Liedpredigt zu „Ich steh an deiner Krippen hier“ im Eröffnungsgottesdienst für das Paul-Gerhardt-Jahr in der Paul-Gerhardt-Kirche zu Lübben

Wolfgang Huber

I.
Ein Komet zieht über den Himmel des Jahres 1607. Sein Schweif ängstigt die Menschen. In den Sternenschweif werden die ohnehin heraufziehenden politischen Gefährdungen hineingewoben. Es ist ungewöhnlich kalt im Ackerstädtchen Gräfenhainichen, als der Familie Gerhardt am 12. März des Jahres 1607 ein Sohn geboren wurde, den die Eltern Paul nannten. Die von den Meteorologen als „Kleine Eiszeit“ beschriebene Abkühlung des Klimas in Europa führt zu harten Wintern und Ernteausfällen. Auch die politischen Zeichen verheißen nichts Gutes. Der Kaiser vertreibt die Protestanten im Süden des Reiches aus Regensburg. Nach und nach zündet eine Eskalationsstufe die nächste. Ein Jahr nach dem hundertsten Jubiläum des Wittenberger Thesenanschlags treten im Jahr 1618 katholische und protestantische Mächte in den Krieg ein, der dreißig Jahre dauern wird.

Sollte die Himmelserscheinung im Geburtsjahr Paul Gerhardts am Ende ein göttliches Warnzeichen gewesen sein? Erst hundert Jahre später wird der englische Physiker Edmond Halley entdecken, dass es sich bei der Angst auslösenden Sternenschweif um einen Kometen handelt, der ungefähr alle 76 Jahre wiederkehrt. Zuletzt passierte er im Jahr 1986 die Erde. Seine nächste Wiederkehr wird für das Jahr 2061 erwartet. Rückblickend wurde im Laufe der Zeit erkannt, dass der Komet seit dem Jahr 240 vor Christi Geburt schon mindestens fünfundzwanzig Mal beobachtet worden war. Die bekannteste bildliche Darstellung des Kometen ist eine Krippendarstellung des italienischen Malers Giotto di Bondone, der den Kometen im Jahr 1301 sah und ihn als Stern von Bethlehem in seinem Fresko Die Anbetung der Könige darstellte.

Paul Gerhardt sah sein Leben nicht als eines, das seinen Anfang unter ungünstigen Sternen genommen hat. Für ihn war und blieb Christus die wärmende Sonne. Wir wissen, dass er in tiefe Todesschatten hineingeriet. Doch auch dann harrte er auf die ersten Sonnenstrahlen, die das Dunkel durchdrangen und besiegten.

II.
Mit diesem Gottesdienst eröffnen wir das Paul-Gerhardt-Jahr 2007. In den nächsten Monaten wird es vielfältige Angebote geben, Leben, Werk und Wirkung des bekanntesten protestantischen Liederdichters nach Martin Luther neu zu entdecken. Seine wichtigsten Wirkungsstätten liegen in Berlin und im brandenburgischen Mittenwalde. Seine letzten Arbeits- und Lebensjahre verbrachte Paul-Gerhardt in Lübben. In dieser Kirche wurde er begraben.

Die Ehrlichkeit gebietet hinzuzufügen: Ganz freiwillig ist Paul Gerhardt nicht nach Lübben gekommen. Er wäre gern in Berlin geblieben, wo er an St. Nicolai Dienst tat. Doch wegen seiner unnachgiebigen Haltung in den theologischen Auseinandersetzungen jener Zeit konnte er nicht bleiben. Der Versuch von Kurfürst Friedrich Wilhelm, ihn durch die Behauptung zu halten, er habe das entsprechende Edikt nicht richtig verstanden, misslang gründlich. Denn mangelndes Verständnis wollte Paul Gerhardt sich am wenigsten nachsagen lassen. So war es am Ende ein Missverständnis über mangelndes Verständnis, das Paul Gerhardt nach Lübben brachte. Ein Glück für diese Stadt. Das fand Paul Gerhardt auch; deshalb dauerte es einige Zeit, bis die Räumlichkeiten, die man ihm zur Wohnung anbot, seinen Ansprüchen genügen konnten. Aber durch seine Probepredigt hatte er die Lübbener begeistert. Gern wüssten wir, was er in seinen sieben Lübbener Jahren gepredigt hat; es ist uns leider nicht überliefert. Und auch von seiner Dichtkunst enthält die Lübbener Zeit nur sparsame Spuren. Man mag vielleicht annehmen, dass die Schmerzen der davor liegenden Zeit – der Tod seiner Frau und von vier seiner fünf Kinder ebenso wie die kirchliche Auseinandersetzung, deren Opfer Paul Gerhardt wurde – seine Lust am Dichten gedämpft hatten.

Ob die Lübbener in jenen Jahren wussten, wie hoch seine geistliche Dichtung zu schätzen war? Wir können es nur vermuten. Wir Heutigen aber können es wissen: Zwar sind viele der 137 erhaltenen Dichtungen Paul Gerhardts in Vergessenheit geraten. Aber eine erstaunlich große Zahl ist noch im allgemeinen Bewusstsein; manche davon werden in der ganzen Weltchristenheit gesungen. Die großen Themen des christlichen Glaubens hat Paul Gerhardt ins Lied gebannt; der christlichen Frömmigkeit gab er Innigkeit und Tiefe; den Weg des christlichen Lebens hat er in einmaliger Weise beschrieben.

III.
So hat er auch das Weihnachtsfest besungen wie kein anderer. „Ich steh an deiner Krippen hier / o, Jesu, du mein Leben; / ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben. / Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, / Herz, Seel und Mut, nimm alles hin / und lass dir’s wohlgefallen.“ Selten wurde eindringlicher besungen, was es heißt, vor der Krippe Jesu zu stehen.

Das staunende Innehalten an der Krippe bringen wir in der Regel zuerst mit Kindern in Verbindung. Sie verfügen über die große Begabung, Verwunderung zu äußern und sich überraschen zu lassen. Doch  Staunen und Neugier sind mehr als Kindertugenden. Sie zählen zu unserem besten Teil. Denn auch von Erwachsenen lässt sich sagen, dass sie in den Augenblicken besonders glücklich sind, in denen sie vom Wunderbaren überwältigt werden.

Paul Gerhardts Weihnachtslied ist ein Lied des Staunens. Immer wieder begegnen wir dem Ausruf „O“ und damit dem Vokal des liebevollen Staunens. Das Lied knüpft an die Anbetung des Kindes durch die Weisen aus dem Morgenland an. Mit ihnen steht Paul Gerhardt anbetend vor der Futterkrippe und tut seine Schätze auf, um dem Kind zu geben, was er von Gott in Gnade empfangen hat. In der ursprünglichen Fassung hat das Lied fünfzehn Strophen. In unserem Gesangbuch finden sich neun Strophen; fünf werden wir nachher singen. Ausgelassen wurden in unserem Gesangbuch besonders jene Strophen, die im Anschluss an die jetzige vierte die verehrende Betrachtung des Jesuskindes auf dessen einzelne Körperteile richteten. Mündlein, Händlein und Äuglein werden in einzelnen Versen besungen. Das Staunen geht ins Einzelne.

Dieses Staunen erklärt sich auch daraus, dass sich im Stall von Bethlehem eine schier unlösbare Frage von selbst beantwortet: Wie können Gott und Mensch einander begegnen; wie kann das schier Unmögliche Ereignis werden? Vor der Krippe sehen wir, dass sich Gott für uns ganz klein macht. Gott nimmt Wohnung unter uns Menschen, - unter denen, die ein verzagtes Herz und einen zermürbten Sinn haben und kaum noch Gutes zu erhoffen wagen. Er nimmt Wohnung bei denen, die der Verzweiflung anheim gefallen sind. Er nimmt Wohnung auch bei denen, die ihn zynisch herausfordern oder ihn resigniert ablehnen. Gott nimmt Wohnung bei den Menschen, die von ihm alles erwarten und sich mit nichts anderem abspeisen lassen. Darüber lässt sich trefflich staunen, mehr noch als über einen Kometenschweif am Himmel.

Die Verwandlung, die sich dadurch einstellt, kommt in Paul Gerhardts Lied zur Sprache. Die Bereitschaft, das Beste, was Gott uns anvertraut, dem Kind in der Krippe zum Geschenk zu machen, bestimmt seinen Ton: „Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut“ bringt der Beter dem Kind als Geschenk dar und bittet: „Lass dir’s wohlgefallen.“ Ich habe als Kind lange gebraucht, um diese Zeilen zu verstehen. Gerade in den armseligen Nachkriegszeiten, in denen ich aufwuchs, war es besonders wichtig, dass man die wenigen Geschenke, die es an Weihnachten gab, sehen konnte. Aber Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut sind unsichtbar. Sie bleiben es auch dann, wenn man sie dem Christkind selbst zum Geschenk macht. Und auch das andere brachte mich zum Erstaunen: Ich hatte verstanden, dass das Christkind Geschenke bringt, ja ich hatte zu ahnen begonnen, dass das Christuskind Gottes großes Geschenk an uns ist. Aber dass wir ihm Gaben darbringen – wie die Heiligen Drei Könige - , aber eben nicht sichtbare wie Gold, Weihrauch und Myrrhe, sondern unsichtbare, dieser Gedanke brauchte Zeit, um in mich einzudringen. Aber es ist wahr: Welche besseren Gaben könnten wir dem Kind in der Krippe darbringen als die, die Gott uns selbst anvertraut, die Kräfte, mit denen er uns begabt – eben „Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut“.

Das ist keine idyllische Vorstellung. Man muss sich ja nur ausmalen, was das bedeutet, wenn Menschen ihr Bestes, ihr Innerstes, die stärksten Kräfte ihrer Person Gott zur Verfügung stellen – und damit doch: von Gott in den Dienst nehmen lassen, wo er diese Kräfte haben will. Was würde es bedeuten, wenn Menschen so zu handeln begönnen? Nicht mehr der Eigennutz würde herrschen, sondern die Liebe zum Nächsten. Nicht mehr Misstrauen wäre bestimmend, sondern die Bereitschaft, Vertrauen zu erneuern. Die Welt sieht anders aus, wo Menschen ihr Bestes dem Kind in der Krippe zur Verfügung stellen.

Paul Gerhardts Lied wickelt uns also nicht in eine falsche Weihnachtsidylle ein. Zu deutlich werden auch die Widersprüche laut, die unser Leben prägen. Im Licht des Sterns von Bethlehem darf von den Todesnächten die Rede sein, die uns manchmal umfangen; es darf die Rede davon sein, dass das Herz im Leibe weint und keinen Trost finden kann. Ja sogar die größte aller Fragen, die wir von Kind auf stellen, darf gestellt werden: Wie war es, bevor ich geboren war? Und wie wird es sein, wenn ich nicht mehr bin?

Das Kind in der Krippe hilft uns, mit solchen Fragen und Widersprüchen zu leben. Alles Zweifeln und alle Zwietracht rücken in das Licht der Weihnacht: Der Stern blieb stehen über Bethlehem; Gott hat sein wahres Gesicht in diesem Kind gezeigt; die Tür ist aufgeschlossen zum schönen Paradies. Dazu sprechen wir das große Ja mit der Stimme der Tradition, mit einem Lied Paul Gerhardts. Dieses Ja brauchen wir nicht allein zu sprechen. Wir dürfen uns hineinstellen in den großen Chor der Engel und der Hirten, der Bekannten und der Unbekannten. Wir bleiben nicht stehen beim Nein des Widerspruchs. Wir sagen ja zum Leben, das uns in diesem Kind neu entgegentritt. Wir fassen das Vertrauen, dass in ihm sogar die größten Fragen eine Antwort finden: Wie war es, bevor ich geboren war? Und wie wird es sein, wenn ich nicht mehr bin?

„Da ich noch nicht geboren war, / da bist du mir geboren / und hast mich dir zu eigen gar, / eh ich dich kannt, erkoren. / Eh ich durch deine Hand gemacht, / da hast du schon bei dir bedacht, / wie du mein wolltest werden.“

 Für mich ist das die kühnste Strophe des ganzen Liedes. Sie verdankt sich einem biblischen Psalm. Im 139. Psalm heißt es nämlich:  „Deine Augen sahen mich als ich noch nicht bereitet war und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“ Staunend können wir davon singen, dass das Wunder der Weihnacht dem Wunder unserer eigenen Geburt voraus läuft. Gott ruft uns ins Leben. Von ihm kann der Glaube sagen, dass er uns schon kannte, als es von uns noch nichts gab. Denn schon da waren wir ein Gedanke Gottes. Gott leuchtet in die tiefsten Dunkelheiten unseres Lebens. Deshalb ist die Sonne für Paul Gerhardt das wichtigste Gleichnis für Jesus Christus überhaupt. Und unser Lied enthält die schönste aller Sonnenstrophen Paul Gerhardts überhaupt. Es bringt zum Klingen, dass das innere Licht des Glaubens gebunden ist an das Wirken der Christus-Sonne.

 Christus-Sonne – ein starkes Bild. Und doch war Paul Gerhardt bewusst, dass es ein Bild war, ein Gleichnis. Denn der Weg vom Glauben zum Schauen steht noch vor uns. Hier in Lübben schrieb Paul Gerhardt kurz vor seinem Tod folgende Sätze in sein Testament: „Daneben bitte ich von Grund meines Herzens, ...[Gott] wolle mir, wenn mein Stündlein kommt, eine fröhliche Abfahrt verleihen, meine Seele in seine väterlichen Hände nehmen, und dem Leibe eine sanfte Ruhe in der Erde bis zu dem lieben jüngsten Tage bescheren, da ich mit allen Meinigen...wieder erwachen und meinen lieben Herrn Jesum Christum, an welchen ich bisher geglaubet und ihn doch nie gesehen habe, von Angesicht zu Angesicht schauen werde.“

Gott schenke uns allen diese Zuversicht zu schauen, was wir glauben. Und er schenke uns, dass wir mit dem Glauben beginnen, damit das Schauen folgen kann. Amen.