnis orientierte Sehnsucht nach einem Ankommen bei Gott eines der kräftigsten Widerstandsnester ist gegen allen religiösen Terrorismus und Fundamentalismus.

Neben dieser Arbeit an einer gereiften Innerlichkeit nenne ich als eine heute vordringliche Aufgabe die Erneuerung unseres Verhältnisses zur eigenen Kirche.

Protestanten verwechseln leicht die nötige Kritik an der Kirche mit einer Abwertung der eigenen Kirche. Viele unter uns reden von der eigenen Kirche sehr viel schlechter, als sie es verdient. Aber wie wollen wir eigentlich Menschen motivieren, in unserer Kirche mitzumachen, wenn wir sie selbst schlecht reden? Wen soll das überzeugen? Kritik an der Kirche ist nötig – nicht damit sie madig gemacht, sondern damit sie besser gemacht wird. Deshalb muss in solcher Kritik immer die Liebe zur Kirche erkennbar sein. Zugleich sollten wir uns unbefangen an dem freuen, was in der Kirche gelingt und was wir an ihr nicht missen möchten. Unsere Kirche braucht und verdient Menschen, die zu ihr halten, die gut von ihr reden, die sie mittragen und mitgestalten. 

Die evangelische Kirche ist eine Gestalt und Konkretion der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche wie andere Kirchen auch. Wir haben Anteil an der gesamten Geschichte der Christenheit, nicht nur an den letzten fünfhundert Jahren. Unsere Grundtexte stehen in der Bibel; die frühesten Summarien unseres evangelischen Glaubens sind die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse. Die Geschichte der frühen wie der mittelalterlichen Christenheit ist auch unsere Geschichte. Die Geschichte der Reformationskirchen beginnt also zur gleichen Zeit wie diejenige der katholischen und der orthodoxen Kirchen. Wir haben keinen Grund, uns für eine verspätete Kirche zu halten.

Dies tut dem Respekt vor den anderen Kirchen keinen Abbruch. Ebenso wenig geschieht dies, wenn wir als evangelische Christen nicht einen einzigen Nachfolger Petri und auch nicht einen einzigen Stellvertreter Christi auf Erden kennen. Herausgehoben ist das Amt des Papstes in der katholischen Kirche. Aber nach evangelischer Überzeugung haben alle Christen sich in der Nachfolge der Apostel zu bewähren. Die apostolische Sukzession verstehen wir als die Treue der ganzen Kirche zur apostolischen Botschaft. Und auch die Stellvertretung Christi bei unseren Nächsten ist uns allen anvertraut.

Dies kommt besonders überzeugend in der Leitungskultur unserer evangelischen Kirche zum Ausdruck. Das halte ich denen entgegen, die meinen, die hierarchische Leitungsstruktur der römischen Kirche entspreche der Bildersehnsucht unseres Medienzeitalters besser. Ich sage demgegenüber ganz bewusst: Eine Kirche, die öffentlich von mehreren Personen und dabei besonders wirkungsvoll von Frauen in Leitungsämtern vertreten wird, braucht sich nicht zu verstecken. Und ich füge hinzu: Das Priestertum aller Glaubenden, die Kultur aktiver Beteiligung und die synodale Leitungsstruktur sind Stärken unserer Kirche. Sie haben demokratischen Mitwirkungsrechten den Weg gebahnt. Sie haben Menschen zu demokratischer Leitungsverantwortung befähigt, wie man in der Wende von 1989 sehen konnte.  Die synodale und konziliare Struktur unserer Kirche hat ihre großen Vorteile.

Als evangelische Kirche halten wir fest an einem ökumenischen Grundverständnis, in dem wir uns als Kirchen in unseren Unterschieden mit gegenseitigem Respekt und in gegenseitiger Achtung wahrnehmen, um so das gemeinsame Zeugnis zu stärken. Ich habe die Phase, in der wir uns derzeit befinden, eine Phase der „Ökumene der Profile“ genannt. Es gilt heute, das je eigene Profil zu entwickeln, den Respekt vor der Verschiedenartigkeit der Kirchen zu vertiefen und das Gemeinsame an unserem Zeugnis für das Evangelium zu kräftigen.

Es ist an der Zeit, dass wir den Wert unserer Kirche schätzen lernen und anderen liebenswert machen. Nur so können wir andere dazu motivieren, die Kirche als das zu nehmen, was sie ist: Gemeinschaft derer, die Gott vertrauen, Gehilfin des Glaubens, Verantwortungsgemeinschaft zur Weitergabe des Evangeliums, Mund der Stummen und stumm Gemachten, Wegweiser zur Quelle der Barmherzigkeit, Raum und Anwalt der Freiheit.